Das Modell der deutschen Kunstvereine

Der Kunstverein in Hamburg
Der Kunstverein in Hamburg | © Foto: Fred Dott

2017 feierte der Kunstverein in Hamburg seinen 200. Jahrestag. Seit 1817 hat er sich als eine führende Plattform zur Erforschung, Produktion und Organisation von Ausstellungen moderner Kunst etabliert. Er ist die älteste Kunstinstitution in Hamburg und eine der frühesten seiner Art in Deutschland. 

Um seine ereignisreiche Geschichte zu unterstreichen, bietet der Kunstverein das ganze Jahr über abwechslungsreiche Ausstellungen, spezielle Präsentationen, Diskussionen, ausführliche Publikationen, eine Versteigerung zu Wohltätigkeitszwecken sowie die offizielle Zeremonie anlässlich des Jahrestages. Veranstaltungen im letzten Jahr waren unter anderem die Ausstellungen "The History Show" (28. Januar – 2. April), die einen retrospektiven Blick auf die Geschichte des Kunstvereins lieferte und Fragen über die Vergangenheit unter dem Blickwinkel der Gegenwart stellte, eine neue Installation von Wolfgang Tillmans (23. September – 12. November), sowie die erste große Skulpturenausstellung der jungen lettischen Künstlerin Daiga Grantina in Deutschland (28. Januar – 2. April). Letztere war Teil der Reihe „Best & Boldest“, an der verschiedene junge Künstler_innen teilnehmen, die multimedial tätig sind und verschiedene Überzeugungen vertreten, jedoch eines gemeinsam haben: das vielseitige Engagement für Fragen, die unsere Realität betreffen.

Daiga Grantina, 2017
Daiga Grantina, 2017 | © Foto: Fred Dott
In den Jahren verzeichnet der Kunstverein in Hamburg eine interessante Entwicklung, angefangen 1817 mit der Initiative von David Christopher Mettlerkamp, der Leutnant und Oberst, und Kunstsammler war. Er beginnt damit, wöchentliche Treffen für die Bürger_innen von Hamburg zu organisieren, bei denen sie Grafiken und Bilder alter deutscher Meister_innen und moderner Maler_innen aus ihren eigenen Sammlungen bewundern können. Diese regelmäßigen Treffen sind der eigentliche Beginn des ersten Kunstvereins, organisiert und unterstützt von den einfachen Bürger_innen, aus denen der Verein im Wesentlichen besteht. Mit der Zeit zieht der Kunstverein in Hamburg Tausende von neuen Mitgliedern an, organisiert eine Vielzahl von gut besuchten Kurz- und Dauerausstellungen, legt eine eigene Sammlung, die mehrere Privatsammlungen vereint, sowie eine reich bestückte Bibliothek an, managet einen eigenen Ausstellungsraum, der mehrmals umzieht, und organisiert Verkäufe. Die bekannten Namen, die der Kunstverein in seinen Ausstellungen in den Jahren präsentiert, reichen von Caspar David Friedrich und Adolf Menzel, Pierre Bonnard, Paul Cézanne, Paul Gaugin und Vincent van Gogh, über Max Beckmann, Otto Dix und Erich Heckel, Edvard Munch und Andy Warhol bis hin zu Ólafur Elíasson, Liam Gillick, Cosima von Bonin, Sarah Lucas und Tino Sehgal. Es gibt viele thematische Ausstellungen, die bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts präsentiert werden, wie „Die französische Kunst vor 1914“ (1919), „Moderne europäische Kunst“ (1927), die mehr als 40.000 Besucher_innen hatte, „Malerei und Bildhauerei in Deutschland 1936“, „Pop-Art in England“ (1976), „Mythos und Ritus in der Kunst der 1970er“ (1981), „Todesbilder in der modernen Kunst“ (1983), „Formalismus – moderne Kunst heute“ (2004), und viele Weitere.

Geschichte

Der Kunstverein in Hamburg ist Modellder bürgerlichen Kunst-Gesellschaft, einer sehr wichtigen institutionellen Struktur für Kunstin Deutschland. Die Kunstvereine sind Anfang des 19. Jahrhunderts zwischen 1800 und 1840 gegründet worden, gewöhnlich durch das Bürgertum, mit dem Ziel, Institutionen zu schaffen, die sich einerseits dem staatlichen Paternalismus und andererseits der Aristokratie, der bis zu diesem Zeitpunkt wesentlichen „Verbraucherin“ der Kunst, entgegenstellen. So nehmen sie die Nische des Vermittlers zwischen den „einfachen Leuten“ und der Kunst ein, indem sie Ausstellungen und Verkäufe von Werken organisieren und die Demokratisierung der kulturellen Beziehungen sowie der künstlerischen Produktion verteidigen und weiter entwickeln.

