Das Aus für die Große Koalition
Special „Wahlen in Deutschland“

Berlin – Reichstag
© Pixabay

Vierte Kanzlerschaft für Angela Merkel, aber Aus für die Ära der Großen Koalition. Die extreme Rechte erstmals im Bundestag.

Gewinnen wird Angela Merkel. Gewinnen wird die CDU, die Christlich-Demokratische Union. Wie bei einem Sportevent, bei dem der große Champion gegen Kontrahenten antritt, die als nicht unbedingt ebenbürtig gelten, schien hinsichtlich der deutschen Wahlen am 24. September alles bereits entschieden. Ein Rennen mit leicht vorhersehbarem Ausgang, bei dem sich das Interesse der Zuseher und Kommentatoren allein darauf hätte konzentrieren sollen, wie weit die Kontrahenten letztlich auseinander liegen würden. Aber nicht immer ist Politik so einfach.

Drei Tage vor den Wahlen in Deutschland eröffnet das Goethe-Institut die neue Saison der Diskussionsreihe Auf dem grünen Sofa. Die ersten Gäste sind Michael Braun, Italien-Korrespondent der Berliner Die Tageszeitung sowie Autor von Mutti: Angela Merkel spiegata agli italiani (erschienen bei Laterza), und Roberto Brunelli, Journalist der italienischen Tageszeitung La Repubblica sowie Autor von Angela Merkel. La Sfinge (erschienen bei Imprimatur). Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam mit Moderator Jacopo Zanchini vom italienischen Wochenmagazin Internazionale das Umfeld zu klären, in dem diese Wahlen stattfinden. Darüber hinaus sollen sie, und diese Aufgabe ist schon deutlich schwieriger, analysieren, ob überhaupt noch Überraschungen möglich sind – angesichts einer politischen und sozialen Lage in Deutschland, in die, wie Zanchini zu Beginn der Diskussion festhält, „nun Bewegung geraten ist und die deutlich unruhiger sein dürfte, als sich bei oberflächlicher Betrachtung erkennen lässt.“

Koalitionsbildung

Michael Braun erinnert in Bezug auf Merkel an die Macht der Umfragen, die manchmal auch trügerisch sein kann, und definiert umgehend einen möglichen „Nicht-Sieg“ der Christdemokraten nicht nur als Desaster für die Meinungsforscher, sondern auch als echtes Wunder. Doch dem fügt er eine weitere Variable hinzu, die in vielen Punkten zum Nachdenken anregt.

„Den letzten Erhebungen zufolge“, so Braun, „kommt die CDU mit einem leichten Rückgang auf 36% und die SPD auf 22/23%. Wenn es demnach als gesichert gilt, dass Merkel wieder Kanzlerin wird, dann stellt sich die Frage, mit wem sie regieren wird, denn alles andere als gesichert ist der allgemeine Ausgang der Wahlen. In erster Linie ist daher abzuwarten, ob die CDU, die bei den vergangenen Wahlen bei 41,5% lag, als glanzvolle oder glanzlose Gewinnerin aus dem Rennen hervorgeht. Wenn sie nicht mehr als 33 oder 34% schafft, wäre das für die Christdemokraten ein starkes Alarmsignal. Das Selbe gilt für die SPD, die zwar voraussichtlich Zweite wird, aber ebenfalls als glanzvolle oder glanzlose Verliererin dastehen kann. Vor vier Jahren lag die SPD bei 25,7%, wenn sie unter 20%, ihren historisch tiefsten Wert rutscht, ist das eine klare Niederlage. Ein Ergebnis von 25% wäre in Anbetracht der aktuellen Situation ein kleiner moralischer Sieg für ihren Vorsitzenden Martin Schulz.“

