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Anna Réz
#MeToo – Wie können wir über sexuellen Missbrauch sprechen?

Klartexte, Grafik: Kristóf Ducki
© Goethe-Institut Ungarn

Unter dem Hashtag #MeToo teilte eine Vielzahl von Frauen ihre Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen. Diese Social-Media-Kampagne löste einen gesellschaftlichen Dialog aus, in dem viele verschiedene Auffassungen von sexueller Belästigung aufeinander trafen: von der Boulevardsensation über Victim Blaming bis hin zu einer breiteren gesellschaftlichen Auslegung des Phänomens – die persönlichen Geschichten, deren Erzählung nicht wenig Überwindung kostet, erhielten verschiedenste Deutungsrahmen.

Von Anna Réz

Am 7. Oktober 2017 erschien in der New York Times ein Enthüllungsbericht, in dem die Autorinnen Jodi Kantor und Megan Twoley – auf Interviews und Rechtsdokumente gestützt – sexuelle Missbräuche aufdeckten, die Harvey Weinstein, der Leiter des Miramax-Filmstudios, seit 1990 begangen hatte. In den darauffolgenden Wochen berichteten mehr als einhundert Frauen gegenüber der Presse, dass Weinstein ihnen ungebetene sexuelle Angebote gemacht, sie zu ungewollten sexuellen Berührungen gezwungen oder auf andere Weise belästigt hätte. Am 15. Oktober, acht Tage nach Ausbruch des Skandals, rief die Schauspielerin Alyssa Milano in einem Tweet Frauen, die bereits Opfer sexueller Gewalt oder Belästigung geworden waren, dazu auf, dies unter dem Hashtag #MeToo („ich auch“, „mich/mir auch“) zu signalisieren. Es war die Geburtsstunde einer Kampagne, in deren Rahmen weltweit betroffene Frauen – in erster Linie über die Sozialen Medien – millionenfach über sexuelle Missbräuche berichteten.

Framing von sexueller Belästigung

Der Begriff Framing beschreibt die Art und Weise, wie die Medien eine bestimmte Nachricht oder Geschichte interpretieren und in einen Kontext setzen. Ob bewusst oder unbewusst – Journalistinnen und Journalisten treffen bei jeder „Nacherzählung“ einer Nachricht eine Entscheidung, mit welchen bereits vorhandenen gesellschaftlichen Diskussionen, Begriffen, Gegensatzpaaren und Bedeutungen sie die Geschichte in Zusammenhang bringen, und diese Entscheidung wirkt sich darauf aus, wie die Empfängerinnen und Empfänger die Geschichte deuten und weiterdenken. Der Titel „Dank Regierungsmaßnahmen steigt die Bereitschaft, Kinder zu bekommen“ über einem Artikel zu einer soziologischen Studie, lenkt die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser in eine ganz andere Richtung, als der Titel „Immer mehr ungelernte, junge Mütter im Land“. Während im Mittelpunkt der ersten Überschrift ein Erfolg der Regierung steht und der Bevölkerungszuwachs versteckt als positive Erscheinung gutgeheißen wird, fokussiert die zweite Überschrift auf unterschiedliche Lebensstrategien unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen.
 
Obwohl #MeToo häufig als Bewegung bezeichnet wird, stand und steht hinter dem gesellschaftlichen Dialog, den #MeToo auslöste, keine einheitliche Gemeinschaft, die die Ziele und den Rahmen dieses Dialogs vorgeben würde. Die Bedeutung des Hashtags #MeToo wurde also dadurch geprägt, wie und wozu ihn die Meinungsbildnerinnen und -bildner der Sozialen Medien, die Journalistinnen und Journalisten sowie die Entscheidungsträgerinnen und -träger aus dem institutionellen Umfeld und der Politik verwendet haben und bis heute verwenden.

Regel oder Ausnahme?

Die direkteste Botschaft von #MeToo ist, dass Frauen tagtäglich mit sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch konfrontiert sind. Die Kampagne wurde deshalb so erfolgreich, weil genug Frauen ihre Erfahrungen teilten, um so den Menschen in ihrem Umfeld vor Augen zu führen, dass es sich hierbei um eine Massenerscheinung handelt und dass viel mehr Männer sexuellen Missbrauch begehen, als wir das glauben wollen. Feministische Bewegungen sehen die Bedeutung der #MeToo-Kampagne darin, dass endlich klar wurde: Sexueller Missbrauch ist kein individueller Ausrutscher von besonders skrupellosen Männern, sondern eine systemische Erscheinung.

Asymmetrische Verhältnisse

Statt neue Informationen vor einer breiten Öffentlichkeit zu teilen, rückte die #MeToo-Kampagne bereits bestehendes Wissen in ein neues Licht. Auch zuvor war es kein Geheimnis gewesen, dass einflussreiche Männer aus der Film- und Theaterwelt (Regisseure, Produzenten, führende Schauspieler) den Karrierefortschritt von Schauspielerinnen oder ihre Besetzung nicht selten an deren Bereitschaft zu sexuellen Berührungen knüpfen – der Begriff „Besetzungscouch“ ist bekannt. #MeToo hat jedoch gezeigt, dass dies keine „Geschäftstransaktionen“ auf Augenhöhe sind (Sex für Arbeit), sondern dass hier ungleiche Machtverhältnisse herrschen, in denen ausschließlich die eine Seite den Rahmen der Zusammenarbeit festlegt und dadurch die andere Seite in eine Zwangslage drängt. Diese Erkenntnis konnte dadurch gewonnen werden, dass die Perspektive der Opfer Teil des öffentlichen Diskurses wurde und diesen sogar dominierte. Dies ermöglichte Empathie mit den betroffenen Frauen, ihren Gefühlen und Dilemmata, und es weckte Aufmerksamkeit für die langanhaltenden psychischen Wunden, die eine solche Erfahrung hinterlässt. Der Zugang zum Thema über die Opferperspektive deckte außerdem auf, dass zuvor Missbräuche durch einflussreiche Männer oft als „normaler Geschäftsgang“, als unveränderbare naturgegebene Tatsache hingenommen wurden.

