Zwischen Sozialutopie und Gangster-Rap

© Foto: Christian Schaser

Plattenbausiedlungen sind in Deutschland ein Symbol für soziale Probleme. In Ost und West wurden sie als Lösung für die Wohnungsnot der Nachkriegszeit konzipiert. Nach der Wende schwappte das Negativ-Image auch in die ehemalige DDR über. Es folgten der soziale Abstieg und die Diskussion um Abriss oder Revitalisierung.

„Hohe Häuser – dicke Luft – ein paar Bäume – Menschen auf Drogen – hier platzen Träume.“ Die Rede ist vom Märkischen Viertel, einer der größten Plattenbausiedlungen Berlins. Mit silberner Totenkopfmaske rappt der kontroverse Gangster-Rapper Sido im Video zu Mein Block vor grauen Plattenbauschluchten von Aggression und Kriminalität. Nicht nur im deutschen Hip-Hop sind Plattenbausiedlungen Symbole für sozialen Abstieg und klägliche Lebensbedingungen. Vor allem mit den ostdeutschen Plattenbausiedlungen sind heute Unworte wie Stadtschrumpfung, Prekariat oder Rückbaugebiet verbunden. Schnell kann man da ostalgisch werden, hält man sich die Euphorie vor Augen, mit der in den 1960ern junge Kleinfamilien die aus dem Boden gestampften Großsiedlungen der DDR bezogen.

„Jeder wohnt unter den gleichen Bedingungen in gleichen Wohnungen: Es wohnen der Generaldirektor im gleichen Haus wie der Anlagenfahrer aus dem Chemiekombinat, die Oberbürgermeisterin im gleichen Block mit dem Schaltwart aus der Wärmeversorgungszentrale.“ In DDR-Großsiedlungen, das macht das Zitat aus dem Bericht Plan und Bau der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt von 1972 deutlich, sollte sich die sozialistische Egalitätsideologie materialisieren.

Zusammen mit marxistisch-leninistischer Technikgläubigkeit und der gesellschaftspolitischen Fixierung auf die sozialistische Kleinfamilie, führte diese zum industrialisierten Wohnungsbau in standardisierter Plattenbauweise. Das Heilmittel für ein an Wohnungsknappheit und bröckelnden Altbauten erkranktes Ostdeutschland der Nachkriegszeit. Gute Infrastruktur und eine funktionale Gesamtkonzeption lockten besonders seit den 1970ern die Massen in neue Stadtviertel wie die Hoyerswerdaer Neustadt oder Berlin-Johannestal. 1990 wohnte fast ein Drittel der ostdeutschen Bevölkerung im Plattenbau.

Von der Integration zur Exklusion

Mit dem Fall der Mauer zerbrach auch im Osten das soziale Integrationsmodell der Großwohnsiedlungen. In Westdeutschland waren diese vor allem in den 1960ern und 70ern entstanden: München-Neuperlach zum Beispiel oder das von Sido als Paradies drogenaffiner Kleinkrimineller beschriebene Märkische Viertel. Das Negativ-Image haftete den Siedlungen in den alten Bundesländern schon zu Beginn an. Zwar kamen durch sie erstmals auch sozial schwächere Familien in den Genuss einer modernen Wohnung, in einer individualistisch orientierten Gesellschaft mit privatwirtschaftlichem Wohnungsmarkt führte das jedoch zur Konzentration armer Bevölkerungsschichten in den neuen, staatlich geförderten Großwohnsiedlungen.

 © Foto: Christian Schaser Laut Carsten Keller, Soziologe und Autor des Buches „Leben im Plattenbau – Zur Dynamik sozialer Ausgrenzung“ konnten spätere Nachbesserungen von Bausubstanz und Infrastruktur das öffentliche Bild von den Problemsiedlungen lediglich fixieren. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass man in Westdeutschland schockiert war ob der Vorstellung, dass 30 Prozent der neuen Bundesbürger in Problemsiedlungen leben. Recht schnell dominierte das Wörtchen Abriss den Diskurs.

