Rede von Klaus-Dieter Lehmann zur Ausstellungseröffnung von „die Sprache Deutsch“

Prof. Dr. h. c. Klaus-Dieter Lehmann
14. Januar 2009

Hat Deutsch wieder Konjunktur? Zumindest muss man feststellen, dass anders als vielleicht noch vor zwei bis drei Jahren, eine verblüffende Aufmerksamkeit und Zuwendung der deutschen politischen und kulturellen Öffentlichkeit gegenüber der deutschen Sprache eingesetzt hat.

Die beiden uns regierenden Volksparteien wenden sich der Muttersprache zu. So empfiehlt die eine, die Rolle der deutschen Sprache in Gremien der Europäischen Union zu stärken, die andere beschließt, Deutsch unter den besonderen Schutz des Grundgesetzes zu stellen. Und im politischen Raum wurde das Bekenntnis zur Förderung der Sprache Deutsch schon in Gesetzestext gegossen. Wer als Ausländer etwa zum Zwecke der Familienzusammenführung nach Deutschland einwandern will, kann dies zwar tun, muss aber in der Regel zuvor Grundkenntnisse der Zielsprache seines künftigen Gastlandes schon dann nachweisen, wenn er den Sichtvermerk in seinen Reisepass erhalten will. Auch die in Deutschland lebenden Ausländer mit geringen Deutschkenntnissen werden ab dem soeben begonnenen Jahr eigens für sie entwickelte Sprachprüfungen ablegen, an Integrationskursen teilnehmen und so ihren eigenen Beitrag zur Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft leisten. Zumindest kann man für den Bereich der Migranten feststellen, dass offensichtlich die Sprache Deutsch als Voraussetzung für eine Integrationspolitik gestärkt werden soll. Es gab bisher kaum eine Politik, die genau dies beförderte. Die Erfahrungen mit der bisherigen Politik des Multikulturalismus haben verdeutlicht, dass sich daraus eher eine Haltung des Nicht Tuns und der Gleichgültigkeit ergeben hat. Ein erträumter multikultureller Austausch blieb aus. Es bildeten sich isolierte Sprach- und Kulturinseln, die teilweise zu sozialen Spannungen führen. Hat Deutsch also wieder Konjunktur, weil man diese Fehler bemerkt hat?

Jetzt Deutsch auch noch im Museum. Zwei höchst angesehene Häuser in Bonn und Berlin leisten sich eine Doppelausstellung zur deutschen Sprache: das Haus der Geschichte zeigt mit beachtlichem Publikumsinteresse, wie man hört: „Man spricht Deutsch“, der Versuch, die deutsche Gegenwartssprache in einer multimedialen Ausstellung zu visualisieren. Und heute eröffnen wir hier im Deutschen Historischen Museum „Die Sprache Deutsch“ – ein Streifzug durch zweitausend Jahre Sprachgeschichte. Das Goethe-Institut ist Mitveranstalter beider Ausstellungen. Das wundert auch nicht, war doch die Pflege der deutschen Sprache – im Ausland zwar, aber immerhin – erster Satzungszweck, als das Goethe-Institut vor über fünfzig Jahren als das deutsche Kulturinstitut für das Ausland gegründet wurde. Wir sprechen heute nicht mehr von der Pflege der deutschen Sprache, wir wollen sie vielmehr fördern. Im Grunde kommt beides doch auf ein klares Bekenntnis zur deutschen Sprache als einem, vielleicht dem wichtigsten Träger unserer Kultur hinaus.

Mit der Ausstellung in Bonn (die meine Vorredner schon ausführlich erwähnt haben) hat das Goethe-Institut Besonderes vor. Wenn sie im Frühjahr in Bonn und Leipzig gezeigt wurde, packen wir sie ein und zeigen sie über das Netzwerk der Goethe-Institute im Ausland. Sie geht zunächst in die Vereinigten Staaten und wandert im kommenden Jahr über den Pazifik nach Asien, wo sie unter anderem zum Deutschlandjahr in Vietnam gezeigt wird. Diese sinnlich erfahrbare, heute sagt man multimedial vermittelte Ausstellung eignet sich hervorragend zur Sympathiewerbung für unsere Muttersprache. Und damit stärken wir so manchen Deutschlehrer, manchen Sprachdozenten an Universitäten und viele, die sich im Ausland aus Enthusiasmus für die Fremdsprache Deutsch einsetzen, bei ihrem manchmal nicht leichten Geschäft.