Doch auch wenn für den Einzug in den Bundestag eine relativ strenge Hürde von 5% gilt, umfasst das politische Spektrum Deutschlands mehr als nur die beiden Großparteien CDU und SPD. „Wir haben vier weitere Parteien, die sicher einziehen werden“, setzt Braun fort. „Die Grünen, die Linke und die FDP werden nach dem Aussetzen einer Legislaturperiode wieder zurückkehren und die rechtsextreme AfD (Alternative für Deutschland) wird das erste Mal in den Bundestag einziehen. All diese Parteien liegen in den Vorhersagen zwischen 7 und 11–12%, und auch hier wird die endgültige Reihung besonders interessant, mit einer AfD, die durchaus Dritte werden könnte. Auch die Liberalen könnten belohnt werden. Sie haben einen jungen Vorsitzenden, der sich als Mini-Macron gebärdet, und sie haben eine überaus effektive Wahlkampagne gefahren. Wer hingegen ziemlich hinterherhinkt, sind die Grünen, die in einigen Umfragen gar bei nur 7% liegen. Die Grünen selbst machen dafür das Problem der künftigen Koalitionsvarianten verantwortlich, da ihre Wählergruppe in diesem Punkt alles andere als einer Meinung ist.“

Martin Schulz, ein Mann, gegen Angela Merkel, eine Ikone

Zanchini macht zudem auf einen weiteren Punkt aufmerksam, der noch unklar ist. Er betrifft, angesichts deren Umfragewerte, die Widerstandsfähigkeit der Sozialdemokraten. „Der Wahlkampf hat anders begonnen“, meint er. „Im Januar sahen die Umfragen Schulz noch in Führung, wenige Monate später ist dieses Kapital wieder verloren und die deutsche Politik kehrt zurück ihrem Status quo seit 12 Jahren, mit der großen, dominierenden Figur Angela Merkel. Was ist da passiert?“
Auf diese Frage gibt Roberto Brunelli eine relativ deutliche Antwort: „Das Klima innerhalb der SPD ist im Moment wirklich sehr schlecht. Es herrscht beinahe Panikstimmung und auch der Fall Schulz ist sehr interessant. Wir hatten hier eine Partei, die im Großteil die selben Prozentzahlen hatte wie jetzt, zwischen 23 und 24%, dann wird Schulz anstelle von Gabriel nominiert und es kommt sofort zum Boom. Zunächst scheint er auch die richtigen Themen anzusprechen und vermittelt damit das Gefühl, das schlafende Potenzial der SPD sei sehr hoch, oder zumindest deutlich höher als die aktuelle Parteibasis. In den Umfragen überholt er Merkel, dann bricht plötzlich alles zusammen – angefangen bei den Wahlen im Saarland, dann bei den Urnengängen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Mit der SPD und Schulz in einer eindeutigen Abwärtsspirale.“

Aber nicht alles ist, laut Brunelli, die Schuld von Schulz und der SPD. „Man muss festhalten, dass der Kampf zwischen Schulz und Merkel ein Kampf zwischen ungleichen Gegnern ist. Schulz ist ein einfacher Mann, Merkel eine Ikone. Das sehen wir auch, wenn wir die entsprechenden Wahlplakate vergleichen. Auf denen von Merkel steht nicht einmal ihr Name, zu sehen ist nur ihr Gesicht und ein Datum, der 24. September 2017, der Tag der Wahl. Mehr gibt es nicht zu sagen. Merkel ist eine so große Ikone, dass sie gar nicht erst eine Kampagne bestritten hat, das hat sie nicht nötig. Ihre Wahlreden hat sie zwar gehalten, doch ohne dabei etwas zu sagen, abgesehen von ihrer grundsätzlichen Botschaft ‚alles ist gut‘. Klar, diese Art von Botschaft trifft den klassischen Nerv der Deutschen, entspricht ihrem Bedürfnis nach Stabilität, von dieser Botschaft fühlt sich das Land beruhigt. Und was die Grünen betrifft“, schließt Brunelli, „so werden viele Wähler dieser Partei, vor allem Frauen, für Merkel stimmen, weil sie in ihr dank ihres soliden Rufs auf internationaler Ebene den einzigen ernstzunehmenden Gegenpol zu den Wahnvorstellungen von Trump in puncto Klima und Umwelt sehen.“

Vier Parteien und eine breite Mitte

Doch neben der Stärke Angela Merkels, die im Gegensatz zur vermeintlichen Schwäche von Schulz steht, weist Zanchini auf einen weiteren Faktor hin, nämlich den der breiten deutschen Mitte, die sich immer mehr etabliert. In dem Sinn, dass es Schulz nicht gelungen ist, ernstzunehmend gegen Merkel Kampagne zu betreiben, weil er letztlich mit Merkel in der Regierung sitzt.

