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Comicszene Deutschland
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Max Baitinger © 2016 Rotolpress Verlag

Eine zunehmende Vielfalt an Themen und Stilen zeigt das gewachsene Selbstbewusstsein der deutschsprachigen Comicszene.
 

Von Lars von Törne

Eine Zeitlang schien es so, als beschränke sich die kreative Energie deutschsprachiger Comicschaffender und ihrer Verlage vor allem auf drei Genres, mit denen man sich bei den Lesern, Medien und dem Buchhandel besonders viel Zuspruch erhoffte: Literaturadaptionen, (Auto-)Biografien und Zeitgeschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus und DDR. Ein genauerer Blick auf Neuerscheinungen der letzten Jahre zeigt: Da geht noch mehr.
 
Zwar finden sich auch da Vertreterinnen und Vertreter jener drei Genres,  deren Arbeiten beweisen, dass es durchaus lohnend sein kann, sich in diesen etablierten Bereichen zu bewegen. So führen Joachim
Brandenberg
, Flix und Bernd Kissel, Frank Flöthmann, Jakob Hinrichs, Isabel Kreitz sowie Franziska Walther in ihren von O. Henry, den Geschichten vom Baron Münchhausen, Shakespeare, Hans Fallada, Konrad Lorenz und Goethe inspirierten Büchern exemplarisch die Vielfalt der Möglichkeiten des Comics vor, literarische Vorlagen nicht einfach nur zu bebildern, sondern sich auf originelle Weise anzueignen. Und sie darüber hinaus als Ausgangspunkt einer Bilderzählung zu nehmen, bei der die Adaption als eigenständiges literarisch-künstlerisches Werk bestehen kann.

  •  Jörg Buttgereit, Levin Kurio: Captain Berlin (Zuschnitt);
  •  Gilg, Eppenberger, Schrag: Golem im Emmental (Zuschnitt)
  •  Schreiter, Daniela: Schattenspringer (Zuschnitt)
  •  Franz, Aisha: Shit is real (Zuschnitt)
  •  Haifisch, Anna: VonSpatz (Zuschnitt)
  •  Oskamp, Nils : DreiSteine (Zuschnitt)
  •  Baitinger, Max: Röhner (Zuschnitt)
  •  Vieweg, Olivia: SchwereSee (Zuschnitt)
  •  Burcu, Türker: Suesse Zitrone
  •  Walther, Franziska: Werther Reloaded (Zuchnitt)
  •  Dahmen, Tobi: Fahrradmod (Zuchnitt)
  •  Soval, Alice: Sandro (Zuschnitt)
  •  Flöthmann, Frank: Shakespeare (Zuschnitt)
  •  Brandenberger, Joachim: Tobisch (Zuschnitt)
Tobi Dahmen, Hamed Eshrat, Sascha Hommer, Nils Oskamp, Sebastian Rether, Daniela Schreiter und Burcu Türker wiederum belegen mit ihren (auto-)biografischen Erzählungen, dass die eigene Lebensgeschichte, oder wie in Rethers Fall die des Großvaters, durchaus Material für einen herausragenden Comic sein kann – wenn man sich nicht darauf beschränkt, die Banalität des Alltags zu thematisieren, sondern eine außergewöhnliche Geschichte hat und dazu ein originelles Konzept, wie sich diese visuell umsetzen lässt.
 
Und dass historisch-politische Themen weit mehr als der Stoff von gestern sind, führen die erzählerisch packenden und grafisch ausgereiften Arbeiten von Kristina Gehrmann, Lukas Kummer, Birgit Weyhe, Barbara Yelin und David Polonsky vor Augen. Sie alle machen durch ihre Themenwahl – Franklin-Expedition 1845, Dreißigjähriger Krieg, mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR, die Lebensgeschichte der deutsch-israelischen Schauspielerin Channa Maron – zudem deutlich, dass in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zwar nach wie vor spannende Stoffe zu entdecken sind, dieses aber bei weitem nicht die einzige für deutsche Zeichner ergiebige Periode der Menschheitsgeschichte ist.
 
Viele aktuell erschienen Werke lassen sich allerdings drei anderen Bereichen zuordnen, die hierzulande noch Nachholbedarf haben, gerade im Vergleich zu den traditionellen Comicnationen wie Japan, den USA oder dem frankobelgischen Raum: fiktionale Alltagsdramen sowie Genrestoffe und Humor-Strips.
 
Fiktionale Comicerzählungen wie die von Max Baitinger, Aisha Franz, Alice Socal und Olivia Vieweg gehören zu den herausragenden Arbeiten des letzten Jahres. Sie führen eindrucksvoll vor, welches Potenzial private, aber nicht zwingend persönliche Stoffe haben, wenn sie von talentierten Zeichnern und Autoren entwickelt werden – das Ergebnis sind Graphic Novels im besten Sinne, wenn man den schillernden und im deutschen Sprachraum uneindeutigen Marketingbegriff, der in Nordamerika nahezu für jeden Comic in Buchform benutzt wird, wortwörtlich als „grafischer Roman“ übersetzen möchte.
 