"The History Show" (2017)
"The History Show" (2017) | © Foto: Fred Dott
Die ältesten Gesellschaften sind die Albrecht Dürer Gesellschaft in Nürnberg (1792), der Kunstverein in Hamburg (1817) und der Badische Kunstverein Karlsruhe (1818). Ähnliche Vereine werden in fast allen deutschen Großstädten als frühe Bürgerinitiativen für Kunst gegründet. Etwas später bilden sich auch die ersten Berufsorganisationen von Maler_innen und Kunst-Clubs, die für gewöhnlich parallel zu den Kunstvereinen tätig werden.
Die ersten Kunstvereine sind als Aktiengesellschaften organisiert. Die Mitglieder können eine oder mehrere Aktien erwerben, wodurch die Vereine Geld verdienen. Dieses Kapital wird für den Kauf von Kunstwerken genutzt, die dann nach dem Lotterieprinzip auf die Mitglieder verteilt werden. Mit dem Erwerb von Aktien erhöhen sich auch die Chancen, ein Bild in der Lotterie zu gewinnen. Eine bestimmte Menge an Kunstwerken behält der Verein oft, um sich eine eigene Sammlung zu schaffen. Die Wirtschaft dieser Lotterie hat den Zweck, dem anspruchsvollen Bürgertum einen Zugang zur Kunst zu schaffen und die Möglichkeit zu eröffnen, am sich herausbildenden, immer größer und freier werdenden Kunstmarkt teilzuhaben, der im Wesentlichen von Mitgliedern des Vereins gefördert wird. Ein weiteres Ziel ist es, die hohen Preise für die Kunst zu senken, die dadurch entstanden waren, dass die Aristokratie, der Hof und die bürgerliche Elite ein Monopol auf den Kauf von Werken hatten. Dies ermöglicht das Erscheinen einer neuen Gruppe von Maler_innen, deren Werke sich am Bürgertum orientieren. Der ganze Prozess führt zu einem wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kunst und vor allem auf die Qualität der Produktion und einem auf dem Geschmack der neuen bürgerlichen Klasse basierten Konsum. Das Modell „hoher Kunst“, an Akademien studiert, und „niedriger Kunst“, nicht akademisch und für den breiteren, häuslichen Gebrauch gedacht, setzt sich durch. Nicht jeder Künstler neigt dazu, dem Aufruf der Kunstvereine zur Durchsetzung dieses neuen Marktmodells zu folgen, doch die meisten Künstler_innen sind gezwungen, mitzumachen, um zu Arbeit und Verkäufen zu kommen. Auf diese Weise formieren sich die verschiedenen Qualitäts- beziehungsweise Preisstufen des Marktes. Der Markt gewinnt an Dynamik und entwickelt sich günstig für die nicht akademische Kunst – bis Anfang der 1940er Jahre, als es zur Stagnation kommt, weil das Einkommen geringer wird, aber auch, weil das Kapital der reichen Bürger_innen zur Finanzierung staatlicher Projekte genutzt wird. Andererseits gibt es mehr Künster_innen denn je. In den darauffolgenden Jahrzehnten geht die Bedeutungder Kunstvereine zurück, weil sich die Möglichkeiten zur Darstellung und Veräußerung von Kunst erweitern.

"Reconstruction" (2017), Daniel Knorr
"Reconstruction" (2017), Daniel Knorr | © Foto: Fred Dott
Heute besteht nur ein kleiner Teil der wirtschaftlichen Ressourcen der Kunstvereine aus Mitgliederbeiträgen, während der Großteil seitens des Staates durch regionale öffentliche Fonds und von Sponsoren beigesteuert wird. Hierbei bietet die Form von Partnerschaft zwischen dem privaten und dem staatlichen Sektor den Kunstvereinen die Möglichkeit, nicht kommerzielle Kunst auszustellen und zu bekannt zu machen. Kunstvereine sind ihrer Natur nach Idealvereine, die sich ausschließlich auf die Verbreitung von Kenntnissen über die moderne Kunst in der Gesellschaft fokussieren, wobei sie gleichzeitig auch die Künstler_innen selbst unterstützen. Sie befinden sich im Zwischenraum zwischen den privaten Galerien, den öffentlichen Museen, haben wirtschaftliche Zwecke und widmen sich der Entdeckung und Präsentation neuer Künstler_innen.
Neben Institutionen wie der Kunsthalle oder dem Kunsthaus, die mehr an der Präsentation von Kurzausstellungen orientiert sind, hat sich der Kunstverein als eine Organisation durchgesetzt, die experimentellen Projekten im Bereich der zeitgenössischen Kunst sowie der Entdeckung und Unterstützung neuer Künstler_innen gegenüber offen steht. Sie werden von einem Mitgliedersystem – für gewöhnlich bestehend aus örtlichen Sammler_innen oder Maler_innen – verwaltet oder unterstützt.

