Festrede zur Verleihung der Goethe-Medaille 2012

– Es gilt das gesprochene Wort –

Die Preisträger der Goethe-Medaille 2012 kommen aus verschiedenen Kulturkreisen und mit verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen – aus Litauen, Bosnien und Herzegowina, Kasachstan – und doch sind sie sich sehr nahe. Ich meine jetzt nicht das naheliegende Merkmal, dass sie alle drei eine enge Beziehung zu Deutschland, zur deutschen Sprache und deutschen Literatur haben. Das war sicher eines der Kriterien, um sie mit der Goethe-Medaille auszuzeichnen. Ich habe bereits in der Begrüßung auf die offizielle Formulierung hingewiesen: „Die Goethe-Medaille wird für besondere Verdienste im Bereich der internationalen Kulturbeziehungen verliehen, insbesondere auf dem Gebiet der Förderung deutscher Sprache im Ausland.“

Ihre Nähe liegt in ihrer geistigen Verwandtschaft. Alle drei kommen aus Ländern, in denen die Einheit der geschichtlichen Zeit zerbrochen ist, in denen die Gegenwart sich nicht harmonisch mit der Vergangenheit verbindet, sondern bei der die Vergangenheit entrückt, verdunkelt und tabuisiert ist. Der Wechsel der sie beherrschenden Hegemonialmächte mit ihren politischen, religiösen und ethnischen Unterdrückungsmechanismen und dem Verbot eines eigenen historischen Bewusstseins wurde zum prägenden Element. Die Mächte konfiszierten, zerstörten und manipulierten die Beziehungen der Menschen zu ihrer Heimat und kontaminierten die Beziehungen der Menschen untereinander.

Für die Regionen, aus denen unsere Preisträger kommen, endete diese Fremdbestimmung mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, einem Vorgang, der sich nicht nur auf das unmittelbare Herrschaftsgebiet auswirkte sondern letztlich die bislang bestehende bipolare Welt auflöste und in eine multipolare Welt überführte. Es kam zu einer Demokratisierung der Geschichte, die sich kraftvoll Bahn brach in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und auf dem Balkan. Es war die Bewegung der Unterdrückten und Entrechteten, die ihr Recht auf Geschichte und Erinnerung reklamierten, um daraus die Bestätigung ihrer eigenen Identität wieder zu gewinnen.

Dieser Vorgang der Emanzipation vollzieht sich aber nicht einfach dadurch, dass man einen Schalter umlegt und der neue Status ist etabliert. Kollektive Erinnerung bedarf einer Bewusstseinswerdung, bei der aus individuellen Erfahrungen eine gemeinsame Identität wird. Das ist je nach Rahmenbedingungen ein unterschiedlicher Prozess. Er kann befreiend und offen verlaufen, er kann egoistisch und abwehrend verlaufen, er kann gewalttätig und rücksichtslos verlaufen.

Die Aufbruchsstimmung generell wurde zunächst sehr deutlich bestimmt durch Intellektuelle, Kulturakteure und Künstler, die eine bemerkenswerte öffentliche Wirkung erzielten. Das galt insbesondere für Mittel-, Ost- und Südosteuropa, es galt natürlich auch für die Entwicklung in der DDR und es gab auch entsprechende Leitbilder in zentralasiatischen Staaten. Man könnte pathetisch sagen: die Literaten übernahmen die Macht. Die Anstifter zur Streitkultur sahen sich gerade in der Übergangszeit großen persönlichen Repressalien ausgesetzt. Aber der Sieg der Kultur über die Macht gelang. Das Ausmaß der Freiheit vergrößerte sich. Ein ausreichendes Maß an moralischer Glaubwürdigkeit und menschlicher Würde sowie die Fähigkeit, die Jungen zu inspirieren, waren ausschlaggebend.

Doch dieser Sieg war nicht überall gefestigt. Mythen und Legenden entstanden an Stelle von historischer Ehrlichkeit, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wuchsen, ethnische Säuberungen begannen und ein neuer europäischer Krieg brach auf dem Balkan aus. Und wieder wurde Sarajewo zum Symbol für Tod und Zerstörung, wie schon 1914.