Die Auswirkungen von #MeToo

Den Weinstein-Enthüllungen und dem Hashtag #MeToo wurde bis Ende 2017 eine besondere Medienaufmerksamkeit zuteil, die die Aufdeckung zahlreicher weiterer Skandale begünstigte. Nicht nur in den Vereinigten Staaten kamen weitere Belästigungsfälle in der Filmbranche ans Licht – auch in weiteren Ländern wurden ähnliche Vorwürfe publik. In Ungarn beispielsweise brach die Schauspielerin Lilla Sárosdi öffentlich ihr Schweigen darüber, dass ihr in jungen Jahren der Regisseur László Marton in einem Auto ein ungebetenes sexuelles Angebot gemacht hatte (später berichteten weitere sieben Frauen von ähnlichen Erlebnissen mit Marton).
 
Es wurden viele Versuche unternommen, das Phänomen des sexuellen Missbrauchs aus einer breiteren Perspektive zu untersuchen. Bereits in der frühen Phase der Kampagne tauchte der Einwand auf, dass das Thema sexueller Missbrauch nicht als spezielles Problem der Kunst- und Schauspielwelt angesehen werden sollte, schließlich sei das Problem in seinem Kern an jedem beliebigen Arbeitsplatz präsent. Ende 2017 jedoch verfestigte sich der Eindruck, dass das Interesse der Medien am Phänomen #MeToo vorwiegend konkrete Geschichten betrifft, und mehr noch: Lediglich die Geschichten bekannter Persönlichkeiten schafften es langfristig in den Nachrichtenstrom – #MeToo wurde auch von den Boulevard-Medien aufgegriffen. Ähnlich erfolglos blieb auch das Bestreben, einen weitreichenden Dialog über die Verantwortung der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber hinsichtlich der Prävention und Sanktionierung von sexuellem Missbrauch zu starten.

Kritik

Im Zusammenhang mit #MeToo waren von Anfang an auch kritische Stimmen zu hören. In der frühen Phase der Kampagne stellten diese einerseits die Glaubwürdigkeit der Berichte infrage und verwiesen andererseits auf eine angebliche Verantwortung der Opfer für die ihnen widerfahrende Belästigung. Victim Blaming oder Opferbeschuldigung ist (in erster Linie aus moralischer Sicht) deshalb problematisch, weil sie suggeriert, dass sich das Opfer, und nicht der Täter falsch verhalten habe. Obgleich Victim Blaming in vielen Lebensbereichen präsent ist (oft wird zum Beispiel die Frage aufgeworfen, inwieweit Obdachlose selbst für ihr Schicksal verantwortlich sind), tritt es am häufigsten im Fall von sexueller Gewalt gegen Frauen auf: wenn beispielsweise danach gefragt wird, ob die Opfer nicht zu aufreizend gekleidet waren oder warum sie in die Wohnung des Gewalttäters mitgegangen sind.
 
In der späteren Phase der Kampagne stützte sich die Kritik gegen #MeToo auf die Frage, ob durch ein derartiges Framing von sexuellem Missbrauch nicht die bis dahin akzeptierten Regeln bezüglich des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen grundlegend neu geschrieben würden. Im Januar 2018 verfassten einhundert französische Frauen aus Kunst, Medien und dem akademischen Umfeld (darunter auch Catherine Deneuve) einen Offenen Brief. Darin brachten sie ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass die #MeToo-Kampagne einerseits Männer selbst wegen geringer moralischer Vergehen an den Pranger stelle und öffentlich verurteile und andererseits alltägliche Verhaltensweisen wie das Flirten stigmatisiere und so sexuelle Freiheit und Selbstausdruck gefährde. Der erstere Einwand zeigt, dass #MeToo eine unumkehrbare Veränderung in den Medien – und insbesondere in den Sozialen Medien – bewirkt hat, auch ihre Funktion betreffend: Die Öffentlichkeit enthüllt nun einzelne Verstöße gegen die Norm nicht mehr nur, sondern vermag – mithilfe der Kommentierenden – auch sofort eine „Strafe“ zu verhängen.

Fazit

#MeToo hat entscheidend dazu beigetragen, dass eine weitverbreitete Erfahrung vieler Frauen benennbar und aussprechbar geworden ist. Das Hashtag #MeToo hat sehr viele verschiedene Formen und Abstufungen des Phänomens zusammengetragen – vom Nachpfeifen auf der Straße über Belästigung am Arbeitsplatz bis hin zu körperlicher sexueller Gewalt. So ist deutlich geworden, dass diese Abstufungen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Dank #MeToo sind sexuelle Missbräuche nicht mehr im Schatten der Privatsphäre verborgen. Wann ist es nützlich, diese Fälle in die Öffentlichkeit zu bringen? Wie sollten Journalistinnen und Journalisten beziehungsweise Medienkonsumentinnen und -konsumenten mit diesen Geschichten umgehen? Eindeutige Antworten auf diese Fragen gibt es bisher nicht.

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