Theaterkritik
...Oder es bleibt doch alles so wie es ist

TOMORROW’S PARTIES
© Hugo Glendinning

Petar Denchev über das Gastspiel Tomorrow's Parties (Die Partys von Morgen) der berühmten britischen Theatergruppe Forced Entertainment.

Von Petar Denchev

Haben wir eine Zukunft, fragt die britische Theatergruppe Forced Entertainment in Tomorrow's Parties (Die Partys von Morgen), ohne eine Antwort darauf zu geben. Denn man kann davon ausgehen, dass wir als Menschen nicht vollständig in der Lage sind, uns selbst zu entkommen, und genau darin liegt das Menschliche. Dem Stück nach liegt die Identität in der Widersprüchlichkeit. Oder vielleicht auch nicht?

Sich die Zukunft vorzustellen, ist schon immer aufregend und zugleich beängstigend gewesen. Für diejenigen von uns, die das späte 20. und das frühe 21. Jahrhundert erlebt haben, führt diese Vorstellung seit Fukuyamas Das Ende der Geschichte aus den 1990er Jahren[1], zur existenziellen Erfahrung politischer Demagogie, die im letzten Jahrzehnt herrschte; zur Vermischung von Realität und Fantasie dank der digitalen Technologien; bis hin zu der entstehenden technologischen Beunruhigung, als wir plötzlich festgestellt haben, dass die Welt in den letzten paar Jahren nicht mehr dieselbe ist. Überhaupt konfrontiert uns alles, was mit der Zukunft zu tun hat, unweigerlich mit wichtigen Fragen über unsere Beziehung zu unseren persönlichen Projektionen und den gesellschaftlichen Narrativen, über die Verbindung zwischen Erinnerung und Zeit und provoziert gleichzeitig unser Streben als rationale Wesen, die Zukunft, die vor uns liegt, zu erahnen (oder zu erschaffen).

Für die meisten Liebhaber dystopischer Geschichten scheint es unmöglich, sich die Zukunft frei von Katastrophen, von verschiedenen(imaginären) despotischen Gesellschaftsordnungen und von technokratischen Utopien vorzustellen. Die einstündige Aufführung von Forced Entertainment mit dem Titel Tomorrow's parties präsentiert uns das Gegenteil, genauso wie der Song von Velvet Underground[2], den die Band 1967 für ihr Debütalbum aufnahm. Wir werden mit einer vereinfachten theatralischen Erfahrung in Form einer Performance konfrontiert, die uns in ihrem Verlauf weder politisch noch technologisch beunruhigt. Die Aufführung ist hinsichtlich des Materiellen minimalistisch; man kann sagen, dass das Materielle völlig irrelevant ist; die Handlung konzentriert sich auf die endlose Aufzählung dystopischer Hypothesen. Sie beginnt so wie sie endet, ohne dem Zuschauer Gewalt anzutun. In dieser scheinbaren Monotonie und Alltäglichkeit liegt aber die besondere Kunst, den Zuschauern genau dort eine Botschaft zu vermitteln, wo man sie nicht erwartet.

Die 1984 gegründet britische Theatergruppe Forced Entertainment[3], beeindruckt gerade durch ihre geschickte Interpretation alltäglicher Tatsachen, sozialer und mentaler Haltungen und durch die Reduzierung des Politischen auf die persönliche (Durchschnitts-)Psychologie. Mit diesem Fokus gelingt es ihnen oft, existenzielle Dilemmata in komische Paradoxien zu verwandeln. Durch ihre fragmentarische Herangehensweise – durch die Auswahl bestimmter sozialer Phänomene, Ängste, Obsessionen oder Sehnsüchte - gelingt es der Gruppe durch ihre Schauspielmethoden, den Zustand des Menschen in einer existenziellen Totalität zu erfassen, indem sie in der Regel gerade die Haltungen des Durchschnittsmenschen abbildet.

Ähnliches haben wir in zwei anderen Stücken gesehen, die in Bulgarien aufgeführt wurden: Real magic, das im letzten Frühjahr (2022) im Toplocentrala gespielt wurde und wo sich das Spiel auf die unmögliche Illusion (Wahnvorstellung) von Veränderung der Mediennarrative konzentriert; und Void story mit seiner postapokalyptischen Geschichte, das 2013 im Rahmen des Internationalen Theaterfestivals Varna Summer und der World Theatre Platform in Sofia aufgeführt wurde.

In Tomorrow's Parties erscheinen zwei Schauspieler, ein Mann und eine Frau, auf der Bühne, gekleidet wie für eine Gartenparty in einem Hinterhof. Die 2011 entstandene Inszenierung, wurde in Bulgarien von Richard Lowdon und Claire Marshall aufgeführt. Während die Zuschauer erwarten, dass etwas passiert, positionieren sich die beiden in aller Ruhe in der Mitte der leeren Bühne mit Blick auf das Publikum, von minimalistischem Licht (von bunten Glühbirnen, genau wie bei einer Gartenparty) beleuchtet. Sie beginnen in einem entspannten, fast beruhigenden Rhythmus zu sprechen und erkunden ihre Zukunftsvorstellungen und die der Zuschauer.

