Mode in der DDR
Von starken Frauen, selbstgenähten Kleidern und Modepunks

Modefoto für „Sibylle“ mit Grit Kundler, 1986, Berlin-Prenzlauer Berg, DDR
Modefoto für „Sibylle“ mit Grit Kundler, 1986, Berlin-Prenzlauer Berg, DDR | © Werner Mahler/OSTKREUZ

In der DDR war Kleidung keine Mode, sondern fiel in die Kategorie „Versorgung mit Gebrauchsgütern“. Trotzdem entstand eine Gegenkultur zum sozialistischen Einheitslook – vor allem mit der Modezeitschrift Sibylle und dem Modetheater von ccd und allerleirauh.

Duschvorhänge, Erdbeerfolie oder Windeln waren die Materialien, aus denen Sabine von Oettingen in den Achtzigerjahren Kleider gestaltete. „Ich habe alles vernäht, was sich vernähen ließ“, erinnert sie sich. Heute werden diese Kleider sorgfältig im Deutschen Historischen Museum in Berlin aufbewahrt, als Teil der DDR-Geschichte. Oder besser, als einer der Splitter der DDR-Geschichte, die nicht in die offizielle Doktrin passen wollten.

Modefoto für die Frauenzeitschrift „Sibylle“, Jutta Deutschland, Solotänzerin, Berlin, 1981, DDR Modefoto für die Frauenzeitschrift „Sibylle“, Jutta Deutschland, Solotänzerin, Berlin, 1981, DDR | © Ute Mahler/OSTKREUZ Sabine von Oettingen gehörte damals zu einer Clique von Jugendlichen, 17 bis 19 Jahre alt, die in Ostberlin lebten und vom Leben mehr wollten, als sich in die für sie vorgesehenen sozialistischen Biografien einzupassen. „Wir waren Modepunks“, erinnert sich die Kostüm- und Bühnenbildnerin. Ausdruck für diesen Wunsch nach einem individuellen Lebensentwurf wurde die Bekleidung. „Was man kaufen konnte, wollte keiner anziehen, das ging gar nicht.“

Chic, charmant & dauerhaft

Also wurde genäht. Doch was Sabine von Oettingen und ihre Freundinnen Katharina Reinwald und Frieda Bergemann von Wild an Bekleidung entwarfen, ging weit über die Alltagskleidung hinaus. Das waren irre Kostüme, die auf die Bühne gehörten. Es entstand die Gruppe ccd – chic, charmant & dauerhaft, eine ironische Anspielung auf die Kriterien der DDR-Modeproduktion. Der erste offizielle Auftritt war 1983 im Berliner Jugendclub Schaufenster, anlässlich einer Ausstellung des Fotografen Jürgen Hohmuth.
Marisa und Liane, Sellin, Insel Rügen, Mecklenburg-Vorpommern, 1981, DDR Marisa und Liane, Sellin, Insel Rügen, Mecklenburg-Vorpommern, 1981, DDR | © Sibylle Bergemann/OSTKREUZ
Mode in der DDR, das war in erster Linie eine Geschichte von Mangel: an Stoffen, an Trends, an Ideen – eigentlich an allem, was die Lust an Kleidung ausmacht. Dass man sich heute noch positiv daran erinnert, ist vor allem der Mode- und Kulturzeitschrift Sibylle zu verdanken. Das Magazin wurde 1956 gegründet, im selben Jahr, als eine junge Frau ihr Studium der Modegestaltung an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee aufnahm.

Neuer, natürlicher Stil

Sie hieß Dorothea Melis und analysierte 1961 die Sibylle in ihrer Diplomarbeit: Das Magazin orientiere sich am Modestil der Vorkriegszeit, kenne nur die elegante Dame oder die biedere Hausfrau. Die Reaktion auf die herbe Kritik war überraschend, die Chefredakteurin stellte sie als Moderedakteurin ein.

Dorothea Melis, Jahrgang 1938, ist heute noch eine sehr energiegeladene Frau. Man kann sich vorstellen, dass es ihr gelang, mit Mitte 20 die Sibylle umzukrempeln: Sie holte die Realität in das Magazin herein.