„Die SPD hat im Wahlkampf zweifellos Fehler gemacht“, merkt Braun an. „Sie hat ihn nie mit entsprechender Entschlossenheit geführt, hat in den verschiedenen Themen nie entschieden Position bezogen und Merkel nie direkt attackiert. In einer TV-Debatte hat sich Schulz praktisch dafür entschuldigt, zu hart gegen sie gewesen zu sein. Alles in allem hat sich die SPD damit nicht als klare Alternative zu Merkel positioniert. Der Kanzlerin hingegen ist es gelungen, Kompromisse einzugehen, ohne an Popularität zu verlieren. Wie zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode in der Frage um einen flächendeckenden Mindestlohn, der eine Forderung der SPD war. In der Regierung kam es in Folge zu keinen harten Konfrontationen und der SPD ist es nicht gelungen, sich abzugrenzen. Alles in allem zeigt sich im politischen Spektrum damit eine starke Mitte, bestehend aus vier Parteien – auch wenn diese nicht alle identisch sind oder dieselben Positionen vertreten. Außerdem müsste man herausfinden, ob der anfängliche Schulz-Boom, den wir zuvor angesprochen haben, auch von den Unentschlossenen oder den mit Merkel Unzufriedenen getragen wurde. Denn die gibt es und nicht alle fühlen sich – aus unterschiedlichen Gründen – wohl damit, ihre Stimme der rechtsextremen AfD anzuvertrauen.“

Rückt der Bundestag nach Rechts?

Und wenn nun diese tatsächlich oder vermeintlich „starke Mitte“ in Deutschland kurz vor einem Rechtsruck des Bundestags steht? Das fragt sich Zanchini und gibt die Frage an seine Gäste weiter, wobei er, fast schon paradoxerweise, auf die politischen Fähigkeiten und Begabungen Angela Merkels und den sicheren Wahlerfolg ausgerechnet der AfD verweist.
„Merkel ist ein außergewöhnliches Politik-Talent“, meint Zanchini. „Ihr ist es gelungen, sich im Laufe der Jahre die Themen aller anderen Parteien zu eigen zu machen und eine Politik zu betreiben, die sich schwer als mitte-rechts oder konservativ definieren lässt. Insbesondere in gewissen Themenbereichen wie der Atomenergie, der Homo-Ehe oder der Migrationspolitik, in denen häufig sie das Zugpferd der Partei ist. Letzten Endes könnten diese so ‚fortschrittlichen‘ Entscheidungen Merkels dazu führen, dass der Bundestag allgemein weiter nach rechts rückt. Mit einer extremen Rechten bei 12%, der CDU als erster Partei und den Liberalen nicht nur an dritter oder vierter Stelle, sondern zudem mit einer Führung, die weiter rechts steht als die vorherige. Die linken Parteien werden hingegen entsprechend schrumpfen. Weht der Wind am Ende der dritten Kanzlerschaft Merkels also nach rechts?“
„Merkel ist politisch jedenfalls sehr wandelbar“, antwortet Braun. „Sie hat den Pragmatismus, wir könnten auch sagen den Opportunismus, zu ihrem markantesten Merkmal gemacht und ändert auch häufig ihre Entscheidungen. Das berühmteste Beispiel ist der Ausstieg aus der Atomkraft, bei dem sie Fehler gemacht hat, die nie jemand laut angesprochen hat, auch nicht während des Wahlkampfs. Ob der Bundestag nach rechts rückt ist eine gute Frage. Der Punkt ist, dass die CDU ihrerseits ein wenig nach links gerückt ist, indem sie nach und nach einige ihrer konservativeren traditionellen Werte aufgegeben hat – auch dank Merkel selbst, die mit vielen Dingen in ihrer Partei ein für alle Mal aufgeräumt hat. In Wirklichkeit halten sich einige Positionen, auch fremdenfeindliche, in der deutschen Gesellschaft aber stabil und liegen immer etwa bei 20%. Genauso wie vor zehn Jahren, nur dass es der AfD diesmal gelungen ist, eine gewisse Wählerschicht anzusprechen, indem sie ein fundiertes politisches Angebot geschaffen hat, wodurch sich übrigens auch die Wahlbeteiligung erhöht.“

