Winnetou ist wieder da
Warum die Bücher von Karl May die Deutschen so begeistern

Winnetou
Winnetou | Foto (Ausschnitt): David Schäfer © dpa

Ein blasser Cowboy mit leichtem Schmerbauch reitet auf eine Lichtung. Einmal abgesehen von den Lederhosen, dem Hut, der silbernen Büchse an der Seite und natürlich dem Pferd könnte er auch ein Bankfilialleiter aus der Provinz sein. Nicht von der Sorte, die mit Wertpapieren jongliert, sondern der halb strenge, halb freundliche Typ, der mit einem über die Hypotheken-Rückzahlung spricht.

Daher lässt dieser vermeintliche Eroberer des Wilden Westens das Publikum, das sich vor den Alltagssorgen nach Bad Segeberg geflüchtet hat, wohl eher kalt. Doch plötzlich erscheint ein Mann auf der Bildfläche, der ganz eindeutig ein Apachenkrieger sein soll: Er sitzt elegant im Sattel, hat das schwarze Haar zusammengebunden, ist eins mit sich und gefechtsbereit. Und just in diesem Moment kann man einen kollektiven Seufzer der Erleichterung von den Deutschen hören, die sich dieses seltsame Schauspiel in einem verregneten, norddeutschen Kurort zu Gemüte führen. Winnetou ist da.

Karl Mays Werk würdigen

Jedes Jahr strömen die Deutschen zwischen Juni und September nach Bad Segeberg in Schleswig-Holstein und Radebeul in Sachsen, um Karl Mays Werk zu würdigen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Neuinszenierung des Wilden Westens. In Deutschland scheint man sich vielerorts im Sommer gern zu verkleiden: Es gibt Piratenshows auf Rügen und in Grevesmühlen, ein Römerfest in Xanten sowie zahlreiche Ritterfeste. Aber nichts kommt der deutschen Seele so nahe wie die Karl-May-Aufführungen der Geschichten um den Grenzsiedler Old Shatterhand und seinen treuen Apachenbruder Winnetou. Fragt man Frauen mittleren Alters nach ihrem Lieblingshelden in der Kindheit, lautet die einhellige Antwort „Winnetou“, und jeder Mann ab vierzig kann eine persönliche Anekdote zum Karl-May-Helden beisteuern. Mays Wildwest-Romane haben sich mehr als 200 Millionen Mal verkauft: nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass der Autor (der seine Leser glauben ließ, Old Shatterhands Abenteuer beruhten auf eigenen Erfahrungen) die Geschichten in seiner Bibliothek in Dresden ersann. Diese Bücher brachten drei oder vier oder noch mehr Generationen deutscher Jungen dazu, freiwillig ein Buch in die Hand zu nehmen, und hatten damit die gleiche Wirkung wie Die Abenteuer von Huckleberry Finn auf Jugendliche in den USA. Dann kamen die Winnetou-Filme. Den Reigen eröffnete Der Schatz im Silbersee 1962, gefolgt von einem Dutzend weiterer Filme, die Millionen Zuschauer ins Kino lockten.

Ein unerklärlicher Einfluss

Warum aber sind Bücher über Amerika, geschrieben von einem Mann, der erst im hohen Alter dieses Land bereiste, der ein Hochstapler und Fantast war, etwas „typisch Deutsches“ geworden? Albert Einstein liebte Karl Mays Geschichten, wie auch Kaiser Wilhelm II., Franz Kafka, der Regisseur Fritz Lang und Hermann Hesse. Der Bühnenautor Carl Zuckmayer taufte seine Tochter sogar Winnetou. Der Einfluss der Filme ist noch viel unerklärlicher. Winnetou wurde von dem französischen Schauspieler Pierre Brice gespielt, und die Filme wurden in Jugoslawien gedreht, fast nichts an ihnen war authentisch. Wie konnten sie die Deutschen dann so in ihren Bann ziehen?

