Der neunte Tag

Regie: Volker Schlöndorff
Deutschland 2004, 97 Min.

Der neunte Tag © Goethe-Institut Täglich muss sich Henri Kremer bei Gebhardt, dem Gestapo-Chef von Luxemburg, melden, und Schritt für Schritt erfährt er, weshalb man ihn nach Hause geholt hatte: Er soll dafür sorgen, dass sein Bischof eine vorgefertigte Erklärung für Hitlers Kirchenpolitik unterzeichnet. Der Bischof indes denkt, anders als sein opportunistischer Bistums-Sekretär, nicht daran, sich den Nazis zu unterwerfen und weigert sich lange, Kremer überhaupt zu empfangen. Gebhardt, der einst selbst Priester werden wollte und es bis zum Diakon gebracht hatte, versucht, Henri in theologische Diskussionen zu verwickeln, vor allem über die Rolle des biblischen Judas, der entscheidend zur Erfüllung des göttlichen Heilsplans beigetragen hätte. "Sie und ich", sagt der Gestapo-Chef zu seinem Kontrahenten, "sind Brüder im Geiste". Als Gebhardt nicht mehr an die Kollaboration des Bischofs glaubt, fordert er den Abbé auf, selbst eine Erklärung im Sinne der Nazis zu verfassen. Der Priester wird endlich zum Bischof vorgelassen, doch der kann oder will ihm in seiner Not und Ratlosigkeit keinen Rat geben. Schließlich überbringt Henri Kremer der Gestapo seine Botschaft - ein unbeschriebenes Blatt. Gebhardt richtet seine Waffe auf den Abbé, doch der verlässt ruhig den Raum. Am neunten Tag kehrt er zurück ins Konzentrationslager Dachau. Im Abspann heißt es, Henri Kremer habe das KZ überlebt.

Ausgangspunkt für Der neunte Tag war das Tagebuch des Priesters Jean Bernard, der - neben rund 3000 anderen Geistlichen - im "Pfarrerblock 25487" von Dachau inhaftiert war; seine Haft wurde tatsächlich von einem "Urlaub" in seiner Heimat Luxemburg unterbrochen; wie es dazu kam und was in dieser Zeit mit ihm geschah, ist heute nicht mehr zu ermitteln - genau diese Lücke gibt der Fiktion des Drehbuchs ihren Raum. "Mir war sehr daran gelegen, herauszuarbeiten, dass die Kirche im Dritten Reich Politik gemacht hat, die auch auf dem Rücken der Priester ausgetragen wurde. Das war ein sehr wichtiger Punkt. Des Weiteren hatte ich das Bedürfnis, die Rolle des Gestapochefs Gebhardt zu stärken. Der Priester, dem wir in diesem Film begegnen, ist ein Mann, der von Anfang an aufgrund seines Gewissens, Kraft seines Glaubens, eine große Autorität hat. Um diese Autorität in Frage zu stellen, zu erschüttern, braucht es jemanden, der mit aller Raffinesse und mit sehr starkem Intellekt vorgeht." (Andreas Pflüger)

Gebhardt, der Henri zum Judas machen will, erscheint zunehmend als Verführer, als "Versucher" fast im biblischen Sinn. Immer wieder versucht er, den Priester auf seine Seite zu bringen, ihn zu korrumpieren, egal ob mit Drinks, Zigaretten, Pralinen oder mit Argumenten. Er bezeichnet den von den Nazis begonnenen Krieg als "Kreuzzug" gegen die Gottlosigkeit der Bolschewisten und meint, er könne als Christ seinen Antisemitismus rechtfertigen: "Jesus war auch ein Jude, aber einer, der bemüht war, das Judentum in sich zu überwinden." Dabei muss er selbst genau wissen, was in den Konzentrationslagern geschieht - und ignoriert doch die grausamen Erfahrungen, die Henri Kremer in Dachau gemacht hat. Auch der Bistumssekretär ist so ein Verführer, der hartnäckig an der Meinung festhält, der Papst würde sich mit den Nazis nur deshalb zu arrangieren versuchen, um noch schlimmere Opfer zu verhindern. Henri Kremer aber fühlt sich ohnehin schon schuldig - schuldig, weil er im KZ ein tropfendes Wasserrohr entdeckt und daraus getrunken hatte, ohne seine dürstenden Leidensgenossen davon zu informieren. Andreas Pflüger verweist auf das Schuldgefühl der Überlebenden des Holocaust: "Ein Schuldgefühl, überlebt zu haben". Das Motiv des heimlich gefundenen und getrunkenen Wassers hat der Drehbuchautor den Erinnerungen des Autors Primo Levi an seine Haft in Auschwitz entlehnt.