Deutschlands Rolle in Europa wird sich nicht ändern

Abschließendes Thema in der Diskussion sind die Beziehungen Deutschlands zu Europa. Die Frage Zanchinis dazu ist simpel. Können diese Wahlen die Rolle Deutschlands in Europa ändern? Laut Braun kommt es jedenfalls sicher zu keinen radikalen Veränderungen. „Natürlich hängt das von der Koalition ab“, meint er. „Eine Sache ist es, wenn die Liberalen dabei sind, die viel strenger sind, wenn es um die Einhaltung der in den Verträgen vereinbarten Positionen geht. Eine weitere große Koalition würde hingegen bedeuten, dass die aktuelle Europapolitik grundsätzlich so fortgeführt wird wie bisher, einschließlich der aktuellen Zugeständnisse im Sinne der Flexibilität.“ Laut Brunelli hingegen stellt sich vielmehr die Frage, ob sich Deutschland seine wirtschaftliche Position als „Insel der Glückseligen“ noch erlauben kann, wenn zeitgleich in anderen Ländern die traditionellen politischen Kräfte vom Populismus zerrieben werden. „Es bleibt abzuwarten“, schließt er, „wer Finanzminister wird; ein Amt, auf das im Wahlkampf von allen Parteien Anspruch erhoben wurde. Es bleibt abzuwarten, ob noch einmal der aktuelle Minister, Schäuble, zum Zug kommt.“

Prognosen: Angela Merkel und die CDU gewinnen, doch EU-Skepsis und Fremdenfeindlichkeit nehmen weiter zu

Letztlich ist es das von Michael Braun beschriebene, schlimmste Szenario, das nun Realität wird und die berühmte deutsche Regierungsfähigkeit in Gefahr bringt. Merkel gewinnt tatsächlich, aber es ist kein glanzvoller Sieg für sie und die CDU, wie schon von Braun befürchtet. Schlimmer noch, die CDU verliert stark an Zustimmung und Parlamentssitzen. Und nicht nur die CDU fährt einen glanzlosen Sieg ein, auch die SPD verliert stark, rutscht auf einen historischen Tiefstand und geht in Opposition. Das erklärt Vorsitzender Schulz unmittelbar nach Wahlschluss und löst damit de facto die Große Koalition auf, die während der letzten Legislaturperiode in Deutschland an der Regierung war. Aber die brisanteste Nachricht, obwohl allgemein vorhergesagt, betrifft den erstmaligen Einzug einer rechtsextremen Partei in den Bundestag, der AfD, die laut Hochrechnungen auf beachtliche 13% kommt. Die Linke und die Grünen halten sich grundsätzlich stabil, während die liberale FDP ein gutes Resultat erzielt und, ebenfalls wie vorhergesehen, nach vier Jahren wieder ins Parlament zurückkehrt.

Nun, mit der SPD in Opposition, scheint die einzig mögliche Variante die so genannte Jamaika-Koalition zwischen CDU, FDP und Grünen. Die ist hinsichtlich ihres Streitpotenzials und ihrer Stabilität allerdings stark gefürchtet, vertreten die letzten beiden Parteien in vielen Themen doch unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Standpunkte, angefangen etwa bei der Europa-Frage.