Das mag an der Erzählstruktur von Mays Geschichten liegen. Old Shatterhands richtiger Name ist Karl. Seinen Spitznamen bekam er, als er mit bloßer Hand einen Bären tötete. Ein Schlag mit der Faust. Karl ist Landvermesser und soll eine Eisenbahnlinie durch Arizona kartografieren. Seine Auftraggeber sind gierig und so skrupellos, dass sie die Apachen gar nicht erst fragen, ob sie sich deren Land unter den Nagel reißen dürfen. Winnetou nimmt Karl und einige andere Landvermesser gefangen. Ihnen allen drohe der Tod, sagt er, es sei denn, Karl könne einen Apachenkrieger im Kampf Mann gegen Mann töten (Winnetou weiß natürlich nicht, dass er es mit einem Deutschen zu tun hat, der einen Grizzlybär mit einem einzigen Faustschlag erledigen oder einen Vogel aus einer Entfernung von 1.500 Meter abschießen kann). Old Shatterhand kämpft gegen Winnetous Vater, gewinnt, doch verschont dessen Leben. Von diesem Moment an wird Winnetou Old Shatterhands treuer Begleiter. Zusammen kämpfen sie für das Gute und gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Die Bösewichte sind die bleichgesichtigen Eisenbahnbosse – die von den Propagandisten im Dritten Reich als Juden dargestellt wurden (ja, Hitler war auch ein Fan) – oder Indianer anderer Stämme.

Ein Hauch deutscher Romantik

Dieser seichte Blödsinn fand bei den Deutschen vielleicht aus historischen Gründen Anklang. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 wanderten viele Deutsche auf der Suche nach einer freien und offenen Gesellschaft nach Texas aus. Old Shatterhands Naturverbundenheit hatte etwas vom Ideal der deutschen Romantik: Er verkörperte das von der Moderne unberührte Zeitalter von Fallenstellern und Grenzsiedlern. Und es sind die bösen Geldgeber und Protokapitalisten in Karl Mays Büchern, die diesen Garten Eden durch ihre Gier nach Gold zerstören. 

Den Nazis wiederum galt Old Shatterhands Seemannsgarn als Parabel für die Überlegenheit der Rasse (wobei sie dabei übersahen, dass Winnetou seinen bleichgesichtigen, deutschen Herren in vielerlei Hinsicht den Rang abläuft). Die ersten regulären Karl-May-Festspiele fanden zwischen 1938 und 1941 in Sachsen statt. Nach dem Krieg wurde Sachsen jedoch ein Teil der DDR und das kommunistische Regime traute Old Shatterhand nicht über den Weg. Verherrlichte der nicht etwa die imperialistischen USA? Und wie bitte sollte man Winnetous Konvertierung zum Christentum auf dem Totenbett verstehen? Old Shatterhand lässt eine besondere Version des Ave Maria spielen, als sein bester Kumpel im Sterben liegt. Noch heute treibt diese Szene den rund 350.000 Sommerbesuchern auf Pilgerfahrt in Bad Segeberg die Tränen in die Augen. Karl Mays Werke wurden unter den Kommunisten lange Zeit nicht veröffentlicht, und die Freiluftaufführungen fanden erst wieder ab 1984 statt. Also haben sowohl die Faschisten als auch die Kommunisten diese deutschen Romanhelden verkannt.

Wonach sich Frauen sehnen

Dass Karl Mays Geschichten in ein multikulturelles Umfeld eingebettet sind, sollte uns heute zum Nachdenken anregen. Den deutsch-amerikanischen Grenzsiedlern und dem dankbaren Apachen gelingt es, kulturelle Barrieren zu überwinden, um zusammen das Böse in der Welt zu bekämpfen. Der Schriftsteller Klaus Mann mag May 1940 als „großen Propheten eines falschen Messias“ verunglimpft haben, aber vielleicht waren Mays Charaktere ja einfach die Wegbereiter der Vereinten Nationen. Nichts von all dem erklärt jedoch, warum Winnetou bei deutschen Frauen so gut ankommt. Pierre Brice starb im Juni 2015, und der deutsch-türkische Schauspieler Erol Sander übernahm dessen Rolle beim Festival bis 2012. Seitdem verkörpert Jan Sosniok den Westernhelden. Brice hat sich jedoch mehr als alle anderen mit der Figur des Winnetou auseinandergesetzt. „Er ist ein Held, und zwar in allen Lebenslagen“, so Brice. „Er ist mutig und anständig, er ist großzügig und hilfsbereit. Er ist ein treuer Freund und … entschlossen, selbst sein Leben einzusetzen.” Das ist es wohl, wonach sich viele deutsche Frauen in einer Partnerschaft sehnen. Old Shatterhand hingegen erinnert sie wahrscheinlich eher an ihre Ehemänner im wahren Leben, also den Männern, die lieber Fußball schauen, als den Rasen zu mähen oder sich zu unterhalten.