Auch der Prozess der europäischen Ost-Erweiterung wurde im Verlauf der Beitrittsentscheidungen weniger durch die kulturellen Helden der Befreiungsbewegungen bestimmt als durch die Mentalität der Händler. Das, was als kulturelle Leistung begonnen hatte, endete bevorzugt in ökonomischer Bewertung.

Aber Kultur darf weder als Politik-Ersatz noch als dekoratives Element der Ökonomie instrumentalisiert werden. Kultur ist etwas Eigenständiges und Eigenwilliges. Nur dann kann sie dauerhaft wirksam sein, Prozesse anstoßen, wo Stillstand ist, Alternativen formulieren, wo Blockade herrscht. Gerade ihr kreatives Potential ist in der Lage, überraschend zu sein und damit gesellschaftliche Entwicklungen zu hinterfragen, Verdrängtes zu benennen und Zusammenhänge herzustellen, die noch gar nicht sichtbar sind. Um als Kraft wirksam zu sein, darf sie aber nicht nur als Impulsgeber eingesetzt werden, der dann anschließend eine Nebenrolle zu spielen hat. Kultur ist nicht eine Spielwiese der Künstler oder eine Event-Abfolge der „happy few“, sie bildet die Grundlage unserer Gesellschaft. Deshalb ist es auch so wichtig, die konkreten Ausdrucksformen zu kennen und die Künstler mit ihrem engagierten Einsatz für Eigenständigkeit und auch Widerständigkeit der Kunst zu bestärken. Die Literaten, Theaterleute, Musiker, Maler, Tänzer und Filmemacher sind vielleicht nicht die Wettermacher, aber vielleicht sind sie im Besitz des Barometers, das uns die Veränderungen frühzeitig zeigt und auch beim Verstehen hilft.

Unsere Preisträger nutzen die Kraft des Wortes, um gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen und verständlich zu machen, die Vergangenheit aufzuarbeiten und das menschliche Zusammenleben als kulturelle Leistung zu vermitteln.

Da ist der Schriftsteller Dževad Karahasan, 1953 in Duvno geboren, es liegt im heutigen Bosnien und Herzegowina, Studium der Theaterwissenschaften und Vergleichende Literatur. Seine Romane, vielfach preisgekrönt und übersetzt, haben die schwierigen Verhältnisse seines Landes zum Thema, die Belagerung von Sarajewo, die Transformation der nationalen und kulturellen Identitäten und die Tabuisierung der Vergangenheit.

Auch die Schriftstellerin Irena Veisaitė aus Litauen kommt aus einem Land, für das die Vergangenheitsbewältigung und die Traumata eine zentrale Rolle für ein neues Selbstverständnis der jungen Nation spielen. Die schwierigen Zeiten der nationalsozialistischen Besetzung und dann der sowjetischen Herrschaft haben tiefe Spuren hinterlassen. Irena Vesaitė hat die unbequemen Wahrheiten thematisiert, aber auch die Notwendigkeit der Aussöhnung formuliert, innerhalb der Gesellschaft zwischen der jüdischen und litauischen Bevölkerung und den ethnischen Minderheiten, aber auch die notwendige Toleranz und Verständigung in Europa.

Schließlich Bolat Atabayev, die Theaterlegende aus Kasachstan, der sich immer wieder mit seinen Theaterstücken zum Thema der Identitäten auseinandersetzt, der mit großem Mut und Entschlossenheit Tabuthemen aufgreift, der sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft in seinem Land einsetzt und der an die Kraft des Theaters als aufklärerische Einrichtung glaubt.

Wir sind zutiefst dankbar, dass alle drei bei ihrer so eindrucksvollen künstlerischen Arbeit und ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement ein so enges produktives Verhältnis zu den jeweiligen Goethe-Instituten in ihren jeweiligen Ländern aufgebaut haben und mit großem Vertrauen die Goethe-Institute als Frei- und Dialogräume nutzen, uns damit auch an den wichtigen Veränderungsprozessen als Partner teilhaben lassen und einen wirklichen Kulturdialog ermöglichen.