Auch unsere aktuelle Berliner Ausstellung „Die Sprache Deutsch“ begleitet das Goethe-Institut. Nicht, dass wir diese Vitrinen auch einpackten und über die Weltmeere verschiffen – dazu sind die hier gezeigten Exponate zu wertvoll. Aber wenn Sie das Rahmenprogramm zur Ausstellung aufmerksam studieren, dann wird Ihnen nicht entgehen, dass das Goethe-Institut hier in Berlin einiges unternimmt, eine Vielzahl von Fragestellungen in unterschiedlichen Veranstaltungen zu behandeln.

Aber gestatten Sie mir, auf meinen ersten Gedanken zurückzukommen. Eine Ausstellung zur deutschen Sprache in einem Museum präsentieren, in einem historischen zumal: Das wirft die Frage auf, ob diese Sprache so museal geworden ist, dass sie dieser Aufmerksamkeit bedarf. Erinnern wir uns – an einem Abend, an dem es um Sprache geht, ist das legitim – einen Moment an den etymologischen Kern: Das Museum ist doch als Ort konzipiert, in dem die Musen der Kunst, der Kultur und der Wissenschaft ihren besonderen Schutz gewähren. Und so ist es legitim zu fragen, ob denn eine Sprache – nein: ob die deutsche Sprache eines besonderen Schutzes bedarf. Die Antwort auf diese Frage sollten wir uns nicht zu leicht machen.

Versuchen wir zunächst, diese Frage mit Hilfe dieser Ausstellung zu beantworten. Ich lade Sie ein, durch zweitausend Jahre Sprachgeschichte zu wandern. Ein Abschnitt dieser langen Geschichte interessiert mich heute besonders. Immer faszinieren uns die Prozesse, die schließlich dafür verantwortlich sind, dass aus den vielen deutschen Mundarten die neuhochdeutsche schriftsprachliche Norm entsteht. Dieser komplizierte Prozess bot schon Stoff für unzählige Abhandlungen. Denn der Weg, den die deutsche Sprache hier wählt, unterscheidet sich deutlich von dem unserer Nachbarn. Keine zentrale Instanz und letztlich auch keine Person haben die Regeln fixiert, die etwa bei unseren südlichen und westlichen Nachbarn das Herausbilden einer Nationalsprache bewirkten. Im deutschen Sprachraum gab es keinen Dante, keine Akademie, keine zentrale Gewalt, die diese Rolle hätte spielen können. Da Vergleiche oder Gegenbeispiele eine Situation besonders herausarbeiten können, möchte ich kurz den Werdegang der französischen Sprache schildern, bevor ich auf das Deutsche komme.

Die Entwicklung des Französischen hängt unmittelbar mit der Französischen Revolution zusammen. Die Einsicht, dass Sprache und Denken eng miteinander verbunden sind, ja dass Sprache im Zentrum des Entstehens menschlichen Denkens steht, so Condillac 1746, haben die revolutionären Aufklärer zur Grundlage ihrer Erziehungspolitik gemacht und radikal die sprachliche Vereinheitlichung gefordert, verbunden mit der Vernichtung der Dialekte und anderen Sprachen auf dem Territorium der Republik. Nur so war man sicher, dass das Französische nicht nur alle Franzosen kommunikativ erreichte, sondern dass sich die Franzosen auch zur Republik bekannten. Es hat über ein Jahrhundert gedauert, bis dieser Prozess der Auslöschung der Dialekte vollzogen war. Aber Frankreich ist diesen Weg der Revolution gegangen, der die strikte Vereinheitlichung, Verwissenschaftlichung und Universalisierung vorsah.

Deutschland war einen anderen Weg gegangen. Am Anfang stand sicher Martin Luther. Sie können sich dabei auf Jakob Grimm berufen, der in der vierten Auflage seiner Deutschen Grammatik vor 150 Jahren Luther als den Schöpfer der neuhochdeutschen Schriftsprache bezeichnet. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Luther konnte – selbst in vielen Mundarträumen zu Hause – auf Voraussetzungen aufbauen, die ihm seine geniale Bibelübertragung ermöglichten: die Sprache der kursächsischen Kanzlei etwa, die auch nicht voraussetzungslos stilbildend wirkte. Und so schuf der Reformator eine Sprache, indem er, wie er selbst sagt, „dem Volk auf´ s Maul schaut“, kraftvoll, bildhaft und Stil prägend wie kein anderes Dokument der deutschen Literatur.