"Brüchstücke Fragments" (2017), Rayyane Tabet
"Brüchstücke Fragments" (2017), Rayyane Tabet | © Foto: Fred Dott
Die Verbreitung, das aktive Wirken und die wichtige Rolle ähnlicher Institutionen in ganz Deutschland sind mit einem sehr charakteristischen und spezifischen Strukturmodell des Landes verbunden: der dezentralisierten Führung. Die moderne deutsche Kunst-Szene ist nicht mit einem bestimmten Ort verbunden, wie zum Beispiel der Hauptstadt, die in anderen Staaten oft das einzige finanzielle und intellektuelle Zentrum darstellt. Hier spielen Städte wie Köln, München, Düsseldorf, Kassel oder Frankfurt eine eigenständige Rolle und stellen eigene Stimmen in der Kunstszene des Landes dar, zusammen mit Berlin. Dieses Modell der Dezentralisierung ist mit der grundsätzlichen Struktur des Landes als Staatenbund und der Föderation von Bundesländern verbunden, in dem jedes Bundesland eine eigenständige Landesregierung, Gesetze und Finanzierungsquellen hat. Diese regionale Herangehensweise hat ihren Ursprung in der Nachkriegszeit der BRD, als die Verfassung so geändert wurde, dass eine zentralisierte Kulturpolitik wie sie zur Zeit des nationalsozialistischen Regimesherrschte, nicht mehr möglich war. So hat Deutschland heute nicht einen einzigen Kultusminister, sondern einen – oder eine –  für jedes Bundesland. Im Ergebnis gründet die zeitgenössische Kunst auf der regionalen Identität, geschaffen und unterstützt durch hunderte von Organisationen, die von den Bürger_innen gegründet wurden und für die Kunst tätig sind.
Ab 1989 werden viele neue Kunstvereine auch in verschiedenen Regionen des ehemaligen Ostdeutschlands gegründet, und sie spielen eine wichtige Rolle beim Übergang von der dem Staat dienenden Kunst zu einer neuen unabhängigen Kunst-Szene. Außerdem fördern sie die Schaffung von Kunstnetzen, unterstützen lokale Künstler_innen und machen regionale Kunst auf internationaler Ebene bekannt.

"Hamburger Frauen" (2017)
"Hamburger Frauen" (2017) | © Foto: Fred Dott
Heute sind Kunstvereine in Deutschland weit verbreitet, es existieren mehr als 300 mit 120.000 aktiven Mitgliedern auf örtlicher und regionaler Ebene, und zu den alten – mit langjähriger Geschichte – kommen ständig neue Kunstvereine hinzu, die nicht minder aktiv sind. Um die gemeinsamen Interessen der Kunstvereine zu vertreten und gemeinsame Projekte zu bekannt zu machen, wird 1980 in Berlin die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV) gegründet. Mitglieder der ADKV können Vereine werden, deren Hauptziel die öffentliche Ausstellung und die Vermittlung zeitgenössischer Kunst ist. Derzeit vereint das Mitgliedernetz der ADKV die meisten tätigen Kunst-Assoziationen und dient als Vermittler zwischen Kunst, Politik, Medien und Kunstvereinen, managet Partnerschaftsprojekte und bietet verschiedene Bildungs-, Austausch- und Zusammenarbeitsmöglichkeiten.        

Wirkungsgebiet

Dank seines spezifischen Arbeitsmodells nimmt der Kunstverein einen sehr wichtigen Platz im System der Beziehungen im künstlerischen Bereich in Deutschland ein. Er stellt eine Alternative zur staatlichen Kulturpolitik dar, schafft Mikrogemeinschaften und bietet, dank seiner Unabhängigkeit, kulturelle Selbstverwaltung und autonome Stimmen, fördert die Vielfalt der künstlerischen Produktion und bietet jungen Künstler_innen die Möglichkeit, zu experimentieren. Viele haben ihre ersten institutionellen Ausstellungen gerade hier. Unentbehrlich ist die Rolle der Kunstvereine auch bei der Gewinnung eines neuen Publikums für die Kunst und bei der Schaffung von Bedingungen für den unmittelbaren Dialog und für Diskussionen zwischen Künstler_innen, Kurator_innen, dem breiten Auditorium und den Mitgliedern des Vereins.