Lassen Sie mich diese Zusammenarbeit in den jeweiligen Ländern an wenigen Beispielen verdeutlichen. Sie zeigen, dass ein wirkungsvoller Kulturdialog nicht eine abstrakte Angelegenheit, sondern eine praktische Handlung ist und sein sollte.

Beginnen möchte ich mit einem Zitat von Dževad Karahasan: „Wo zeigt und entwickelt sich die Geschichte schon so stürmisch, verdichtet und grausam wie in Bosnien? Und die Geschichte ist, das sollten wir nicht vergessen, das Schicksal und die Wirklichkeit der Wesen, die zum Aufenthalt in der Zeit verurteilt sind. Hat sich nicht das kurze 20. Jahrhundert wesentlich zwischen zwei Brücken von Sarajewo abgespielt?“ (aus „Berichte aus der dunklen Welt; Insel Verlag 2007). Sarajewo ist für Karahasan ein besonderer Ort mit mehreren Konfessionen, mehreren Ethnien, mehreren Sprachen. Man ist sich seiner eigenen Identität bewusst und der der Anwesenheit der Anderen ebenso. Er spricht vom Miteinander, Nebeneinander, Gegeneinander.

Sarajewo befindet sich – gefühlt – noch immer in der Nachkriegszeit. Die Menschen sind stark traumatisiert, im Vertrauen gegenüber den Mitmenschen geschädigt. Sie ziehen sich ins Private zurück, vermeiden öffentliche Positionen. Es besteht einerseits eine zunehmende Sprachlosigkeit und gegenseitige Abschottung, andererseits entsteht ein Nährboden für Gerüchte und Verdächtigungen. Diese Art von abgeschlossenen „Erinnerungskollektiven“ bestimmt sehr stark die Wahrnehmung in Südosteuropa. Wichtig ist es, die Diskursfähigkeit zurück zu gewinnen.

Aus dieser Wahrnehmung entstand mit dem Titel „Wagnis der Erinnerung“ ein Literaturprojekt des Goethe-Instituts, das 23 Autoren aus 10 Ländern (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Rumänien, Serbien, Türkei und Zypern) eine Plattform bietet, über die Vergangenheit, über die Konflikte von damals und heute, die Themen Aufarbeitung und Identität zu schreiben. Für dieses Projekt mussten die Autoren selbst Grenzen überschreiten, sie mussten persönlichen Mut aufbringen, gemeinsam mit den anderen Autoren bei Lesungen und Diskussionen aufzutreten, an Tischen zu sitzen, dessen Tischtuch zerschnitten war, mit Menschen zu reden, die sie als Abweichler ansahen.

Mit großer Geduld und Zurückhaltung und einer aussagefähigen Literatur gelang es, die emotionale Aufladung durch Krieg, Flucht und Vertreibung in den intellektuellen Debatten langsam abzubauen. Das waren ein Anfang nur und auch nur ein Mosaikstein. Erinnerung, Identitätsbildung, Aufarbeitung – all dies ist in den Ländern dieser Region eine hochbrisante Angelegenheit. Allen Ländern gemeinsam ist eine jeweils stringente staatliche Geschichtspolitik einschließlich umfassender Symbolvorgaben. Ethnozentrische Geschichtsbilder dominieren, gleichzeitig haben historische Argumente hohe Bedeutung in tagespolitischen Konflikten. Die Geschichtsschreibung ist jeweils geprägt von „organisierter Unschuld“ – keiner war Täter, alle sind Opfer der anderen. Geschichtsunterricht hat nicht die Funktion von historischer Aufklärung, sondern dient der Stärkung nationaler oder nationalistischer Identität. Es ist deshalb besonders bemerkenswert, dass die Literatur in der Lage war, diese emotional belastenden Themen glaubhaft aufzunehmen und prominente Autorinnen und Autoren sich bereitfanden, dies als eine Gemeinschaftsaufgabe zu vertreten. So wird Literatur zur politischen Kraft! Aus dem Literaturprojekt ist übrigens eine Publikation geworden, übersetzt in alle Sprachen der beteiligten Länder und es lebt weiter im Internet mit immer neuen Texten.