 Glücklicherweise einigte man sich aber bald auf eine andere Lösung. Wohnumfeldverbesserung und Modernisierung sollten den Bestand für die Zukunft sichern. „Nach zehn Jahren Stadtentwicklung in den neuen Bundesländern zeigte sich aber, dass auch der eingeschlagene Weg der Vitalisierung die Erosionsprozesse nicht verhindern konnte“, konstatiert Carsten Keller. Der Abstieg der einstigen Orte sozialer Integration verlief dabei von Stadt zu Stadt, von Siedlung zu Siedlung, ja von Block zu Block unterschiedlich. Ostdeutsche Mittelstädte, aufgrund der staatlich geförderten Industrie Wachstumszentren der DDR, wurden schnell zu Vorreitern des sozialen Abstiegs.

Ein Trend, der sich bald auch auf randstädtische Plattenbausiedlungen in Groß- und Kleinstädten ausweitete. Stadtsoziologen gehen heute davon aus, dass man sich der sozialistischen Utopie einer Durchmischung aller gesellschaftlichen Gruppen lediglich in Großstädten annähern konnte. Gerade die mittelstädtischen Großsiedlungen waren als betriebsbezogener Wohnungsbau konzipiert und boten vor allem Arbeitern und einfachen Angestellten einen funktional an die Arbeitsstätte gekoppelten Wohnraum. Die Privilegierten konzentrierten sich in der DDR im innerstädtischen Neubau.

Auswege aus der Ghettoisierung

 © Foto: Christian Schaser Schieflagen, die die Entwicklung nach der Wende vorzeichneten. Konnten beispielsweise Apartments in Plattenhochhäusern in Berlin-Mitte inzwischen zu trendigen Locations des zeitgenössischen Lifestyles avancieren, ist das Bild in den Randbezirken und Mittel- und Kleinstädten ein tristes. Deindustrialisierung führte zu struktureller Arbeitslosigkeit, nachholende Suburbanisierung und unglückliche Belegungspolitik setzten den sozialen Abstieg in Gang. Die jungen, besser qualifizierten zog es in den Westen und in die Großstadt. Ältere und ressourcenschwache Bewohner blieben. Innerhalb der Siedlungen kommt es – so Carsten Keller – zur „Verinselung sozialräumlicher Milieus“.

„Bemerkenswert ist die Verknüpfung zwischen Status und sichtbarer Wohnqualität“, erläutert der Experte für Großwohnsiedlungen eines der Ergebnisse seiner Forschungen. An Bebauungsalter und Grad der Sanierung lässt sich das soziale Milieu der Bewohner ablesen. Sind vor allem Migranten und sozial Schwächere dem Verfall der schlecht bis gar nicht sanierten Platten relativ hilflos ausgesetzt, leben die etablierten älteren Bewohner meist zufrieden ein paar Blocks weiter in renovierten Wohnungen. Dem schlechten Image der Platte sind jedoch auch sie ausgesetzt. Ein Teufelskreis von Schrumpfung und sozialer Exklusion?

  © Foto: Christian Schaser Nicht zwangsläufig. Großprojekte des Stadtumbaus wie im thüringischen Leinefelde zeigen das beispielhaft. Ende der 80er bestand die Stadt zu 90 Prozent aus Plattenbauten, 1994 standen 30 Prozent aller Wohnungen in Leinefelde leer. Durch das Bund-Länderprogramm Stadtumbau Ost gefördert, wurden hier seit 2002 (Teil-)Abrisse mit Investitionen in Infrastruktur und Grünflächen verbunden. Umbauprojekte wie die des vielfach prämierten Architekten Stefan Forster zeigen, wie Plattenbauten auf architektonisch interessante Weise neues Leben eingehaucht werden kann. Und auch Carsten Keller weist darauf hin, dass Deutschlands Großsiedlungen nicht zwangsläufig der Abriss oder eine Zukunft als Kulisse für düstere Hip-Hop-Videos droht. „Entgegen dem Augenschein stehen die Großsiedlungen in Ost und West nicht für ein Zuviel, sondern für ein Zuwenig an sozialpolitischer Intervention“. Um die Großwohnanlagen vor ihrem scheinbar sichern Schicksal als Ghetto von Morgen zu bewahren, müsse sozialer Wohnungsbau kleinteilig über die Stadt gestreut und vor allem eine materielle und soziokulturelle Aufwertung der Siedlungen mit Blick auf die Bedürfnisse ihrer Bewohner erfolgen.

Literatur: Carsten Keller: Leben im Plattenbau – Zur Dynamik sozialer Ausgrenzung, Campus Verlag 2005.