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Urbane Mobilität
Die Kehrseite der Hypermobilität

Verkehr
Bild (Ausschnitt): © Colourbox

Im letzten Jahrhundert stand die Stadtentwicklung ganz im Zeichen der individuellen Mobilität, zu Lasten kollektiver Formen der Fortbewegung. Diese Hypermobilität steht am Ursprung der wegweisenden Herausforderungen der städtischen Mobilität, denen sich das 21. Jahrhundert stellen werden muss.

Von Mário Alves

Mobilität ist der Kern des Lebens. Meist ist sie jedoch mehr als reiner Selbstzweck. Um Menschen und Güter zu bewegen, ist Energie notwendig. Je schneller wir uns im Raum bewegen, desto mehr Energie benötigen wir. Bewegung und Geschwindigkeit sind also zwei Konsumgüter, die auf den ersten Blick soziale und wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Darüber hinaus sind sie aber auch Prestigegüter. Nun ist die Befriedigung (oder der Nutzen, wenn man so will), die mit einem solchen Prestigegut verbunden wird, nicht Ausdruck seines absoluten Wertes, sondern der Funktion, die es in einer Gesellschaft hat. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit der besseren Erreichbarkeit von Menschen, Gütern und Aktivitäten durch die Maximierung unserer individuellen Mobilität hat zwar offenkundige Vorteile für die Gesellschaft, ist jedoch nicht unbedingt für alle von Nutzen.

Das Auto: Paradigma des 20. jahrhunderts

Ein Grund für die Bildung von Städten ist eben diese Reduzierung der Bewegung, die notwendig ist, um die Verknüpfung zwischen Menschen und Gütern auf kleinstem Raum und ohne die Notwendigkeit, auf hohe Geschwindigkeiten zurückzugreifen, zu maximieren. Die kanonische, kompakte und hoch diversifizierte Stadt ermöglicht die Verbindung zwischen Menschen und Gütern mit niedrigem Energieaufwand. Mit der Verbreitung des Autos wurden Mobilität und Geschwindigkeit zu Prestigegütern, deren symbolischer Charakter weit über die Befriedigung von Grundbedürfnissen hinausgeht. Billige und leicht verfügbare fossile Brennstoffe verliehen ganzen Gesellschaften oder sozialen Gruppen, die Zugang zu ihnen hatten, einen enormen Wettbewerbsvorteil. Wenn wir den Tank unseres Autos mit fossilen Brennstoffen auffüllen, dann ist das vergleichbar mit der Beschäftigung mehrerer Sklaven, die zu sehr niedrigen Gehältern für uns arbeiten. Man stelle sich vor, wie viele Menschen nötig wären, um ein Auto nur einen Kilometer weit zu schieben, und schon wird klar, dass ohne den Segen fossiler Brennstoffe niemand ein Haus in den Vororten Lissabons kaufen würde, um in der Hauptstadt zu arbeiten (auch wenn der Verbrauch dieses Rohstoffs gleichsam die Lebensqualität der nächsten Generationen verpfändet).
 
Dies war der Widerspruch der Städte des 20. Jahrhunderts: Während das Raumkonzept noch aus der Zeit vor dem Automobil stammte und vor allem das Ziel der Energieersparnis verfolgte, stand diese inzwischen reichlich und billig zur Verfügung. Die Marktwirtschaft und die Verschärfung der Konsumgesellschaft führten schließlich dazu, dass die Stadtplanung immer stärker auf den Autoverkehr und die Erhöhung der Geschwindigkeit ausgerichtet wurde. Zu dieser Entwicklung trugen zahlreiche Menschen mitwissend oder unwissend bei, sogar der Verbraucher selbst in seiner Rolle als Wähler, der seinem Drang nach Prestigegütern seine politische Stimme gab.

Ein vergiftetes Erbe

Das 21. Jahrhundert erbt schizophrene Städte: historische Zentren, die zu Zeiten gewachsen sind, in denen Energie rar und teuer war, und Vorstädte, die unter der Voraussetzung gebaut wurden, dass die Mehrzahl der Einwohner ein Auto besitzt und fahren kann. Diese Art von Städten sieht sich jedoch heute mit zahlreichen Problemen konfrontiert, die sich in Zukunft noch verschärfen werden. Möglicherweise wird es mit der billigen, reichlich verfügbaren Energie aus den unterschiedlichsten Gründen (Ressourcenknappheit, Umwelt, Geopolitik) bald ein Ende haben. Gleichzeitig werden die Anforderungen an die Luftqualität und das stärkere Bewusstsein des Klimawandels zu weiteren Einschränkungen des Autoverkehrs in den Innenstädten führen. Eine Rückkehr zu dem kompakteren und diversifizierteren Stadtmodell früherer Zeiten ist deshalb nicht unwahrscheinlich. Andererseits war das Auto noch nie ein universell verfügbares Verkehrsmittel – und es ist aus Gründen der Gerechtigkeit immer problematisch, wenn ein bedeutender Anteil der Bevölkerung aus finanziellen, gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen keinen direkten Zugang zum Automobil hat, aber unter den Konsequenzen des Autoverkehrs leidet. Daher ist es legitim und wünschenswert, dass die Politik die Reduzierung der Nutzung des Automobils fördert.

Die Stadt des 21. Jahrhundert

Die Stadt, die vor den Zeiten des billigen Öls gebaut wurde, kann sich leichter an knappe Energieressourcen anpassen. Die sogenannte traditionelle Stadt ist kompakt und gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu durchqueren und wird nur die vom Erfolg verursachten Probleme bewältigen müssen: Gentrifizierung, Massentourismus, „Disneyfizierung“. Doch das Paradigma der nachhaltigen Mobilität trägt sie in ihrer DNA – die schmalen Straßen, ihre funktionelle und morphologische Vielseitigkeit. Städte wie Kopenhagen, Zürich oder Barcelona haben in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte in der Rückgängigmachung der Folgen exzessiven Autoverkehrs gemacht: komfortable und sichere Bereiche für Fußgänger, Berücksichtigung der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer bei der Straßenplanung (insbesondere Fußgänger und Radfahrer), große Investitionen in die öffentlichen Nahverkehrsnetze und die Wiederkehr der Stadtviertel als Ort der Vielfalt und Demokratie.
 
Die größten Veränderungen werden jedoch die im letzten Jahrhundert entstandenen Vorstädte erfahren. Voraussichtlich werden es schmerzhafte Veränderungen sein. Angesichts der Notwendigkeit, ihren Lebensstil zu ändern, werden die dort lebenden Familien Widerstand leisten. Viele davon könnten in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale geraten, die im schlimmsten Fall bis zum Bankrott führt; Demonstrationen sind zu erwarten. In diesen aus dem Versprechen billiger Energie entstandenen urbanen Ozeanen liegt die größte Herausforderung, aber hier ist auch Platz für überraschende Lösungen: Unzählige Menschen werden kreativ darüber nachdenken, wie man aus der von uns geschaffenen Energiefalle wieder herausfinden kann, in der es so einfach und billig war, mit dem eigenen Wagen täglich zwei Stunden zur Arbeit zu fahren.
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