Für Litauen ist Erinnerungskultur ein wichtiges Thema in der kulturellen Vermittlungsarbeit. 50 Jahre sowjetische Okkupation, deutsche Besatzungszeit von 1941 bis 1945, mit fast der vollständigen Vernichtung der litauischen Juden. Die Arbeitsbedingungen für das Goethe-Institut in Litauen sind sehr gut. Es gibt ein aktives Netzwerk mit Partnern im ganzen Land. Und es gibt eine wunderbare Freundin des Goethe-Instituts: Irena Veisaitė. Für sie, die selbst als Jüdin nur knapp der Vernichtung entgangen war, immer eine litauische Patriotin geblieben ist und sich unter Lebensgefahr für die Belange der Kultur eingesetzt hat, ist das Wort eine Lebensstrategie und der deutsch-litauische Kulturaustausch ein Lebenswerk. Als unabhängig denkende Intellektuelle ist sie nicht nur im eigenen Land hoch geschätzt. Ihre Initiativen wider das Vergessen und für das Enttabuisieren haben in der litauischen Gesellschaft eine nachhaltige Wirkung erzeugt. Ihre Beziehungen zu Deutschland sind vielfältig. Sie ist eine Brückenbauerin von eindrucksvoller Intensität und eine zukunftsgewandte Gestalterin. Thomas Mann ist für sie eine wichtige Bezugsperson. Als langjährige Leiterin des Thomas-Mann-Kulturzentrums im ehemaligen Sommerhaus des Autors in Nidden auf der kurischen Nehrung und in ihrer aktiven Rolle beim Thomas-Mann Festival hat sie sich große Verdienste erworben. Aus dieser Tradition leitet sie eine lebendige Verpflichtung ab. So ist auch das im Jahr 2011 begonnene Residenzprogramm des Goethe-Instituts in der Künstlerkolonie Nidden ganz in ihrem Geiste: Absolventinnen und Absolventen vier deutscher Kunsthochschulen können dort zwei Monate arbeiten. Damit wird eine Tradition des Ortes aufgenommen, an dem neben Thomas Mann etwa die Maler Lovis Corinth, Karl Schmidt-Rottluff oder Max Pechstein arbeiteten. Im Juli dieses Jahres wurde bereits das 16. Internationale Thomas-Mann-Festival ausgerichtet, diese Mal zum Thema „Verführtes Denken“ mit hochkarätigen Teilnehmern, wie Frido Mann oder Eugen Ruge.

Die drei Goethe-Institute in Vilnius, Riga und Tallinn arbeiten thematisch eng zusammen. Unvergessen bleibt die Lesereise der Nobelpreisträgerin Herta Müller 2011. Ihr Roman „Atemschaukel“ ist in allen drei Sprachen erschienen. Ihre Lesungen und Diskussionen trafen auf intensives Interesse, war doch kaum eine Familie in den drei Ländern nicht von Deportation und Arbeitslager betroffen.