Schon bei ihrer ersten Modeproduktion im Pergamonmuseum sagte sie dem Fotografen Günter Rössler, wie toll sie die Optik der westdeutschen Jugendzeitschrift twen fände. Und dann entstand ein Bild, bei dem das Model keine künstliche Pose neben einer Statue einnahm, sondern locker auf den Stufen saß. Der neue, natürliche Stil der Sibylle-Modefotos war geboren.

Kein Glamour, keine Exzentrik, kein Westen

Dorothea Melis fand zwar twen gut, doch ihre Modeauffassung unterschied sich deutlich von der ihrer West-Kolleginnen. „Wir haben in der Mode nicht den schnellen Wechsel gesehen, sondern den Kulturaspekt, die Art und Weise sich zu kleiden, zu geben, zu verhalten.“ Das meiste, was in der Sibylle zu sehen war, war klassisch, vernünftig, tragbar. Verrückt waren nur die Accessoires.
Modefoto für „Sibylle“, Lehnitz, Brandenburg, 1984 Modefoto für „Sibylle“, Lehnitz, Brandenburg, 1984 | © Ute Mahler/OSTKREUZ
Mit den realistischen Träumen, die die Sibylle präsentierte, konnten sich die DDR-Bürgerinnen identifizieren. Die Auflage der Sibylle lag bei 200.000 Exemplaren, blitzschnell ausverkauft, denn die Zahl der Leserinnen ging in die Million. Es waren vor allem zwei Dinge, die die Leserinnen an der Sibylle reizten. Die ausgefeilten Schnittmuster, denn Selbstnähen stand bei den DDR-Bürgerinnen ganz hoch im Kurs. „Der Mangel hat eine ungeheure Kreativität geweckt“, erinnert sich Dorothea Melis.

„Schön, klug, sinnlich, selbstbewusst, stark“

Die zweite Faszination der Sibylle waren die Fotos. Die abgebildeten Kleidungsstücke gab es meist nicht zu kaufen. Doch die Models verkörperten die Realität. Um ihrer Modeauffassung ein modernes Gesicht zu geben, warf Dorothea Melis die Fotografen alter Schule raus und holte als Mannequins Studentinnen oder berufstätige Frauen, die sie auf der Straße oder im Café ansprach. Ein moderner starker Frauentyp, fotografiert in natürlichen Posen, nur etwas schöner – und besser gekleidet – als die meisten DDR-Bürgerinnen.

„Bei mir durften die Models nie lachen, weil ich fand, dass sie sonst so schnell in die Nähe des offiziellen DDR-Frauenbilds von unseren glücklichen Frauen kamen“, sagt Ute Mahler. Sie und Sibylle Bergemann sind die beiden Fotografinnen, die den Stil der Sibylle wohl am nachhaltigsten geprägt haben. Bergemann hatte ihre Kollegin zu der Zeitschrift geholt. 1978 fotografierte Ute Mahler ihren ersten Titel. „Wir haben versucht, das Frauenbild zu zeigen, das unserem Ideal entsprach“, erzählt sie. „Schön, klug, sinnlich, selbstbewusst, stark.“

Autorenfotos, die im Gedächtnis blieben

Die Redaktion der Sibylle ließ den Fotografen freie Hand. Was dabei entstand, waren Autorenfotos, die im Gedächtnis blieben. „Wir haben immer gemacht, was wir für uns vertreten konnten, was glaubhaft war“, sagt Ute Mahler, die heute Professorin für Fotografie in Hamburg ist und 1990, unter anderem mit Sibylle Bergemann, die Agentur Ostkreuz gegründet hat. „Wir haben kaum die Errungenschaften des Sozialismus in den Hintergründen gezeigt“. Man sieht graue Häuserschluchten, Plattenbauten, Landschaften.
Modefoto für „Sybille“ (Modezeitschrift der ehemaligen DDR), Julia Koberstein, Model, Berlin, 1979 Modefoto für „Sybille“ (Modezeitschrift der ehemaligen DDR), Julia Koberstein, Model, Berlin, 1979 | © Ute Mahler OSTKREUZ
Ute Mahler und alle anderen bekannten Sibylle-Fotografen – Arno Fischer, Roger Melis, Werner Mahler – kamen aus der Porträt- oder Reportagefotografie. Und das merkte man ihren Inszenierungen an. „Genau dieser Aspekt hat uns an der Mode interessiert: dass man Realität nachinszenieren kann, dass man etwas über Realität erzählen kann, verpackt in Modefotos.“ Und diese Realität wirkte nach. Noch im letzten Jahr wurde Ute Mahler von einer Frau angesprochen: „Ich muss Ihnen sagen, wie toll ich Ihre Fotos in der Sibylle fand. Ich habe sogar meine Tochter Julia genannt, nach dem Model, das im See steht und den Kopf so schief hält“.