200 Jahre für die Kunst
Der Kunstverein in Hamburg | © Foto: Fred Dott
Der Wirkungsradius der Kunstvereine umfasst die Großstädte, aber auch ländliche Gebiete. Gleichzeitig verfügen sie auch über internationale Positionen als Teil des internationalen Netzes und Austausches, verbinden die örtliche Szene und entwickeln ein breites Spektrum von Programmen zur kulturellen Bildung. In letzter Zeit verwandeln sich die Kunstvereine zunehmend in Laboratorien und übernehmen vielerlei Aufgaben zur Entwicklung von den klassischen Museen. Ihre Programme werden oft von innovativ eingestellten Kurator_innen gestaltet. Auch kleine regionale Künstlergemeinschaften entwickeln neue innovative Formate.
Die Kunstvereine in Mittel- und Kleinstädten arbeiten immer mehr mit Künstler_innen zusammen, die auf örtlichem und internationalem Niveau bekannt sind, die dann angehende Künstler_innen vorstellen. Außerdem veranstalten sie Vorlesungen, Bildungsreisen, Besuche in Ateliers, Gespräche mit Malern und Weiteres. Zusätzlich zu ihren Ausstellungstätigkeiten produzieren die Kunstvereine Kataloge von Künstler_innen und Präsentationen von Ausstellungen, thematische Forschungspublikationen sowie spezielle Auflagewerke.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Arbeit der Kunstvereine wesentlich zur Popularisierung, aber auch zur Erneuerung der zeitgenössischen Kultur im Land beiträgt.

Parallelen

Der deutsche Kunstverein ist in seiner Natur und Wirkungsweise einzigartig. Von der deutschen Erfahrung ausgehend wurden ähnliche Institutionen auch in Österreich, der Schweiz, Italien sowie in den skandinavischen Ländern gegründet, wo die Kunstvereine als Modell bürgerlicher Beteiligung an kulturellen Aktivitäten gelten.
Den Bedarf an Dynamisierung des künstlerischen Lebens nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in der Provinz begreifend, hat man 1982 in Frankreich den Appell an die Dezentralisierung in der Kunst gerichtet. Die Initiative kommt allerdings nicht aus dem privaten Sektor, sondern ist Ergebnis der Strategie der französischen Regierung zur Präsentation und Präsenz der Kunst in jeder Region des Landes. Damals wurden die sogenannten FRAC (Fonds régionaux d’art contemporain) zum Zwecke der Bildung von Sammlungen geschaffen, die sich an ein vielseitiges Auditorium richten und neue Bildungsherangehensweisen an die moderne Kunst entwickeln.
In Bulgarien kann man die Parallele einer ähnlichen Bürgerinitiative, die den Zugang zur Kultur und Kunst gewährleistet, entwickelt und aufklärende Tätigkeit ausübt, in den Kulturheimen („chitalishte”) suchen. Sie entstehen in fast jeder Ortschaft in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und sind dort in der ersten Zeit nach ihrer Gründungsehr aktiv, heute allerdings in ihrer Funktion geschwächt. In letzter Zeit arbeitet man an verschiedenen europäischen Programmen, die das regionale Kulturleben durch die Gründung verschiedener Festivals und die Förderung von Museumsprojekten aktivieren sollen. Die Bürgerinitiative im Bereich der Kultur ist jedoch seit je her sehr schwach. Die Ursachen hierfür liegen wahrscheinlich im langjährigen zentralisierten politischen System, das das Land weiterhin nicht abschütteln kann. Das Modell des deutschen Kunstvereins, das ausgesprochen dynamisch ist, aus dem Potential der führenden Institutionen schöpft und das dank der vereinten Kräfte der Bürgerschaft und des Staates funktioniert, ist in Bulgarien derzeit eher schwer anzuwenden. Insbesondere, weil der Kunstverein eine Vereinigung von Menschen darstellt, die nicht nur der Künstlerszene angehören und die den Bedarf an Entwicklungsförderung der visuellen Künste mit gemeinsamen Kräften und Mitteln begreifen. Leider muss man festhalten, dass derartige Aktivist_innen in Bulgarien nur vereinzelt vorhanden sind, und ohne die zusätzliche Unterstützung von Sponsoren und staatlichen/regionalen Mitteln ein derartiges Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist. Kunst-Gesellschaften, ähnlich den deutschen Kunstvereinen, könnten in Bulgarien nur dann existieren, wenn sich eine wohlhabende Mittelschicht herausbildet, deren Hauptziel es ist, sich nicht nur materielle Güter anzuschaffen, sondern die auch über entwickelte geistige Bedürfnisse verfügt und den Bedarf an Förderung der Kultur für die Gesellschaft begreift, und zwar mit vereinten Kräften. Dies stellt allerdings ein komplexes Problem dar, das von historischen Gegebenheiten, der Festlegung der Bildungsziele, der Erziehung in der Familie und der Gestaltung der Staatspolitik und der Prioritätensetzung herrührt.

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