Neben der Aufarbeitung der schwierigen Vergangenheit und der Anknüpfung an positive Traditionen steht im Fokus der Goethe-Arbeit derzeit auch die Orientierung und Zusammenarbeit mit den Anrainerstaaten Litauens, die nicht zur EU gehören, die aber früher einen eng aufeinander bezogenen Kulturraum bildeten und heute politisch und gesellschaftlich von Grenzen und wachsenden Unterschieden geprägt werden. Es sind primär Weißrussland und Kaliningrad, das frühere Königsberg. Von den länderübergreifenden Projekten ist von besonderem Interesse ein Kunstprojekt, das die Praxis der Kunst im öffentlichen Raum in Litauen, Kaliningrad, Weißrussland und Deutschland behandelt. Die Auftaktveranstaltung hat in Vilnius eben begonnen. Bis zum Herbst wird es in Klaipeda (Litauen), Kaliningrad und Minsk künstlerische Präsentationen und partizipative Projekte geben. Eine Abschlusskonferenz in Leipzig wird die Erfahrungen vorstellen. Es ist wegen seiner Aktivitäten im öffentlichen Raum von politischer Wirkung. Gerade die Künstler in Weißrussland erleben eine Gratwanderung beim Agieren im öffentlichen Raum, weil jede Aussage unter aktuellen politischen Bedingungen sehr schnell als Beweis einer potentiellen Schuld ausgelegt und bestraft werden kann. Es geht bei dem Projekt nicht um Provokation, aber es geht um die Freiheit der Kunst. Die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Verhältnisse machen den künstlerischen Austausch zu einem spannenden, aber auch notwendigen Unternehmen.

Schließlich sollte man erwähnen, dass Litauen eine sehr aktive Sprachpolitik für die Mehrsprachigkeit betreibt. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Das verbessert die Chancen für die jungen Leute, erhöht ihre Mobilität innerhalb Europas und macht sie offen für Entwicklungen in anderen Ländern. Auch dafür ist Irena Veisaitė eine Lichtgestalt. „Fremdsprachen haben mein Schicksal entscheidend geprägt“, sagte sie vor kurzem in einem Interview. Sie spricht Deutsch, Russisch, Englisch und Jiddisch sehr gut, aber auch etwas – und diese Unterscheidung ist ihr, der Sprachgewandten, sehr wichtig – Französisch, Polnisch und Estnisch. Europa ist ein Kontinent der Übersetzungen, Sprachkenntnisse ein ausgezeichnetes Bindemittel. Das sind gute Voraussetzungen, Verantwortung für einen gemeinsamen Kulturraum zu schaffen, der in seiner Vielfalt und in der positiven Anerkennung seiner Unterschiede eine einzigartige Stärke Europas in der Welt sein kann. Schon Goethe machte sich zum Anwalt der Mehrsprachigkeit: „Wer fremde Sprachen nicht spricht, weiß nichts von seiner eigenen.“ Und ein weiteres Zitat: „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause ist.“

Zum Schluss machen wir auf unserer Reise einen großen Sprung nach Kasachstan, die Heimat von Bolat Atabeyev. Kasachstan ist ein Boomland, ermöglicht durch den Export von Rohstoffen. Erdöl, Mineralien (Kasachstan ist der weltgrößte Uranproduzent mit einem Marktanteil von knapp 40%) und Weizen hat das Land in reichem Maß. Das autokratische Regime hat die Fäden in der Hand. Klientilismus, Korruption, Bürokratismus und Rechtsunsicherheit bestimmen die Entwicklung. Entsprechend schwierig sind die Lebensverhältnisse. Trotz dieser Strukturen wächst aber in Kasachstan das Gefühl für die eigene neu erlangte Identität, Schicht für Schicht werden die verschütteten und tabuisierten Teile des kollektiven Gedächtnisses abgetragen und die sowjetische Herrschaft aufgearbeitet. Das Land war von den Sowjets unterentwickelt gehalten und für Deportationen und Atomwaffentests missbraucht worden. Obwohl die Erdölvorkommen bekannt waren, begann Kasachstan erst 1991 mit der Erschließung durch ausländische Konzerne.

Wir Deutsche kennen die Region durch das Schicksal der deutschen Minderheiten. Dorthin wurden durch Stalin, und auch noch später, Familien aus anderen Teilen der Sowjetunion, bevorzugt aus dem Wolgagebiet, zwangsumgesiedelt. So kam auch Atabayev in früher Kindheit in Kontakt mit der deutschen Sprache und Kultur. Er studierte Germanistik, war Mitbegründer des Deutschen Theaters in Temirtau, später in Almaty. Heute hat er sein eigenes Theater „Aksari“. Inzwischen inszenierte er fast 50 Theaterstücke. Die Ästhetik und Form des deutschen Theaters haben ihn bis heute geprägt und beeinflusst, Theateraufenthalte in Deutschland haben die Beziehungen immer lebendig gehalten.

