Beyond Seeing
Mehr als man sieht

Fühlen statt sehen
Fühlen statt sehen | Foto: Goldfasanblog

Sonja Köllinger und Lydia Zoubek bloggen beide über Mode, Lifestyle und ihren Alltag. Mit dem Unterschied, dass Sonja sehen kann und Lydia blind ist. Im Rahmen von „Beyond Seeing“ nahmen sie am deutsch-französischen Bloggerevent teil, das anlässlich der „Woche des Sehens“ vom Goethe-Institut Paris und dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) veranstaltet wurde.

Mode ist vor allem ein visuelles Phänomen und ohne den Sehsinn kaum vorstellbar. Wie aber erfahren blinde und sehbehinderte Menschen Stoffe und Oberflächen? Worin besteht für sie der Begriff der Schönheit? Und wie lässt sich dieser über die anderen Sinne jenseits des Sehens erlebbar machen? Um diese und weitere Fragen dreht sich das Recherche- und Ausstellungsprojekt „Beyond Seeing“. Das Goethe-Institut Paris hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Blinden und Sehbehinderten Verband (DBSV) deutsch- und französischsprachige Blogger mit und ohne Sehbehinderung nach Berlin eingeladen, um dort während der „Woche des Sehens“ gemeinsam das kulturelle Programm zu erleben. Von deutscher Seite nahmen die Bloggerinnen Sonja Köllinger und Lydia Zoubek teil.

Während für Sonja, die sehen kann, Farben und Aussehen der Kleidungsstücke relevant sind, erfühlt Lydia die Mode: „Alles was irgendwie mit Farben zu tun hat, kann ich nicht wahrnehmen. Fasse ich einen Stoff an, ist für mich vor allem wichtig, wie dieser sich anfühlt. Ich mag weiche Stoffe. Und ich mag bestimmte Schnitte. Die Farbe ist wichtig, wenn ich mich damit in der Öffentlichkeit bewegen möchte.“

Mode jenseits des Sehens

In einem Workshop im Gebäude der Berliner Modeschule ESMOD nähten Lydia und Sonja als Team eine Tasche aus drei Stoffdreiecken. Für Lydia ist es das erste Mal, dass sie eine Nähmaschine benutzt: „Dementsprechend groß war mein Respekt davor. Eine Helferin wies mich in die Bedienung ein. Sie zeigte mir, wo der Stoff liegen und welche Schalter ich betätigen muss, um Stoff und Nadel zu bewegen, und wie man den Stoff richtig hält.“

Sonja hat schon oft genäht, aber wie man ein Schnittmuster ohne Augenlicht umsetzt, ist ihr schleierhaft: „Es braucht jede Menge Motivation, eine gute Anleitung, die passenden Werkzeuge und manchmal ein paar helfende Hände – zum Beispiel dann, wenn man noch nie an einer Nähmaschine saß. Spezielle Schienen, in denen man den Stoff zum Zuschneiden einklemmt, oder Zollstöcke mit Punktmarkierung vereinfachen die Arbeit zumindest ein bisschen.“

Als Team haben Sonja und Lydia die Aufgabe gemeistert und gehen zufrieden mit ihrer Tasche ins Hotel.

Bloggerin Lydia mit ihrer Helferin am Nähtisch Bloggerin Lydia mit ihrer Helferin am Nähtisch | Foto: Goldfasanblog

Kunst erfühlen

Am kommenden Tag geht es in die Berlinische Galerie zur Ausstellung „Kunst in Berlin 1880-1980“´— der ersten in Deutschland, die barrierefrei erschlossen wurde. Sieben Bilder werden dort als Tastreliefs dargestellt, zusätzlich beschreibt eine Audio-App die insgesamt 17 Werke besonders ausführlich. Durch ein taktiles Leitsystem am Boden werden Besucherinnen und Besucher von Station zu Station geführt. Über Sensoren an der Decke schalten sich automatisch die entsprechenden Hintergrundinfos ein.

Für Sonja ist das eine ungewohnte Art und Weise, eine Ausstellung zu erleben. Sie wird mit verbundenen Augen von den blinden und sehbehinderten Begleiterinnen und Begleitern durch die Ausstellung geführt:
„Wir beginnen zu fühlen: Ein winziger Fuß, ein schmaler Arm, ein zierliches Gesicht und eine Menge Tüllstoff. Auf der Leinwand muss eine Person zu sehen sein – möglicherweise in einem langen Kleid. Doch wer ist sie? Und was macht sie? Wir nehmen die Masken ab und sehen das Bild. Es ist die Tänzerin Baladine Klossowska, ein frühes Hauptwerk von Eugen Spiro.“

„Baladine Klossowska“ von Eugen Spiro „Baladine Klossowska“ von Eugen Spiro | Foto: Goldfasanblog Bloggerin Sonja ertastet ein Bild Bloggerin Sonja ertastet ein Bild | Foto: Goldfasanblog

Blinder Kleiderkauf

Wie kauft man Kleidung, wenn man nichts sehen kann? Die Bloggerinnen betreten nach dem Museumsbesuch zusammen einen Second Hand-Laden. Lydia erlebt den Kleiderkauf ganz anders als Sonja: „In mir unbekannten Geschäften fehlt mir die Orientierung, um mir einen Überblick zu verschaffen. Die einzige Option, mich alleine zu orientieren, ist systematisch durch die Reihen der Kleiderständer und Regale zu gehen. … Shoppen ist für mich meist eine Notwendigkeit. Ich kann nur selten Genuss dabei empfinden.“

Second-Hand-Laden in Berlin Second-Hand-Laden in Berlin | Foto: Goldfasanblog Gemeinsam ertasten die Bloggerinnen Stoffe und Schnitte, Sonja beschreibt Lydia die Farben. Schließlich ergattert jede ein neues Teil für ihren Kleiderschrank. Was Sonja dabei klar wurde: „Wie gut sich ein Kleidungsstück anfühlt, ist für blinde Menschen besonders wichtig. Bei mir ist das hingegen der erste visuelle Eindruck, erst später setze ich mich mit dem Material auseinander.“

Für beide Bloggerinnen bleibt das Event unvergesslich, denn sie haben durch den Perspektivwechsel viel gelernt und freuen sich schon auf das kommende Bloggerevent.

Das Bloggerevent wurde im Vorlauf der Ausstellung „Beyond Seeing“, die am 18. Januar 2018 im Parc de la Villette in Paris zu sehen sein wird, veranstaltet. Die Ausstellung wird Kreationen, Artefakte und partizipative Elemente zeigen, die Mode und Design über Gestalt und Klang, Identität und Geruch sowie Material und Haptik erfahrbar machen.