Den erfreulichsten Zuwachs gibt es bei den Genrestoffen. Dass die lange beklagte Lücke bei heimischen Produktionen in diesem Bereich zumindest langsam gefüllt wird, ist Zeichnern und Autoren wie Jörg Buttgereit und Levin Kurio, dem Schweizer Trio Benedikt Eppenberger, Gregor Gilg und Barbara Schrag, David Füleki, Haiko Hörnig und Marius Pawlitza, Daniel Lieske, Peter Menningen und Ingo Römling, James Turek, Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter sowie Nana Yaa zu verdanken: Sie alle nehmen in ihren Büchern, Heften und Serien bekannte Motive aus Science Fiction, Fantasy, Märchen, Horror, Krimi, Roadmovies oder Western auf und verbinden sie kreativ mit eigenen Ideen.
 
Bemerkenswert ist, dass gerade in diesem Bereich mehrere Autoren-Zeichner-Teams arbeiten, wie es in Deutschland anders als im Ausland lange nicht üblich war. Vielleicht ist eine Erklärung dafür, dass Genre-Fiktion in besonderem Maß davon profitieren kann, wenn sich ein Autor ganz auf die Story und ein Künstler ganz auf die visuelle Umsetzung konzentrieren kann, von den Zeichnungen und dem Seitenaufbau bis zu Kolorierung und Lettering. Oder liegt es eher daran, dass gerade in diesem Bereich Verkaufszahlen erhofft werden, die die Entlohnung eines Teams statt eines Einzelkämpfers erlauben? Gut täte eine solche Arbeitsteilung und das damit verbundene Eingeständnis, dass nicht jeder gute Zeichner auch ein guter Autor ist (oder umgekehrt), auf jeden Fall auch anderen Bereichen des deutschsprachigen Comicschaffens.
 
Ebenfalls kein Zufall ist es, dass zwei der hier genannten Autoren sich in erster Linie als Mangazeichner einen Namen gemacht haben. Gerade bei den Genrestoffen sind in letzter Zeit von deutschen Mangaautorinnen und -autoren – bei den japanisch inspirierten Comics überwiegen anders als in der übrigen Comicszene schon seit Jahren die Frauen – etliche interessante Erzählungen und Serien veröffentlicht worden. Deren Vielfalt kann anhand der Arbeiten von Nana Yaa und David Füleki exemplarisch illustriert werden. Die deutschsprachige Mangaproduktion der vergangenen Jahre, die sich primär an ein jugendliches Publikum richtet, könnte problemlos einen weiteren Katalog wie diesen füllen. Ähnliches gilt für den qualitativ wie quantitativ rapide wachsenden Bereich deutschsprachiger Kindercomics (zum Beispiel Arbeiten von Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter).

Auf gutem Wege, wenngleich mit wirtschaftlich bedingten Schwankungen, ist der Bereich der – meist humorvollen – Comicstrips. Diese Urform des modernen Comics, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ihren Anfang nahm, hat in den vergangenen Jahren im Internet wie auch in deutschsprachigen Zeitungen einerseits eine Renaissance erlebt. Andererseits wurden in jüngster Zeit manche Serien aus Spargründen von wirtschaftlich gebeutelten Zeitungen wieder eingestellt. Beispielhaft zeigen die in Buchform veröffentlichten Sammelbände der Arbeiten von Sarah Burrini, Flix und Mawil, wie unterhaltsam, reflektiert und ideenreich dieses mehr als 100 Jahre alte Genre sein kann, wenn eine neue, postmoderne Zeichnergeneration sich mit der Tradition ihrer künstlerischen Urahnen auseinandersetzt und sich das Strip-Format für die eigenen Zwecke aneignet. Dies gilt auch für die Arbeiten von Anna Haifisch, deren groteske Kurzgeschichten zwar formal nicht dem klassischen Zeitungsformat folgen und auch nur teilweise in serieller Form veröffentlicht werden, bevor sie als Buch erscheinen. Ihre Comics können aber durchaus auch als Liebeserklärung an die Pioniere des Mediums gelesen werden.
 
Generell lässt sich die hier diagnostizierte Vielfalt an Themen und Stilen als Ausdruck eines zunehmenden Selbstbewusstseins der deutschen Comicschaffenden interpretieren. Mit wachsender Souveränität bewegen sie sich auch in Genres, die auf den ersten Blick weniger Sicherheit zu bieten scheinen als die im Buchhandel inzwischen verhältnismäßig
gut etablierten Comicbereiche Literaturadaption, (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte.
 
Abenteuerlustig wagen Zeichner und Autoren sich in weniger klar abgesteckte Bereiche vor, nehmen mit offenen Augen Impulse aus aller Welt und der Kulturgeschichte auf, verknüpfen sie mit Traditionen des eigenen Kulturkreises und interessanten Fundstücken aus ihrem Alltag. Auf dieser Grundlage schaffen sie – und die oft von hohem persönlichem und finanziellem Einsatz ihrer Gründer getragenen deutschsprachigen Comicverlage – eine stetig wachsende Zahl von sequenziellen Bilderzählungen, die mit ihrer inhaltlichen und formalen Vielfalt auch routinierte Comicleser noch überraschen können. Zugleich werden die etablierten Genres stetig mit neuen Anregungen weiter belebt und ausgebaut.
 
Zumindest in qualitativer Hinsicht braucht die deutschsprachige Comic-Community den Vergleich mit anderen Comicnationen schon seit einigen Jahren nicht mehr zu scheuen. Mit den aktuellen Arbeiten ist ihre Position im In- wie im Ausland noch ein wenig stärker geworden.

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