Dieses Schuldgefühl treibt Henri Kremer um, verfolgt ihn bis in seine Alpträume und macht ihn doch widerstandsfähiger gegen Gebhardts Verlockungen. Volker Schlöndorff blendet während des neuntägigen Urlaubs seines Protagonisten immer wieder zurück zu dessen Erfahrungen im Konzentrationslager und macht gleichzeitig deutlich, was von den Versprechungen der Nazis zu halten ist. Der Bistumssekretär erklärt, Hitler habe auf Bitten des Heiligen Vaters einer Vorzugsbehandlung der inhaftierten Priester zugestimmt. Wie zynisch dies funktionierte, zeigt der Regisseur sofort: Den Häftlingen in der Baracke wird Wein in ihre Blechnäpfe gegossen und das Kommando zugebrüllt: "Aussaufen!"

Tatsächlich spielte die katholische Kirche während der NS-Zeit eine widersprüchliche Rolle. 1933 hatte der Vatikan mit dem "Reichskonkordat" ein Abkommen mit dem deutschen Reich geschlossen, das der Kirche zwar religiöse Freiheiten sichern sollte, aber jedes politische Engagement zu verhindern versuchte und den Widerstand der deutschen Bischöfe gegen Hitler lahmlegte. Im Hintergrund stand dabei auch die im Film angesprochene Angst Roms vor dem Kommunismus. 1937 rief zwar Papst Pius XI in einer Enzyklika zum Widerstand gegen "Götzenkult von Rasse und Volk, Staat und Staatsform" auf; sein 1939 gewählter Nachfolger Pius XII. indes hielt sich strikt an einen neutralen Kurs und vermied jede klare Stellungnahme gegen die Judenverfolgung.

Der offiziellen Haltung des Vatikans standen jedoch viele einzelne Priester gegenüber, die Widerstand leisteten, ihr Leben aufs Spiel setzten, inhaftiert und teilweise auch hingerichtet wurden. Volker Schlöndorff sieht in diesem Konflikt nicht nur eine geschichtliche, sondern auch eine hochmoderne Dimension: "Das Individuum ist für sich selbst verantwortlich. Henri kann sich nicht hinter der Kirche verstecken, nicht hinter einem Gesetz, nicht hinter Vater Staat! Er muss alleine entscheiden... Es ist ein klassisches Drama, das man auch losgelöst vom historischen Hintergrund sehen kann... Henri merkt, er ist mit sich und seinem Gewissen allein. Das Gewissen, das ist ja auch der Glaube. Das ist jenseits von Religion und Existenzialismus und allem, was wir seit dem Zweiten Weltkrieg an Schuld-und-Sühne-Fragen durchgemacht haben: Eine so klare Frage, die sich immer wieder stellt und einen zurückwirft auf den Humanismus. Was ist Anstand? Danach muss ich mich entscheiden - das ist einfach großartig. Das Absolute ist dem Menschen nicht gegeben, das weiß dieser Priester, aber mit seinem Glauben kann er zu einer Entscheidung kommen. Ich wollte aber überhaupt nicht, dass das diskutiert wird, sondern dass der Zuschauer das spürt. Man kann dies nicht in Worte fassen!" So erklärt Henri Kremer dem Gestapochef: "Da, wo ich herkomme, gibt es keinen Gott!" Und dennoch kehrt er freiwillig dorthin zurück.

Hans Günther Pflaum