Aber Atabayev ist nicht nur ein Theaterästhet. Mit seinen Stücken greift er die brennenden Themen seines Landes auf, er legt die herrschenden Verhältnisse offen, er behandelt den Völkermord an den Wolgadeutschen, er solidarisiert sich im November 2011 in der Stadt Schanaosen mit den für bessere Arbeitsbedingen streikenden Ölarbeiter. Der Staat schritt mit Gewalt ein, mindestens 16 Menschen starben, Atabyev ging dafür ins Gefängnis. Atabayev ist ein unerschrockener Anwalt für Selbstbestimmung und für Gerechtigkeit. Mit seiner Bekanntheit entwickelt er durch sein kulturelles Schaffen eine große politische Schubkraft, ohne dass er polarisiert oder aufwiegelt. Auch hier ist es wieder das Wort in seiner unmittelbaren Wirkung und seine Unabhängigkeit, die ihm Glaubwürdigkeit verleiht. Wir alle fürchteten, er könne wegen der Anklage „Anstiftung zu sozialen Unruhen“ und des Gefängnisaufenthaltes nicht nach Weimar kommen. Aber die Unterstützung im eigenen Land und die internationale Solidarität haben seine Freilassung bewirkt.

An dieser Stelle möchte ich aus aktuellem Anlass die Gelegenheit nutzen, all jener Künstler zu gedenken, die wie unsere drei Preisträger tagtäglich den Mut, die Kraft und die Courage beweisen mit ihren Worten, Filmen, künstlerischen Arbeiten wie eingangs beschrieben kulturelle Prozesse anzustoßen und Verdrängtes auszusprechen. Dass sie damit einen nicht ungefährlichen Weg beschreiten kann nicht nur Bolat Atabayev bezeugen. Unzählige Künstler in aller Welt setzen sich durch diesen Mut Gefahren aus. So sind wir derzeit sehr besorgt um den syrischen Filmproduzenten Orwa Nyrabia, der als Vertreter des unabhängigen arabischen Films und Festivalleiter ein wichtiger Kulturschaffender und Partner des Goethe-Instituts ist. Nach Angaben seiner Familie war er am vergangenen Donnerstag am Flughafen in Damaskus, um nach Kairo zu reisen. Seinen Flug trat er jedoch nicht an. Seitdem sei der Kontakt vollständig abgebrochen. Wir alle hoffen, dass er wohlauf ist und bald unversehrt zu seiner Familie zurückkehrt. Ihm möchte ich unsere Anteilnahme und Anerkennung aussprechen, ihn und alle anderen Künstler würdigen, die um die kulturelle Kraft des Wortes und der Kunst wissen und sie bewusst einsetzen.

Lassen sie mich zurückkehren nach Kasachstan. Das Goethe-Institut in Almaty ist seit vielen Jahren im engsten Austausch mit Bolat Atabayev. Man könnte ihn als natürlichen Partner bezeichnen. Seine Verdienste als Theatermacher und als mutiger Kämpfer für zivilgesellschaftliche Strukturen bilden die Basis der Zusammenarbeit. Junge Menschen und Deutschlerner werden mit deutschen Kulturakteuren und Medienmachern in einen intensiven Austausch gebracht. Kulturmanager werden ausgebildet, um eine kulturelle Infrastruktur in Kasachstan zu etablieren, die wiederum dem Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft zu Gute kommt. So verstärken wir die künstlerische Zusammenarbeit, vermitteln handwerkliches Können und ermöglichen durch geeignete Veranstaltungsformen den Anschluss an internationale Entwicklungen. Es ist Basisarbeit, die den jungen Menschen im eigenen Land eine Chance gibt. Mit einer solchen Professionalisierung werden stabile Partnerschaften erreicht und zukunftsfähige Beziehungen ermöglicht. Auch Kunstprojekte werden gefördert, um 20 Jahre nach Zerfall der Sowjetunion eine erste Bilanz der zeitgenössischen Kunst in Kasachstan zu ziehen. Ein Thema ist: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Archäologie des Zeitgenössischen“.

