Zeitgenössischer Tanz
Die freie Szene während der Krise, davor und danach

Porträtbild von Mira Todorova
© Nadezhda Tchipeva

In der Rubrik "Kultur in Krisenzeiten" widmen wir besondere Aufmerksamkeit den kritischen Stimmen und Positionen von Intellektuellen aus Bulgarien und Deutschland zu den Mechanismen und Prinzipien zur Unterstützung der freien Szene. Am Ende eines außergewöhnlichen Jahres reflektiert Mira Todorova, die künstlerische Leiterin von DNK – einem Raum für zeitgenössischen Tanz und Performance, über die Schwierigkeiten, mit denen die freie Szene in den letzten zwölf Monaten der kontinuierlichen Anpassung zu kämpfen hatte und über die positiven Veränderungen, die wir erleben konnten.

Von Mira Todorova

Die Herausforderungen, vor denen die unabhängige Szene der darstellenden Künste steht, sind kein Schnee von gestern, und die aktuelle Krise hat es einfach geschafft, diese Probleme zu katalysieren und zu kristallisieren. Wenn wir die Perspektive ändern, würde ich sogar sagen, dass die Krise eine gute Arbeit geleistet hat, denn der Sektor und seine Schlachten sind sichtbar geworden, sie erhielten eine Form, ein klares Profil. Die Ursache der Nöte der unabhängigen Szene ist meiner Meinung nach in der Tatsache verwurzelt, dass hier, angesichts der sozio-historischen und kulturellen Besonderheiten eines postsozialistischen Staates, das Institutionelle, das Traditionelle und das Offizielle immer als etwas Wertvolles angesehen wurden (bedingt durch den Sozialismus); dies geschieht jedoch zum Nachteil von allem, was als Ergebnis einer persönlichen, individuellen oder kollektiven Initiative ist, von allem, was sich abseits der Mittellinie befindet, dessen Qualität von einer Institution nicht bestätigt wurde und das mit seiner lateralen Synkope den reibungslosen Status quo zu stören droht.

Das heißt, die unabhängige Szene, die wir eigentlich vorläufig so nennen aufgrund eines lokalen Einvernehmens (in Deutschland heißt sie „freie Szene“), wurde immer ein bisschen als „secondhand“ Kunst angesehen, die von Menschen ausgeübt wird, die ihr Hobby zu einem beruflichen Beruf gemacht haben und bereit sind, dafür mit einem niedrigen Lebensstandard, mangelndem sozialen Status und partieller Unsichtbarkeit in der Gesellschaft zu bezahlen. Der blinde Fleck der Kunst. Meiner Meinung nach gilt das in Bulgarien leider generell für die Kunst (und für die Bildung!). Es ist notwendig, die Prioritäten und Werte dieses Landes radikal zu überdenken, und statt auf Autobahnpolitik sich mehr auf Kultur und Bildung zu konzentrieren.

Der französische Soziologe Michel Maffesoli argumentiert, dass der moderne Staat zu stark auf die Wirtschaft ausgerichtet ist, was zu einem neuen Tribalismus führt, welcher den Individualismus durch Konsumismus ersetzt. Der Politologe Ivan Krastev behauptete in einem Interview mit dem belgischen Soziologen Pascal Gielen, dass „ohne Kultur keine vollwertige politische Gemeinschaft aufgebaut werden kann“ und dass das Teilen gemeinsamer kultureller Referenzen und eines gemeinsamen emotionalen Raums bedeutend sind für die Empathie und Solidarität in einer Gesellschaft auf nationaler und paneuropäischer Ebene, ohne die es keine politische Gemeinschaft, keine Zivilgesellschaft, keinen öffentlichen Raum gibt.

Eine Gesellschaft kann nicht ausschließlich auf der Grundlage von Institutionen und wirtschaftlichen Transfers funktionieren. Das, was uns als Gesellschaft prägt, ist nämlich die Kultur – die gemeinsamen Bedeutungsräume, die nur Empathie und Solidarität hervorrufen können; ansonsten wären wir einzelne Verbraucher von Waren und Dienstleistungen, keine Bürger mit kritischer Reflexion und Stimme für die politische Regierungsführung (die eher wirtschaftlich ist) und für die Funktionsweise des Staates.