Aber Luthers Bibel ist nicht die neuhochdeutsche Schriftsprache. Wir wissen heute, dass Einflüsse aus dem deutschen Südwesten entscheidende Wirkungen entfalteten. Dort, wo es die meisten Buchdrucker gab, die Flugschriften publiziert wurden – man würde heute von den Zentren der Medien sprechen - dort wurde Stil geprägt, dort wurden Sprachnormen gesetzt. Aber auch der niederdeutsche Raum trägt zu Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache bei. Übrigens ist ebenso interessant zu sehen, wie sich etwa im Nordwesten und Südwesten Sprachräume vom Normierungsprozess zu einem bestimmten Zeitpunkt an abkoppelten und eigene Sprachen bildeten, das Flämische, das Niederländische, das Schwyzerdütsch.

Welche Rolle nun Luther spielte und welche Einflüsse aus Heidelberg, Prag, Köln oder Basel die Entstehung der neuhochdeutschen Norm begünstigten, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Viel entscheidender ist, dass in Jahrhunderten keine zentrale Norm vorgegeben oder zur allein gültigen erklärt wurde. Das macht doch nachdenklich. Die deutsche Sprache hatte diese zentralen Eingriffe offensichtlich nicht nötig. Deutschlands sprachliche Entwicklung war seit dem 18. Jahrhundert eher den Weg der Philologie als den der Philosophie gegangen oder wie es Jürgen Trabant ausdrückt, den Weg der Sprachliebe als den des Sprachhasses. Seine bedeutendsten Sprachdenker – Leibniz, Herder und Humboldt – hatten Respekt und Interesse für poetisches Denken und die Verschiedenheit der Sprachen gelehrt. Deutschland betrieb die Entwicklung einer einheitlichen Hochsprache ohne die Sympathie für die Vielfalt der Dialekte zu opfern.

Wenn Sie so wollen, dann ist unsere gemeinsame Muttersprache Deutsch ein Prototyp des deutschen Föderalismus und vielleicht eine Ursache für seine Popularität. Und daher sind – und hier versuche ich jetzt eine erste Antwort – Schutzbestimmungen der deutschen Sprache auch im Grunde nicht wesentlich. Nicht dass sie schaden würden: das Grundgesetz schreibt so manches vor und behütet einiges, die deutsche Sprache würde auch das aushalten. Aber ob ein hoheitlicher Akt der innewohnenden Dynamik der deutschen Sprache gemäß ist, das wage ich zu bezweifeln. Es widerspricht unserer sprachlichen Tradition, es trifft nicht das Zentrum unseres bestehenden Unbehagens, es ist unnütz und überflüssig. Es ist letztlich eine Leerformel.

Allerdings hatte ich eingangs ausgeführt, dass uns die Antwort auf die Frage, ob die deutsche Sprache in besonderer Weise schutzbedürftig sei, nicht so einfach zu geben ist. Und der soeben gefundene Schluss, dass der Schutz durch die Verfassung unangemessen ist, ist auch nur die eine Seite der Medaille. Wir können auch fragen, warum die Frage nach dem Schutz der deutschen Sprache plötzlich Konjunktur hat. Und da müssen wir Stellung beziehen: Wovor und vor wem ist diese Sprache denn zu schützen? Hier ließe sich eine lange Liste aufmachen: Wem kommt es nicht bisweilen eigenartig vor, wenn deutsche Staatsunternehmen Service-Points, Mobility Centers oder City Calls einrichten, SAT1 mit „Powered by Emotion“ oder RWE mit „One Group – Multi Utilities“ wirbt, Stellenanzeigen deutscher Unternehmen für deutsche Mitarbeiter nach Key Account Manager, Human Resources Consultants oder Corporate Communications Manager suchen. Diese Liste lässt sich noch und noch fortsetzen. Wer schüttelt nicht den Kopf über gedankenlose Importe aus anderen Sprachen, die nicht immer dazu geeignet sind, einen Sachverhalt besser darzustellen, einen Gegenstand präziser zu beschreiben?

