Atlas der Gesten/Tanz 1866
Virgilio Sieni macht Genua zur Bühne

Atlas der Gesten in Genua
Atlas der Gesten in Genua | Foto: Virgilio Sieni

Kann man eine Gesellschaft, die im Laufe der Zeit die Bedeutung von Beziehungen aus den Augen verloren hat, wieder zusammenbringen und ihr Miteinander neu gestalten? Virgilio Sieni hat zu diesem Zweck Genua choreografisch erkundet, gemeinsam mit dem Goethe-Institut Genua.
 

Professionelle Tänzerinnen und Tänzer sowie 150 genuesische Bürger – Frauen, Männer und Kinder – wurden bereits vergangenes Jahr in das Projekt Atlas der Gesten_Genua/Tanz 1866 mit einbezogen. Angeleitet vom Choreografen Virgilio Sieni gingen sie der Frage nach der Bedeutung von Beziehungen und den Möglichkeiten des Miteinanders auf den Grund.
 
Der Titel des Projekts verweist auf den Bilderatlas des deutschen Kunsthistorikers Aby Warburg. Diesen macht sich Sieni zu eigen und zeigt auf, dass die Geste, genau wie ein Bild, ein Transportmittel unserer kulturellen Traditionen und gesellschaftlicher Erinnerungen darstellt.
Anlässlich des 150. Geburtstags Warburgs macht Sieni die Geste zum roten Faden mehrerer Workshops, in denen er an biblische Episoden gebundene Choreografien – Lehre, Flucht, Mitgefühl, Kreuzigung – umsetzt. Zusammen schaffen die Teilnehmer zum Schluss eine Gemeinschaft der Geste. 

Choreografien zum Sehen und Hören

Die Ergebnisse wurden in Form von Choreografien Ende März an symbolisch wichtigen Orten der Stadt Genua öffentlich präsentiert. Einige dieser Choreografien können dabei nicht nur angeschaut, sondern auch „angehört“ werden. Mittels einer neuen, durch das Casa Paganin-InfoMus im Rahmen des Europaprojektes Horizon 2020 ICT DANE entwickelten Technologie werden Bewegungen in Klänge umgewandelt. Dem Rezipienten wird die einmalige Gelegenheit geboten, Tanz mit geschlossenen Augen zu „sehen“. 

Die Stadt als Bühne

An drei Tagen wurden vier verschiedene Choreografien gezeigt – teils einmalig, teils in Wiederholungen.
In Vor den Augen der anderen_Lehre trafen Virgilio Sieni und Giuseppe Comuniello, ein blinder Tänzer, auf ein Publikum aus sehenden wie blinden Bürgern, das aufgefordert war, aktiv an der Begegnung teilzunehmen. Spontan entstanden aus Berührungen und dem daraus resultierenden Sinn für Nähe nicht vorhersehbare Tänze, die ein Bewusstsein für das eigene Gegenüber schufen. 

Flucht

Ein Zyklus choreografischer Aktionen zum Thema Flucht, zur Reise, die einige Menschen und Völker auf sich nehmen, um das eigene Leben zu retten, war die Choreografie Flucht.
 
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts waren an verschiedenen Orten stationiert und boten dem Publikum entlang der einzelnen Choreografien so die Möglichkeit, selbst zu wählen. So wurden die Zuschauerinnen und Zuschauer auf symbolische Wanderungen geschickt, bei denen jeder Interpret stets acht auf den anderen gab. Ein Atlas der Blicke, der Annäherungen, des Unterstützens und Haltgebens, aber auch des (Hin-) Fallens entstand. 

Mutter-Kind / Vater-Kind_Mitgefühl

Ausgehend von der westlichen Tradition, welche die Mutter ihren Kindern in einem sehr spezifischen Bild aus Intimität, Schmerz und Schönheit zuordnet, wurde in Mutter-Kind / Vater-Kind_Mitgefühl ein Tanz entwickelt, der mittels Gesten die finale Beziehung wie auch den Ursprung des Lebens erforscht. Fünf Paare, bestehend aus Mutter/Vater und Kind, erforschten zeitgleich den Ursprung der Menschheit. 

Innehalten

Zwei choreografische Aktionen, eine interpretiert von einem Amateurchor, die andere von einer Gruppe Bürgern, „unterhielten“ sich für Innehalten miteinander über das Thema der Kreuzigung. Im Zentrum der Interpretation stand ein schwerer Holzbalken, der eine („mondo novo“) neue Welt der Solidarität symbolisierte.
  • Atlas der Gesten Foto: Virgilio Sieni
    Atlas der Gesten
  • Tanzen in der Stadt Foto: Virgilio Sieni
    Tanzen in der Stadt
  • Bei den Workshops Foto: Silvia Aresca
    Bei den Workshops
  • Teilnehmer des Workshops Foto: Silvia Aresca
    Teilnehmer des Workshops
  • Tänzer bei Atlas der Gesten Foto: Silvia Aresca
    Tänzer bei Atlas der Gesten
  • Virgilio Sieni beim Workshop Foto: Silvia Aresca
    Virgilio Sieni beim Workshop
  • Virgilio Sieni zeigt die Choreographie Foto: Ale Cavalli
    Virgilio Sieni zeigt die Choreographie

Mit ca. 1.000 Besuchern konnte durch das Projekt eine Gemeinschaft (der Geste) kreiert werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und auch das Goethe-Institut Genua möchten die gemeinschaftliche Arbeit gerne fortsetzen.