Die physische Präsenz eines Goethe-Instituts gewährleistet nicht nur, dass es als Veranstaltungsort und Bildungseinrichtung funktioniert. Gerade in Ländern mit eingeschränkter Meinungsfreiheit und staatlichen Kontrollen wird es als Frei- und Dialograum wahrgenommen und genutzt. Es sind Räume, in denen man unbehindert arbeiten, reden und gestalten kann und sich in einem interkulturellen Dialog aktiv austauscht. Unsere Bildungsarbeit ist mehr als Ausbildung. Sie zielt auf die Persönlichkeitsbildung. Bildung bedeutet hier Emanzipation, Urteilskraft, Differenzieren und kulturelle Teilhabe, Bildung zielt auf das Offene und Mögliche. Das Goethe-Institut ist nicht missionarisch. Soziale und politische Veränderungen haben aus der jeweiligen Gesellschaft zu entstehen, wenn die Zeit dafür reif ist. Bis dahin kann das Goethe-Institut Alternativen aufzeigen, das eigene Land in seiner Vielfalt präsentieren und das Bild einer „offenen Gesellschaft“ mit ihren Vorzügen, aber auch mit ihren Problemen zeichnen. Es gibt fraglos Gemeinsamkeiten, doch – frei nach Goethe – bringen uns nur die Unterschiede weiter. Die Unterstützung der Botschaft ist in einem solchen Land von hohem Wert, auch der Zusammenschluss mit anderen europäischen Kulturinstituten. Ganz wichtig sind kleine Formate. Wenn man viele kleine Vorhaben mit verschiedenen Partnern, gerade auch zivilgesellschaftlichen Organisationen macht, hat man immer eine Chance, eine Entwicklung anzustoßen, nachdenklich zu machen, ein Gegenüber zu finden. Man muss wissen, was man will, und man muss wissen, was das Gegenüber will und kann. Man muss auch bewusst den direkten Kontakt mit den zuständigen Behörden suchen, auch seinen Zensor kennen. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass man bei allen kritischen Programmen angesehene lokale Künstler und Kulturleute mit im Boot hat und das Anliegen nicht zu einem isolierten Goethe-Anliegen macht. Hier kommt das partnerschaftliche Arbeiten der Goethe-Institute sehr zum Tragen.

Das jeweilige Ausloten der Risiken darf nicht zu einem Katz- und Mausspiel werden. Zwischen Provokation und Fügen gegenüber den autoritären Vorgaben liegt ein schmaler Grat. Es muss verantwortungsbewusst mit dem Gestaltungsraum umgegangen werden. Denn es gilt das Risiko für die einheimischen Künstler und für die eigenen Mitarbeiter mit ins Kalkül zu nehmen, damit keine unmittelbare Gefährdung entsteht.

Ich bin allen Partnern in den schwierigen Ländern und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Goethe-Institute dankbar, dass sie so verantwortungsbewusst mit den prekären Verhältnissen umgehen und so stabile Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden konnten, aber auch, dass sie manches Wagnis mit ironischer Leichtigkeit und verschmitzter Hintergründigkeit entschärft haben. Die Verleihung der Goethe-Medaille an unsere heutigen drei Preisträger ist eine gute Gelegenheit, diese Zusammenhänge zu verdeutlichen und damit die Arbeit und den gesellschaftlichen Gewinn zu vermitteln.

Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich, so beginnt Goethe, wie wir alle wissen, seine Autobiografie. Auch heute, 263 Jahre später, an diesem festlichen Tage, der die Würdigung dreier für das Goethe-Institut so wichtigen Partner und Freunde vorsieht, finde ich die Konstellation ganz besonders glücklich und freue mich das Wort – mit dem Glockenschlag – an die erste Laudatorin Frau Aleida Assmann zu übergeben, um das eindrucksvolle Lebenswerk von Irena Veisaitė zu würdigen.