Sprache und Identität
Schaufenster Enkelgeneration

Hana Filipčíková Hana Filipčíková | © Marc Bader Mit dem Projekt Schaufenster Enkelgeneration richtet das Goethe-Institut einen besonderen Fokus auf die dritte Generation der deutschsprachigen Minderheiten. Junge Tschechinnen und Tschechen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren werden gebeten, als Vertreter der „Enkelgeneration“ der deutschsprachigen Minderheiten Auskunft zu geben, welche identitätsstiftende Rolle die deutsche Sprache für sie heute noch besitzt.

Im virtuellen Schaufenster Enkelgeneration werden vier junge Tschechinnen und Tschechen vorgestellt, die exemplarisch für ihre Generation stehen. Hana Filipčíková (*1989), Ines Goschalová (*1987), Ondřej Hruška (*1982) und Sandra Kreisslová (*1981) geben Auskunft, wie sie Deutsch gelernt haben und welchen Raum die Anwendung der deutschen Sprache in ihrem heutigen Alltag einnimmt. Wie sehen diese jungen Tschechinnen und Tschechen, deren Großeltern sich selbst den deutschsprachigen Minderheiten zurechnen, die Bedeutung der deutschen Sprache für ihr eigenes Leben? Wird die eigene Mehrsprachigkeit als wertvolles Gut und als nutzbringend im heutigen Europa bewertet? Pflegten und förderten die Großeltern und Eltern dieser vier „Enkel“ bewusst deren „Sprachschatz“? Wurde die deutsche Sprache in diesen Familien an die Enkel weitergereicht? In welchen Kontexten lebt die deutsche Sprache heute noch und wo wird sie überwiegend eingesetzt?

Die im Herbst 2012 gefilmten Kurzporträts dokumentieren die ganze Bandbreite dessen, was das sprachliche Selbstverständnis junger Minderheiten-Angehöriger in der heutigen Tschechischen Republik ausmacht. Vom selbstbewussten Bekenntnis der Zugehörigkeit zur sudetendeutschen Minderheit und dem Gebrauch des Sudetendeutschen als „Familiensprache“ über eine weltoffene und grenzüberschreitende bikulturelle und bilinguale Identität bis hin zu dem Befund, dass die eigenen kulturellen und sprachlichen Wurzeln nur rudimentär erinnert werden, vertreten die Porträtierten ein breites Spektrum an individuellen Befindlichkeiten.

Die Kurzdokumentationen zeigen eindrucksvoll, wie schwer es jungen Tschechinnen und Tschechen fällt, die eigene mehrsprachige Identität zu verorten. Kulturelle und sprachliche Wurzeln setzen zwar noch den biografischen Rahmen und bieten privaten und familiären Rückhalt. Gleichzeitig belegen aber die Lebensgeschichten der vier Porträtierten, dass die dritte Generation der deutschsprachigen Minderheiten in der Tschechischen Republik in einem grenzoffenen, mehrsprachigen Europa angekommen ist und begonnen hat, sich selbstbewusst des eigenen mehrsprachigen Erbes zu vergewissern. 

Ines Goschalová mit ihrer Großmutter Ines Goschalová mit ihrer Großmutter | © Marc Bader

Wissenschaftliche Ausrichtung des Projektes


Als wissenschaftliche Kuratorin des Projektes entwickelte die tschechische Ethnologin Dr. Sandra Kreisslová einen Interviewleitfaden, der den Gesprächen mit den vier Porträtierten zugrunde liegt. In ihrer Fragestellung orientierte sich die in Prag lehrende Wissen-
schaftlerin an der biografischen Methode (Oral history). Ihre mehrstündigen Interviews mit den Porträtierten illustrieren, über welche konkreten Arten des deutschen Sprach-
bewusstseins diese Generationengruppe, die heute überwiegend auf tschechischem Sprachgebiet lebt, Auskunft geben kann.

Dr. Sandra Kreisslová, Jahrgang 1981, arbeitete in den Jahren 2010/2011 als Kulturassistentin für die deutsche Minderheit bei der Bürgerorganisation Antikomplex. Sie promovierte 2011 im Fachbereich Ethnologie der Karlsuniversität Prag mit einer Arbeit, die die Beziehung zwischen der ethnischen Identifikation und dem Sprachbewusstsein in biographischen Erzählungen deutschsprachiger Minderheiten untersucht. Sie selbst stellte sich der Befragung und gibt in einem der vier Internetporträts Auskunft über ihre persönliche, höchst facettenreiche sprachliche und kulturelle Identität.
 
 

Sprachwissenschaftliche Projektbegleitung

Wissenschaftliche Begleitung und Kommentierung findet das Projekt Schaufenster Enkelgeneration durch Frau Prof. Dr. Claudia Maria Riehl, Leiterin des Instituts für Deutsch als Fremdsprache der Ludwigs-Maximilian-Universität München. Die Sprachwissenschaftlerin, Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik mit Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache, lehrt und forscht intensiv zu Sprachvarietäten, Minderheitensprachen und Mehrsprachigkeit. In mehrwöchigen Feldforschungsaufenthalten in der Tschechischen Republik untersuchte sie die dort gesprochenen Varietäten des gesprochen Deutschen. 2008 erschien das von ihr als Mitherausgeberin betreute Standardwerk Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Ihr Hauptinteresse aus linguistischer Sicht gilt den Fragen, in welchen Kontexten und mit welchen Varietäten die dritte Generation der deutschsprachigen Minderheiten in Mittelosteuropa heute noch Deutsch spricht.Interview mit Prof. Dr. Claudia Maria Riehl
 
 

Filmische Umsetzung

Der 1975 in Bruchsal geborenen Regisseur und Filmemacher Marc Bader entwickelte das Konzept für die filmische Umsetzung der persönlichen Porträts. Als ehemaliger Student der Wiener Filmakademie und des Hamburger Audio-Visual Media Colleges konzipierte Marc Bader seine vier 3-4-minütigen Internet-
dokumentationen stilistisch in einer Weise, die ein überwiegend jugendliches, internetaffines Zielpublikum in den Blick nehmen. Durch ein hohes Maß an Emotionalität und Subjektivität in der Visualisierung der Personen wird die flüchtige Aufmerksamkeit heutiger Internetnutzer geweckt.

Marc Bader lebt und arbeitet seit mehreren Jahren als freischaffender Filmemacher und Fotograf in Prag. In einem deutsch-französischen Elternhaus bilingual aufgewachsenen, beschäftigt er sich bis heute mit der Frage nach der eigenen sprachlichen und kulturellen Identität.