Beide entfalten vor dem Publikum total gegensätzliche Hypothesen über uns Menschen. Die Frau wirkt viel ernster, argumentationsfreudiger, als wolle sie die logische Abfolge fortsetzen, während der Mann seine Ideen etwas oberflächlicher präsentiert, als glaube er selbst nicht ganz an ihre Wahrscheinlichkeit. Die beiden sprechen abwechselnd und hören einander zu. Dies ist kein verbales Duell; es wird weder nach Antworten gesucht noch werden substanzielle Fragen gestellt. Und während man ihnen zuschaut, fragt man sich: Gibt es eine Zukunft? Ist die Zukunft eine Realität?

Was am Verhalten der beiden Schauspieler/Figuren auffällt, ist ihr Interesse aneinander und die dennoch vorsichtige und sogar anhaltende Herablassung  der vielleicht unplausiblen Ideen des anderen gegenüber, die sie an den Tag legen, bevor sie zu den nächsten hypothetischen Szenarien übergehen. Zu keinem Zeitpunkt der Aufführung ändern beide Schauspieler ihre Position auf der Bühne -sie stehen ruhig Schulter an Schulter, unabhängig davon, worüber sie gerade sprechen: futuristischer Feudalismus oder eine mögliche biologische Revolution ("Sex wird nur ein nostalgisches Spiel für Erwachsene sein.") oder eine politische Utopie. Dann hört man in der Mitte der Aufführung fast beiläufig: "Oder es bleibt doch alles so wie es ist."

Machen Sie sich aber nichts vor. Völlig richtig. Das ist die versteckte Botschaft, genau dort, wo man sie nicht erwartet. Die von jeglichem moralischen Pathos freie Warnung, dass sich die Existenzform vielleicht gar nicht ändert und die inakzeptabelsten Merkmale der Menschenwelt bestehen bleiben, zieht zusammen mit all den anderen Hypothesen in einem unaufhaltsamen Strom vorbei und ist als eigenständige Botschaft kaum zu erkennen. Wer aber die Gesichter der Schauspieler gesehen und ihren Stimmen zugehört hat, wird diese Botschaft zum beunruhigenden Fokus einer ansonsten lebensbejahenden Performance, die sowohl mit Ängsten als auch mit der Apathie spielt. Und man fragt sich: will man in diesem Augenblick erleichtert aufatmen, oder beginnt da für einen die Angst, dass man nach dem Ende der Aufführung weiterleben muss?


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TOMORROW’S PARTIES (DIE PARTYS VON MORGEN)

Regie: Tim Etchells
Schauspieler: Richard Lowdon, Claire Marshall
Gestaltung: Richard Lowdon
Lichtgestaltung: Francis Stevenson
Produktion: Ray Rennie, Jim Harrison
Produktionsmanagement: Forced Entertainment

30.- 31. März 2023 im Regionalzentrum für zeitgenössische Kunst Toplocentrala

Die Veröffentlichung wird vom Goethe-Institut Bulgarien unterstützt.

[1] Es handelt sich um Francis Fukuyamas berühmtes Buch The End of History and the Last Man (Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch), das 1992 veröffentlicht wurde und von vielen Analysten in den 1990er Jahren als utopische politische Prophezeiung angesehen wird. In seinem Buch argumentiert Fukuyama, dass die Verbreitung der liberalen Demokratien und des Kapitalismus die letzte Phase der politischen Evolution der menschlichen Gesellschaften darstellt.


[2] The Velvet Underground ist eine amerikanische Rockband, die für ihre Mischung aus klassischem Rock und avantgardistischen Ansätzen bekannt wurde. Frontman ist Lou Reed, und die Band steht Andy Warhol und seinem Studio 54 in New York sehr nahe. Über den Song sagt Reed: "... Ich beobachtete Andy. Ich beobachtete, wie Andy jeden beobachtete. Ich hörte die Leute die erstaunlichsten Dinge sagen, die verrücktesten Dinge, die lustigsten Dinge, die traurigsten Dinge."


[3] Forced Entertainment ruft im Laufe der Jahre viele Projekte ins Leben, die sich speziell mit der Bedeutung der theatralischen/performativen Erfahrung in der heutigen Gesellschaft beschäftigen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht immer die öffentliche Provokation, die Erkundung der Grenzen des Möglichen im Theater und dessen Beziehung zum Alltag. Ihre Arbeit umfasst auch verschiedene Installationen, ortsspezifische Projekte, fotografische Projekte u.a.

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