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Berlinale 2021
Die Besonderheiten nationaler Fischerei

"Tzarevna Scaling" von Juldus Bachtiosina
© Juldus Bachtiosina

In der Sektion „Forum“ des Berliner Filmfestivals hebt sich „Doch rybaka“, ein slawisches Fashion-Märchen mit sowjetischer Ausgestaltung, deutlich von den anderen Filmen ab. Junge Frauen aus dem aktuellen Russland bemühen sich im Film, etwas über ihre Zukunft zu erfahren, indem sie die folkloristische Vergangenheit des Landes dekonstruieren. Wem ist es vorbestimmt, die Schwanenprinzessin zu sein, die Prinzessin, die nicht lachen wollte oder die Froschprinzessin?

Von Egor Moskvitin

Uldus Bakhtiozina ist Debütantin im Bereich Spielfilm-Regie, aber Veteranin der Fotografie. Ihre Bilder, die stereotype Motive auf den Kopf stellen, wurden von der italienischen Voguе und für Gucci-Kampagnen verwendet. Und ihr Interesse daran, wie nationale Märchen und Folklore dynamische Stereotypen moderner Menschen mitbestimmen, machte Bakhtiozina 2014 zur ersten russischen Vortragenden der Geschichte der TED-Konferenz in Vancouver. Erfahrungen mit Video Art hatte Bakhtiozina vor ihrem Debüt ebenfalls schon gesammelt. Ein skurriler Kurzfilm und Clips, unter anderem für die Gruppe „Mumi Troll“, sind im Internet frei zugänglich. Doch selbst wenn man sich diese Filme anschaut, hat man keinerlei Vorstellung von der Reise, auf die „Doch rybaka“ sein Publikum mitnimmt.

Polina ist eine vornehme junge Frau, die unter chronischer Schlaflosigkeit und unerwiderter Liebe leidet. Gemeinsam mit einer ihr zugetanen – alle Stiefmütter aus europäischen Märchen in den Schatten stellenden – Vorgesetzten handelt sie in einem Kiosk am Ufer der Newa mit Fischen. Das christliche Symbol erfreut sich keiner hohen Nachfrage, doch eine Käuferin – eine exzentrische alte Dame, die leicht von der Autorin Ljudmila Petruschewskaja hätte gespielt werden können – findet sich doch. Dankbar schenkt sie Polina einen Zaubertee, der ihr den Schlaf zurückbringt. Doch das Mädchen erwacht an einem wunderlichen Ort, nämlich einer Art sowjetischer bürokratischen Anstalt, in der junge Leute auf die Rolle von Märchenprinzessinnen vorbereitet werden. Nun muss sie durchlaufen, was im russischen Bildungssystem „Berufsorientierung“ genannt wird – also Prüfungen ablegen und herausfinden, welche Märchenprinzessin ihr als Rolle vorbestimmt ist.

Die Dekorationen, Kostüme und Bilder des Films sind einfach unbeschreiblich. Bakhtiozina selbst sagt, dass sie sich von den Filmen Renata Litvinovovas hat inspirieren lassen. Doch ihr Märchen hat mit denen Litvinovovas ungefähr genauso viel gemeinsam wie die Hits der Sängerinnen Monetochka und Grechka mit den Schlagern von Zemfira. Der letzte (kalte und verschlafene) Film von Litvinovova heißt „The Northwind“. Die unglaubliche Energie Bakhtiozinas wirkt vor diesem Hintergrund wie ein wahrer „South Stream“.

Der Wunsch, in der folkloristischen Vergangenheit eine Antwort auf die Frage zu finden, was in der Gegenwart aus uns werden wird, ist für die russische Kultur fast schon ein Fetisch. Die Bücher „Morphologie des Märchens“ und „Der Weg in das ferne Königreich” sind philosophische Untersuchungen von Basisnarrativen, die wir bis heute sowohl im Alltagsleben als auch im Rahmen künstlerischer Motivik reproduzieren. Der ehemalige Kultusminister Russlands lobte seinerzeit Monographien, in denen stereotype Mythen über das russische Volk entlarvt werden – etwa in Punkto Faulheit, Trunksucht und Leidensfähigkeit. Auch der vom ganzen Land geliebte Film „Charodei“ („Zauberer“) – sowie die ihm zugrunde liegenden Texte der fantastischen Strugazki-Brüder – ließ sowjetische Bürger*innen mit Märchenfiguren interagieren und verspottete zärtlich unseren unauslöschlichen Glauben an Wunder. Und dann gibt es noch das wilde Filmmärchen „Land of Oz“ von Wassilij Sigarew, in dem die Figuren durch die Verfolgung zauberhafter Motive in einer Sackgasse der Selbstzerstörung landen. Den Ausweg aus diesem Labyrinth kann nur noch ein Betrunkener finden.

