Jan Wagner in Athen
Das Gedicht als Zufluchtsort

Jan Wagner im Gespräch
Jan Wagner im Gespräch | Foto: Vangelis Patsialos

Anlässlich der Ernennung Athens zur Welthauptstadt des Buches stellte der Lyriker Jan Wagner zusammen mit seinem Übersetzer und Dichterkollegen Kostas Koutsourelis eine Anthologie von 25 Gedichten im Goethe-Institut Athen vor. Im Interview spricht er über deutsch-griechische Beziehungen, was Preise für ihn bedeuten und Form und Struktur eines Gedichts.

Es ist das erste Mal, dass Ihre Gedichte ins Griechische übersetzt werden. Welche Gedanken und Gefühle kommen in Ihnen angesichts der bisweilen angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland auf?

Was die Dichter betrifft, aus Griechenland oder Deutschland, doch im Grunde ganz gleich aus welchem Land, hat es glücklicherweise nie Spannungen gegeben und wird es sie auch nie geben - höchstens auf einer rein persönlichen Ebene. Schriftsteller in ganz Europa, nicht zuletzt die Lyriker, pflegen den Austausch miteinander und den Prozess des gegenseitigen Übersetzens. Sie lernen von anderen Traditionen – ganz so, vermute ich, wie es sich Goethe vorgestellt hatte, als er den Begriff der „Weltpoesie“ prägte.

Jan Wagner im Goethe-Institut Athen Jan Wagner im Goethe-Institut Athen | Foto: Vangelis Patsialos Vernachlässigte Kunstform

Ein weiteres staatenübergreifendes Merkmal der Dichtung besteht meist darin, dass sie als vernachlässigtes und benachteiligtes literarisches Genre betrachtet wird. So wie auch Sie es geschrieben haben, Lyrik werde bestenfalls als ein „liebenswürdiger Anachronismus" behandelt. Hat es sich immer so verhalten und warum ist das so?

Poesie hat selten die Mehrheit der Leser für sich gewonnen – obwohl auch das schon vorgekommen ist, und wenn man an das Publikum denkt, vor dem Pablo Neruda seine Gedichte las, wenn man Gelegenheit hat, die überwältigende Zuhörerschaft zu sehen, die die Dichtkunst in manchen Teilen Südamerikas auch heute noch anzieht, kann man sich sicher sein, dass es auch anderswo wieder passieren wird. Tatsächlich hat die Lyrik in Deutschland, deren Situation für mich am leichtesten zu beurteilen ist, in den letzten fünfzehn Jahren einen beeindruckenden Aufschwung erfahren, hat derart viele bemerkenswerte junge Dichter hervorgebracht, dass das Phänomen langsam, aber sicher von einem wachsenden Publikum wahrgenommen wird.
 
Sie haben vor kurzem den renommierten Georg-Büchner-Preis erhalten. Helfen Preise wie diese dabei, auf die Lyrik aufmerksam zu machen?

Preise wie dieser machen einer großen Zahl von Menschen bewusst, dass auch heute noch Gedichte verfasst werden, und vielleicht können sie auch dazu beitragen, gewisse Vorurteile abzubauen, die sich hinsichtlich der Lyrik hartnäckig halten. Und ein paar dieser Menschen werden sich vielleicht sagen, dass es sich doch lohnen könnte, nach all den Jahren einmal wieder einen Lyrikband aufzuschlagen.

Signierstunde mit Jan Wagner Signierstunde mit Jan Wagner | Foto: Vangelis Patsialos Die Dinge neu denken

Und welche Beziehung könnten durchschnittliche Leserinnen und Leser, in einer Zeit der digitalen Ablenkungen, zur Poesie haben?

Ein Gedicht kann eine Art Zufluchtsort sein; eine Aufforderung, einen Schritt zurückzutreten, weg von Hast und Hektik, zu entschleunigen, zu reflektieren, durchzuatmen – und die Einladung des Gedichts anzunehmen, also die Sprache, sich selbst und die Welt, die uns umgibt, aus einem unerwarteten, neuen Blickwinkel zu betrachten. Ein Gedicht ist immer auch die Gelegenheit, die Dinge neu zu denken – und wird so zu einer winzigen, aber dennoch machtvollen Kapsel von Freiheit.
  
Wie wichtig ist Form und Struktur in Ihrem Werk?

Ein Gedicht ist immer geformte Sprache, und Form und Inhalt gehören immer zusammen. Für mich ist es wichtig, alle möglichen Formen im Hinterkopf zu haben, so dass ich darauf zurückgreifen kann, wenn es das Gedicht, an dem ich gerade arbeite, erfordert. Es geht nie darum, eine Tradition um ihrer selbst willen am Leben zu erhalten. Es ist vielmehr so, dass all diese Formen ihre eigene Schönheit haben, eine anregende Struktur, die dazu beitragen kann, das Gedicht zu einem besseren zu machen. Und vor allem geht es darum, dass die Strenge, das Korsett bestimmter Formen ein Ansporn sind, um tiefer zu schürfen, weiter zu denken, um Spuren zu folgen, die bislang nicht berücksichtigt wurden oder bis zu diesem Punkt undenkbar waren. So kann paradoxerweise die formale Strenge in einer noch größeren Freiheit resultieren und zu dem für mich schönsten Moment des Schreibens führen, der dann erreicht ist, wenn man als Dichter vom eigenen Gedicht überrascht wird.


Das Gespräch führte Nikolas Zois.

Die Originalversion dieser gekürzten Fassung erschien am 17.03.2018 in der griechischen Zeitung TA NEA.