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Gemischtes Doppel: Visegrad #10 | Tschechien
Man glaubt, was man glauben will

Der Wunsch nach Wahrheit verschleiert manchmal das eigene Misstrauen, und dann ist es passiert: Man glaubt Nachrichten, obwohl sie keine Belege liefern. Dabei ertappte sich auch Tereza Semotamová.

Von Tereza Semotamová

Liebe Monika, lieber Márton, lieber Michal,

Michal, du fragst mich, wie sicher mein Land sei. Also, hier ist nur sicher, dass nichts sicher ist. Ich kann es nicht anders beschreiben als eine Art „unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.

Wenn man in meinem wunderbaren Land mit seiner wunderbaren Kultur und seinen wunderbaren Menschen noch ein gewisses Gewissen hat, hat man es hier in Tschechien heutzutage halt schwer.

Die Intellektuellen streiten sich in diesem Sommer über vieles: Zum Beispiel darüber, wer oder was eigentlich der Staat ist. Der Premierminister, Babiš, oder man selbst, oder etwa nur die Steuern, die man zahlt? Soll man finanzielle Förderung für Kulturprojekte aus staatlichen Mitteln als Kollaboration mit dem bestehenden Regime betrachten – nämlich mit der Regierung strafrechtlich verfolgten Ex-Stasi-Oligarchen, die nur dank der Stimmen der Kommunistischen Partei existieren? Und wie steht es mit dem Staatspreis für Literatur? Kann man diesen überhaupt noch annehmen, ohne Gefahr zu laufen, als Babiš-Fan verschrien zu werden? Stinkt dieses staatliche Geld, oder stinkt es nicht?

Was mich beeindruckt und bedrückt, ist die Macht/Ohnmacht des individuellen Wahrnehmens. Das ist etwas, worüber ich andauernd nachdenke. Die Ohnmacht der Politik erleben wir in Tschechien viel zu oft. Um nicht selbst ohnmächtig zu werden, zwinge ich mich deshalb, auch die guten Dinge zu sehen.

Dieser Tage bin ich glücklich, dass wir die Zeitschrift Respekt haben, konkreter, die Journalistin Ivana Svobodová. Als vor ein paar Tagen im See Lhota, in der Nähe von Prag, zwei vietnamesische Jungen ertranken, ist Svobodová hingefahren, um selbst zu recherchieren. Ich habe über diesen Vorfall während meines Sommerurlaubs nur flüchtig verfolgt – die Schlagzeilen lauteten ungefähr so: „Entsetzte Zeugen am See Lhota, zwei Kinder ertrunken, niemand hat geholfen.“
 

„Ach, ihr ertrinkender Junge ist ein Vietnamese? Nö, tut mir leid, Gelbe mag ich nicht retten!“

Ich dachte mir, wie schrecklich! Ich stellte mir gleich einen Bademeister vor, der sich jedes Mal aus Neue entscheidet, wen er rettet – und wen nicht: „Ach, ihr ertrinkender Junge ist ein Vietnamese? Nö, tut mir leid, Gelbe mag ich nicht retten!“ Aber Ivana Svobodová ist gewissenhaft, sie ist zum See gefahren und hat mit den Akteuren, mit Angestellten des Seeareals und mit verschiedenen Zeugen gesprochen. Sie hat sich den See mit eigenen Augen angeschaut. Sie hat eine gründliche journalistische Arbeit geleistet, die heutzutage schon fast zur Kuriosität geworden ist.

Andere Medien zeichneten lieber ein simples Schwarz-Weiß-Bild: Aha, eine rassistische Arealangestellte, die der hysterischen Mutter nicht helfen wollte! Deshalb sind jetzt zwei Kinder tot. Alle Tschechen sind Rassisten! Pfui! 

Svobodová dagegen hat den mutmaßlichen Ort, an dem die kleinen Nichtschwimmer ertranken, gründlich untersucht. Es zeigte sich, dass in einem Teil des Sees, wo die Kinder verschwanden, eine gefährliche und abrupt abfallende tiefe Mulde im See ist. Es zeigte sich auch, dass die Arealangestellte – im Gegensatz zu den Zeugenaussagen – die Polizei sofort angerufen hat, nachdem sie informiert worden war. Die Frau war zwar grob und unhöflich (eine ungeschriebene Regel, wenn man sich in Tschechien integrieren will), aber man kann nicht behaupten, dass sie nicht gehandelt hätte. An besagtem See gilt übrigens: Schwimmen auf eigene Gefahr.

In dem Respekt-Artikel sind noch viele weitere Tatsachen beschrieben, die ein ganz anderes Licht auf den Vorfall werfen. Es ist faszinierend, wie viele vermeintliche Zeugen Dinge behaupteten, die sich später als Lüge entpuppten.

Die TV-Reporter haben ihre Berichterstattung nur auf Basis hysterischer und in Teilen irriger Zeugenaussagen zusammengestellt.

So wie jede andere Lebenssituation ist auch dieser Vorfall eine Gesamtheit von vielen Kleinigkeiten. Damit man sich ein Bild davon machen kann, was eigentlich passiert ist, muss man viele Informationen sammeln, überprüfen und berücksichtigen. Die TV-Reporter haben ihre Berichterstattung nur auf Basis hysterischer und in Teilen irriger Zeugenaussagen zusammengestellt.

Die ganze Story und die Art und Weise der Berichterstattung dieser Story zeigt, wie wir sind und vor allem, dass wir oft nur das glauben, was wir glauben wollen. Ich spreche da auch aus eigener Erfahrung: Es war in der Nacht von Samstag auf Sonntag, ich wollte schon schlafen gehen, als ich sah, dass die russische Journalistin und Menschenrechtlerin, Wictoria Iwlewa, auf Facebook gepostet hatte, dass der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow im Flugzeug säße und frei wäre. Senzow ist seit 2015 in russischer Haft, vor drei Monaten ist er aus Protest gegen seine Inhaftierung in einen Hungerstreik getreten. Ich habe es einfach geglaubt und konnte vor Glück nicht einschlafen.

Ich habe es geglaubt, weil ich es mir so wünschte. Und ich suchte zuerst nicht nach Beweisen. Erst später dachte ich: Aha, ist es wirklich so? Wo sind Iwlewas Belege? Wie kann sie es wissen? Am nächsten Tag dementierte der russische Knast, Senzow sei weiterhin im sibirischen Straflager und starte gerade in den 91. Tag seines Hungerstreiks.

Ich fühlte mich plötzlich wie eine Leserin von Sputnik, jenes Desinformation-Portals, das in ganz Europa seine Filialen hat und seinen Lesern genau die Informationen liefert, die sie lesen wollen. Was soll ich dazu nur sagen? #freesentsov!

Ich frage dich, Martón, wie arbeitest du innerlich daran, dass du die Informationen weiterhin in ihrer gesamten Tiefe wahrnimmst und nicht nur das glaubst, was du glauben willst?

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