Aber „Doch rybaka“ ist ein Erzeugnis einer völlig anderen Epoche, und man möchte seine Protagonist*innen mit völlig anderen Personen königlichen Blutes vergleichen. In erster Linie mit dem Roman „Der Prinz von Minplan” von Viktor Pelevin aus dem Jahr 1991, in dem ein junger Programmierer aus einem bereits von niemandem mehr gebrauchten sowjetischen Planungsamt an frühen Computerspielen scheitert. Die sinnlose Realität wird ausgelöscht, und Bilder der neuen – digitalen – Zeit treten immer klarer hervor. Der Glaube daran, selbst ein Prinz zu sein, der die Tochter des Sultans retten muss, verleiht dem eingefrorenen Leben eine noble Motivik.

Andere Königstöchter, um die man im Gespräch über „Doch rybaka“ nicht herumkommt, entstammen dem ganzen Pantheon an Prinzessinnen aus den Zeichentrickfilmen von Walt Disney. Jede von ihnen ist einzigartig, doch alle sind sie vereint durch eine plausible Lebensstrategie. Wenn diese Strategie in den frühen Zeichentrickfilmen des US-amerikanischen Studios noch darin bestand, in Erwartung des Prinzen einer bescheidenen und emsigen Arbeit nachzugehen, so erfuhren die Prinzessinnen der letzten Jahrzehnte eine wahre Emanzipation. Ihr Schicksal ist nun die Heldentat und auch wenn sie diese nominal noch im Namen anderer verüben, so ist sie doch in erster Linie den Heldinnen selbst von Nutzen. In jedem Zeichentrickfilm lehnen sie sich gegen das Schicksal auf, das ihre Eltern (falls diese noch leben – Disney steht ja auf Waisen) für sie bestimmt haben, entfliehen der berüchtigten Komfortzone und machen sich auf die Suche nach sich selbst. Sobald sie sich dann selbstverwirklich haben, retten sie ihre Familien. Romantische Gefühle sind bei diesen Abenteuern ein angenehmer, aber nicht obligatorischer Bonus. Der Hauptgewinn ist und bleibt es, sich selbst zu finden.

In „Doch rybaka“ wird ebenfalls ein ganzes „Multiversum“ an slawischen Prinzessinnen bemüht – wie man allerdings in Russland leben und gleichzeitig glücklich sein soll, kann uns keine von ihnen sagen, weil in diesem Märchen aber auch wirklich alles aus den Fugen gerät. Abgesehen von seinen folkloristischen Motiven und der sowjetischen Alltagswelt rund um die Hauptfigur wird der ganze Film von absurder Reklame („Positiv denken!“) und witzigen, aber eigentlich beängstigenden firmeneigenen pädagogischen Stimmen erdrückt („Du arbeitest auf dem Gebiet der Konkurrenz!”). Auf dem feierlich gedeckten Tisch sehen wir Austern und Salat Olivier. Unter den russischen traditionellen Kopfbedeckungen blitzen Sturmhauben à la Pussy Riot hervor. Die slawischen Beine stecken in italienischen Stiefeln. 

Die erste Bewährungsprobe, die unsere Heldin zu bewältigen hat, treibt selbst die abgeklärtesten Zuschauer*innen in die Enge. Das Mädchen muss es unbedingt in ein heißersehntes Büro schaffen, welches aber von einer gleichgültigen Sekretärin bewacht wird. Ein Dutzend anderer potenzieller Königstöchter wartet dort, bis sie an der Reihe sind. Was also soll die Heldin tun – abwarten, bis ihre Zeit gekommen ist, die Wachfrau mit Geld schmieren, ihre Sprachfertigkeit unter Beweis stellen, auf die Tränendrüse drücken oder ihre Kraft und Cleverness einsetzen? Man sollte meinen, dass in der zivilisierten Welt die Drehbuch-Entscheidung für das Problem nur genau eine sein könnte: sich in die Schlange zu stellen. Doch im russischen Sujet muss man einfach viel zu viele Faktoren mit einbeziehen – auch die Erfahrung mit den Systemen von Arroganz in staatlichen Stellen, die Gewohnheit, für die eigenen Ressourcen zu kämpfen, für Ressourcen, die eben nie für alle reichen; und die Logik des Märchens selbst, einer Welt, die nur dafür existiert, dass sie um die Hauptfigur kreist. So schwirrt einem von den möglichen Entwicklungsvarianten der Ereignisse im russischen Königreich – im Unterschied zu dem Disneys – einfach nur der Kopf. Wie soll man da nicht seinen Kopfschmuck hinschmeißen?

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