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Gemischtes Doppel: Visegrad #1 | Slowakei
Aufstand der Frauen

Lange schien es so, als interessiere sich niemand in Europa für die Slowakei, dabei kochte es schon seit Langem unter der Oberfläche: Grassierende Korruption, Mafiaeinfluss auf höchster Regierungsebene und ein archaisches Frauenbild, das jeder Beschreibung spottet. Doch es mussten erst zwei Morde geschehen, damit die Slowakei endlich aufwacht, meint Michal Hvorecký.

Von Michal Hvorecký

Liebe Leserinnen und Leser,

im Frühjahr 2018 hat es auch die kleine Slowakei erlebt: fünfzehn Minuten Weltruhm – genau so, wie sie Andy Warhols Prognose aus dem Jahr 1968 jedem versprochen hat. Warhols Familie stammt aus dem ruthenischen Dorf Miková, aus der Provinz nahe der ukrainischer Grenze in der heutigen Ostslowakei.

Nach dem brutalen Mord des jungen investigativen Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten, der Archäologin Martina Kušnírová, landete die Slowakische Republik endlich mal wieder in der Tagesschau und auf den Titelseiten der großen internationalen Zeitungen. Selbst die internationalen Radiostationen berichteten täglich. Hauptsächlich waren es aber das Internet und die sozialen Netzwerke, die es ermöglicht haben, die dramatischen Geschehnisse nach dem Tod des 27-jährigen Enthüllungsjournalisten im Minutentakt zu verfolgen.

„Erst musste eine solche Tragödie geschehen, damit die Slowakei endlich aufwacht.“

Meine Heimat stürzte in eine schwere Krise. Weil viele Mitbürger die Regierung in der Verantwortung sahen, entwickelte sich die Protestbewegung „Für eine anständige Slowakei“ innerhalb kürzester Zeit zur größten seit der Wendezeit im November 1989. In mehr als 30 Städten gingen trotz Eiseskälte mehrmals Tausende auf die Straße. Schade, dass der Anlass so traurig war. Erst musste eine solche Tragödie geschehen, damit die Slowakei endlich aufwacht.

Nur so wurde die europäische Gemeinschaft darauf aufmerksam, was alles in dem beschaulichen 5,5-Millionen-Einwohner-Staat im Osten Europas hinter – für Visegrad-Länder verhältnismäßig schöner Kulisse – passiert: Grassierende Korruption, Verbindungen von ranghohen „sozialdemokratischen“ Politikern mit dem organisiertem Verbrechen, eine arrogante Regierungskoalition, die glaubt, sie sei unantastbar, die Demontage des Rechtsstaats, Gewaltenteilung unter Druck und zutiefst unmoralische Geschäfte der Oligarchen mit den Machthabern.

Hauptsächlich junge Frauen, viele von ihnen Mütter mit Babys oder mit minderjährigen Kindern, organisierten die massiven pro-demokratischen und pro-europäischen Proteste. Eine unglaubliche Leistung ohne Karenzzeit.

Dank dieser Frauen verliefen die Demonstrationen würde- und sinnvoll: Keine Krawalle, keine Ausschreitungen, man protestierte friedlich. Auch deswegen fühlten sich viele sofort an die Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt” aus dem Jahr 1989 erinnert, die damals die kommunistische Diktatur stürzte. Die Veranstalterinnen wurden regelmäßig bedroht, eingeschüchtert, im Netz mit Hass überzogen und von Trollen verfolgt, am häufigsten absurd beschuldigt, sie arbeiteten im Auftrag des US-Börsenmilliardärs George Soros.

Aber sie hatten keine Angst, sie machten unermüdlich weiter, sie blieben dran, sie diskutierten, koordinierten eine Crowdfunding-Kampagne, verteilten mit Hilfe von dutzenden Freiwilligen Plakate und Flugblätter, schrieben die Reden, sprachen regelmäßig mit der Polizei über Sicherheitsmaßnahmen, gaben unzählige Interviews.

„Die erste freie tschechoslowakische Regierung war eine reine Männergesellschaft“

Nach 1989 wurden praktisch alle Frauen aus dem historischen Gedächtnis der Wendezeit gelöscht. Die erste freie tschechoslowakische Regierung war eine reine Männergesellschaft. Die Wahrnehmung der bedeutenden Beteiligung der Frauen an den epochalen demokratischen Veränderungen blieb gering. Wenn ich Oral History der Samtenen Revolution lese, dann wiederholt sich in den Interviews mit Zeitzeuginnen immer wieder ein Motiv: Auf den starken positiven, euphorischen Start folgten Frustration, Enttäuschung und Wut.

1990, unmittelbar nach der Gründung der ersten neuen politischen Institutionen und Parteien, hat man sie ausgegrenzt. Bis heute ist die Präsenz der Frauen in der slowakischen Politik marginal, ihre Rolle unterschätzt. Weibliches politisches Engagement wird als Ablenkung auf Kosten wichtiger familiärer Aufgaben wahrgenommen.

Deutschland ist ein Einwanderungsland, aber die Slowakei blutet aus, weil immer mehr gebildete Menschen wegziehen

Mehr als 11 Prozent der Ärzte im Bundesland Sachsen kommt aus der Slowakischen Republik. Ebenso Krankenschwestern und Pflegekräfte: abgewandert in Scharen. Katastrophal sind die Auswirkungen in unserem Gesundheitssystem. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sagte eine Viertelmillion Slowaken ihrer Heimat adieu. Ein Großteil der hellsten Köpfe studiert längst im Ausland.

Der berühmte Landsmann Andy, dessen Eltern ursprünglich Varchola hießen, und die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach Pittsburgh auswanderten, sagte nicht vorher, was aus denjenigen wird, die bereits ihre fünfzehn Minuten Ruhm aufgebraucht haben.

Vordergründig wurde durch die Proteste viel erreicht: Der korrupte Premierminister, sein treuer Innenminister sowie der unglaubwürdige Polizeichef sind offiziell zurückgetreten, doch inoffiziell regieren sie alle drei weiter. Weil die Politik in meinem Land einen extrem schlechten Ruf hat, haben sich die Demonstranten immer als unparteilich und auch als unpolitisch inszeniert. Doch eine Welt ohne Politik gibt es nicht. Die demokratischen Prozesse dürfen nicht verachtet, sondern sie müssen verstärkt werden. Deswegen machen wir weiter.

Wir müssen den Braindrain bremsen, die Slowakei wieder attraktiv und zukunftsfähig machen. Wir können unseren Kindern nicht ein Land hinterlassen, in dem die Mafia der Regierungskoalition so nahesteht wie im Augenblick, die Korruption so allgegenwärtig ist wie jetzt, die Ungerechtigkeit so weit verbreitet ist und der Mord an Journalisten ungeklärt bleibt.
 

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