Mode-Gegenkultur

Gab es eine Zensur? Keine, die ausgesprochen war, sagt Ute Mahler. Aber es war klar, manche Dinge gehen nicht. Dass die Models nicht lachten, war beispielsweise grenzwertig. Und als Sibylle Bergemann einmal zwei Frauen am Strand mit runtergezogenen Mundwinkeln zeigte, wurde das Lächeln nachträglich ins Bild retuschiert. Alle Fotos wurden von der Frauenkommission des Zentralkomitees (ZK) der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) geprüft, und diese befand kurze Röcke, düstere Farben, ernste Gesichtsausdrücke oder Rückenansichten schnell für „unwürdig.“ Auch die Maximode durfte wegen des hohen Stoffverbrauchs nicht in der Sibylle propagiert werden.

Modenschau, Prenzlauer Berg, Ostberlin, 1987, DDR Modenschau, Prenzlauer Berg, Ostberlin, 1987, DDR | © Sibylle Bergemann/OSTKREUZ Von den Fotos der Sibylle führt ein direkter Weg zur Modesubkultur in den Achtzigerjahren. „Das waren quasi unsere Kinder“, sagt Dorothea Melis. Was sich damals als Mode-Gegenkultur formierte, war weniger eine Revolution, sondern eher eine Bewegung, die den Staat einfach ignorierte. Doch der Staat ignoriert sie nicht. Die Staatssicherheit überwachte alle Randgruppen, die visuell auffällig waren. „Auch unsere Gruppe wurde von der Stasi beobachtet“, erinnert sich Sabine von Oettingen. Und was der Staat nicht verhindern konnte, wurde eingebunden. „Wir bekamen mit ccd immer mehr offizielle Auftritte, 20 oder 30 Shows.“

Modeperformance

Als Modetheater oder Modeperformance kann man diese Auftritte beschreiben. Am Ende kletterten die Zuschauer auf den Laufsteg und tanzten mit den Akteuren. Die Shows von ccd wirkten wie eine Befreiung. Daraus entwickelte sich dann mit allerleirauh eine neue Gruppe. allerleirauh war die logische Schlussfolgerung von ccd. Alles was wir uns mit ccd erarbeitet hatten, musste immer extremer werden“, sagt Sabine von Oettingen.

Schon ccd hatte die Klamotten für bekannte DDR-Bands geschneidert. Bei allerleirauh machte Pankow die Musik. Angelika Kroker nähte Schuppenmäntel aus Leder und „Igelkappen“, aus denen Kupfernägeln wie Stacheln ragten. Das waren echte Bühnenkostüme. 1988 hatte die Gruppe allerleirauh ihren ersten Auftritt. Ein überwältigender Erfolg.

„Allerleirauh“ unabhängige Designergruppe, Modefotografie, 1988, Ostberlin, DDR „Allerleirauh“ unabhängige Designergruppe, Modefotografie, 1988, Ostberlin, DDR | © Sibylle Bergemann/OSTKREUZ Eine zweite Show gab es auch noch, doch das war dann schon nach der Wende, im Dezember 1989. ccd und allerleirauh hatten einem neuen, freien Lebensgefühl Ausdruck gegeben. Doch mit dem Mauerfall war plötzlich die ganz große Befreiung gekommen. Und was in dem auch in Modefragen repressiven DDR-System wie ein waghalsiger Ausbruch gewirkt hatte, war am 9. November 1989 über Nacht zur Normalität geworden.