Wenn ich die Idee des politischen Denkers Ognyan Minchev in eigenen Worten wiedergeben darf, müssen wir aufhören, den Menschen als ein materielles Wesen mit irgendwelchen spirituellen Bedürfnissen zu betrachten, und anfangen, ihn als ein spirituelles Wesen mit materiellen Bedürfnissen zu betrachten. Die aktuelle Krise und eher die Art und Weise, auf die wir sie als Gesellschaft bewältigen, ist ein deutlicher Hinweis auf unsere Defizite auf sehr vielen Ebenen. Aber das ist ein anderes Thema. Die Krise hat den Ausdruck von Empathie und Solidarität mobilisiert und provoziert, aber sie hat auch deutlich gezeigt, dass wir als Gesellschaft keine gemeinsamen Bedeutungs- und Wertekonsensfelder haben. Die einzelnen Gilden und Gemeinschaften haben sich vereint, um ihre eigenen Werte zu verteidigen, und der Staat sah sich „gezwungen“, auf jeden Impuls zu reagieren, was chaotisch und stückweise geschah, je nachdem, wer am lautesten sprach und wer die größte Lobby in der Regierung usw. hatte. Ein babylonischer Turm des Zerfalls, der auf einer Mikroebene zu einem beispiellosen Maß an Solidarität führte.

Die Situation der unabhängigen Szene im Vergleich zur sogenannten „offiziellen“ Szene scheint ein Minimodell der kulturellen Situation in Bulgarien zu sein in Bezug auf das gesamte Netzwerk sozialer Systeme und Praktiken – etwas, das traditionell nicht als wichtig angesehen wird, und noch weniger ein grundlegendes Element für die Gesundheit des gesamten Organismus ist, aber in Wirklichkeit beeinträchtigt seine „lahme“ Existenz die Qualität des Milieus, des Gesamtbildes und des gemeinsamen Lebens (weil es einfach aufhört, gesamtheitlich zu sein).

Die Krise hat meiner Meinung mehrere sehr positive Phänomene hervorgerufen: Die Szene vereinte sich und erhob solidarisch ihre Stimme. Infolgedessen stellten die lokalen und staatlichen Behörden einen (für unser bisheriges Verständnis) unvorstellbar hohen Geldbetrag bereit, und zwar durch neue Programme und verschiedene Instrumente, mit denen einzelne Künstler und Projekte unterstützt wurden, und es wurde sogar strukturelle Unterstützung für die Entwicklung ganzer Organisationen gewährleistet. Dies ist ein Präzedenzfall für Bulgarien – ein wichtiger Mechanismus, der die Nachhaltigkeit des Milieus gewährleisten kann. Das heißt, es wurden viele Schritte in eine positive Richtung unternommen. Die Mittel gingen an Kulturschaffende (mit allen Problemen des unreifen Prozesses), was großartig ist, aber es ist eine Reaktion auf die Situation und hat mit Vision oder Politik nichts zu tun. Vor allem müssen strukturelle Änderungen im Bereich der darstellenden Künste vorgenommen werden, aber vorher muss ein radikal neues Verständnis dafür geschaffen werden, was Gesellschaft ist und welche Rolle Kultur (und Kunst) für ihre vollständige Existenz spielen.
 

Mira Todorova ist freiberufliche Theater- und Tanzkritikerin, sie hat einen Doktorgrad in Theaterwissenschaften erworben. Sie ist Initiatorin und künstlerische Leiterin von DNК – einem Raum für zeitgenössischen Tanz und Performance. Sie ist tätig als Dozentin, Forscherin, Redakteurin und Dramatikerin für verschiedene künstlerische und theoretische Projekte. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen in den Fachmedien für Kunst und Kultur in Bulgarien und im Ausland.

 

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