Um eines klarzustellen: Durch die Gedankenlosigkeit unserer Zeitgenossen – sagen wir es noch ehrlicher: durch unsere eigene Gedankenlosigkeit im Umgang mit unserer Muttersprache ist diese keinesfalls in ihrem Kern bedroht. Die Sprache Deutsch, die 100 Millionen Europäer als Muttersprache beherrschen und noch einmal so viele als Fremdsprache gelernt haben, geht von „Denglisch“ nicht unter und auch nicht vom Kauderwelsch unserer Politiker, Beamten und Werbetextern.

Aber es ist mit der Sprache ähnlich wie mit anderen Kulturgütern: mangelnde Aufmerksamkeit macht sie weniger attraktiv, macht sie weniger reich und ausdrucksstark. Der Status der Sprache sinkt und es reduziert sich das, was man den Ausbau der Sprache nennt. Ich bin überhaupt kein Reinigungsfanatiker der deutschen Sprache. Es gibt durchaus nützliche eingewanderte Wörter. Aber man sollte nicht in vorauseilender Beflissenheit Sprachräume öffnen, wo es gar nicht nötig ist.

Und mehr als der messbare Effekt auf die sprachliche Form sollte uns beschäftigen, was diese Gleichgültigkeit mit uns selbst macht. Das Deutsche ist durchaus ein Identitätszeichen für einen Kultur- und Sprachraum, für eine Sprachgemeinschaft. Deutschland war zuerst eine sprachliche und kulturelle Einheit, erst später eine politische. Für mich war deshalb auch die Wiedervereinigung Deutschlands immer zuerst eine kulturelle Leistung, nicht zuletzt auf gemeinsamer Sprache und Geschichte gegründet. So kann man am Ende die Frage, vor wem unsere Muttersprache geschützt werden muss, auch so beantworten: vor unserer eigenen Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Ein wenig mehr Leidenschaft für unsere Sprache wäre angebracht, denn sie ist es wert. Vor der Gefahr der Vernachlässigung oder Gleichgültigkeit schützt übrigens ein Verfassungsgebot nicht, im Gegenteil, es ist unredlich. Denn die Status-Schwächung des Deutschen geschieht zum Teil mit der aktiven Unterstützung der Politik. Erkennbar etwa in der Schulpolitik, bei der der Deutschunterricht reduziert anstatt erweitert wird, bei der die Muttersprache mit ihrer Beziehung zu Kultur, Geschichte und Literatur reduziert wird zu einem technischen Werkzeug als Verkehrssprache.

Beim Goethe- Institut hat die Politik inzwischen eine Trendwende eingeleitet. Nach den Jahren der Schließung hat die Politik wieder neue Goethe-Institute vorgesehen und Bundesaußenminister Steinmeier hat eine Sprachoffensiveins Leben gerufen „Schulen – Partner der Zukunft (PASCH)“, bei der gemeinsam mit der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen zu den bestehenden 500 ausgewiesenen Deutschschulen im Ausland 500 neue in den nächsten drei Jahren durch das Goethe-Institut etabliert werden. Das gibt wieder Hoffnung.

Vielleicht war der erste Satzungszweck des Goethe-Instituts dann so schlecht doch nicht formuliert. Die Pflege der deutschen Sprache, das wäre vielleicht eine Selbstverpflichtung, die wir alle unterschreiben könnten: die Politiker in ihren Debatten und – nicht zu vergessen – in ihren Gesetzestexten, die Publizisten, die Werbetexter, die Schriftsteller und Journalisten, Verbände und Organisationen, auch das Goethe-Institut und schließlich Sie und ich.

Goethe soll bei diesem Thema das letzte Wort haben. Er schreibt in seinen Maximen und Reflexionen:“ Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe. Reinigung ohne Bereicherung erweist sich oft als geistlos; denn es ist nichts bequemer als von dem Inhalt absehen und auf den Ausdruck passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe; der geistlose hat gut rein sprechen, da er nichts zu sagen hat.“

Man sollte den gesunden Menschenverstand walten lassen, nicht jeden Unfug hinnehmen sondern mit Augenmaß vorgehen. Dann hat Deutsch wieder Konjunktur.