29. Juni 2015
Parlamentarisches Sommerfest des Goethe-Instituts in Berlin

Begrüßungsrede des Präsidenten

Zunächst eine Geschichte von Henning Mankell – gekürzt.

„Er hieß José, wurde aber immer nur Zé genannt. Er wohnte mit seiner Frau Maria in Boane, zwanzig Kilometer von Maputo entfernt, an der Straße, die nach Südafrika führt.

Zé machte sich jedoch nichts aus Landstraßen und Autos. Sein Leben gehörte der Eisenbahn. Viele Jahre war es seine Aufgabe gewesen, an einem kleinen Bahnübergang zwischen zwei Dörfern mit seiner roten Flagge vor den Zügen zu warnen.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Zé. »Ich bin alt. Die Züge fahren nicht mehr. Ich kann die Jahre, die mir noch bleiben, dazu nutzen, durchs Land zu ziehen und all die Traditionen zu sammeln, die bald vergessen sein werden.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Mestre Afonse. »In der Stadt gibt es mehrere große Häuser, in denen Europäer sitzen und Geld verteilen, damit unser Leben besser wird. Sprich mit denen. Sie helfen dir bestimmt.«

Zé reiste einige Tage später in die Stadt, fand das Büro und traf Martin dort.

Zé erklärte, weshalb er gekommen war. Er beschrieb seine Sorge darüber, dass alle Traditionen im Begriff waren zu verschwinden, und erzählte von der Idee, die ihm gekommen war: durchs Land zu reisen und die Reste all dieser sterbenden Traditionen einzusammeln, bevor sie ganz verschwunden waren.

»Das hört sich nach einer hervorragenden Idee an«, sagte Martin, nachdem Zé geendet hatte. »Ein ausgezeichnetes kulturelles und soziologisches Projekt.«

Zé wusste nicht, was ein Projekt war. Aber er glaubte zu verstehen, dass Martin seiner Idee wohlwollend gegenüberstand.

»Ich kann dir helfen, einen Projektantrag zu stellen«, sagte Martin. »Sag mir nur, wie viel Geld du dir vorgestellt hast.«

»Fünfzig Dollar«, sagte Zé, der wusste, dass man immer von Dollar redete, wenn man mit Weißen Geschäfte machte.
Martin lächelte.

»Ich habe nicht verstanden«, sagte er.

»Fünfzig Dollar.«

»Fünfzig Dollar?«

»Ja?«

»Ist das nicht viel zu wenig?«

»Ich brauche nicht mehr.«

»Wir können keine Projektförderung von fünfzig Dollar geben.«

»Warum denn nicht?«

»So billige Projekte gibt es nicht.«

»Ich brauche nicht mehr als fünfzig Dollar.«

»Wir geben nie weniger als fünftausend Dollar.«

»Aber ich brauche wirklich nicht mehr als fünfzig Dollar.«

»Wofür willst du sie verwenden?«

»Ich brauche ein Paar ordentliche Schuhe, um durch dieses weite Land wandern zu können.«

»Ein Paar Schuhe?«

»Ja. Richtige Lederschuhe. Ich glaube, meine Füße können so lange Strecken nicht mehr barfuß gehen.«

»Aber du benötigst eine ordentliche Ausrüstung, wenn du deine Idee verwirklichen willst. Du musst irgendwo wohnen, du musst essen, du wirst eine Schreibausrüstung, einen Computer, eine Kamera brauchen. Und Lohn sollst du doch auch bekommen?«

»Nein«, sagte Zé nur. »Ich möchte nur Hilfe, um mir ein Paar Schuhe kaufen zu können. Den Rest schaffe ich allein.«

Zé hatte nichts mehr zu sagen. Martin saß schweigend da. Dann teilte er ihm mit, dass es leider nicht möglich war ihm einen Beitrag von fünfzig Dollar zu geben. Es war zu wenig Geld. Außerdem konnte man nicht nach Hause schreiben und erklären, dass man ein Projekt förderte, in dem der Antragsteller nur ein Paar Schuhe brauchte.

Einige Monate später verschwand Zé. Als Maria eines Morgens die Augen aufschlug, war er weg. In aller Stille hatte er die Hütte und das Dorf verlassen. Er hatte einen kleinen Zettel auf den Schemel gelegt.

»Ich muss das tun, wofür ich mich entschieden habe. Auch wenn ich keine Schuhe bekommen habe.«

Und so wanderte Zé hinein ins Land und hinaus aus dieser kurzen Geschichte. Ob sein Vorhaben ihm gelang, weiß ich nicht.“

Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte von Henning Mankell?

Das Goethe-Institut ist in fast 100 Ländern tätig, darunter viele Krisen- und Konfliktregionen, in denen stabile Strukturen fehlen und Identität und Bezug zur eigenen Geschichte immer bedrohter sind.. Sie werden zu unproduktiven Wüsten, kulturell und ökonomisch. Perspektivlosigkeit und Abwanderung sind die Folge.

Die Geschichte zeigt uns, nicht alle Menschen sind Nomaden. Es lohnt sich deshalb darüber nachzudenken, wie man Identitäten schützen kann, aber auch neu begreifen sollte, um Eigenständigkeit mit Offenheit und der Gleichwertigkeit des Anderen zu verbinden. Das ist eine kulturelle Leistung.

Die Geschichte zeigt uns, dass man die Ideen und Gedanken der Menschen kennen sollte, um partnerschaftlich arbeiten zu können.   
Das Goethe-Institut sieht in Bildung und Kultur entscheidende Chancen für Zusammenarbeit und Zusammenleben, nicht als Allheilmittel, aber als ein Akteur unter hoffentlich vielen, die helfen, die Spirale von Gewalt und Krisen zu durchbrechen und durch Bildung und Qualifizierung geeignete Arbeitsstrukturen zu schaffen, die helfen, die Gesellschaft zu stabilisieren.

Und es sind tatsächlich auch nicht die großen Summen, die für ein Einzelprojekt zur Verfügung stehen. Dafür gibt es zu viele Orte und zu viele Erwartungen, die bedacht sein wollen.

Die Chancen liegen deshalb nicht in einem „Gießkannenprinzip“ sondern im Zusammenschluss vieler kleiner Projekte zu gemeinsamen weit gespannten Strukturen in Form von kulturellen Netzwerken und Plattformen. Damit erreicht man Sichtbarkeit, Nachhaltigkeit und Eigenständigkeit.

Ich will das an einigen Beispielen zeigen und wähle dafür Afrika. Ich hätte auch andere Regionen nehmen können.

The Spoken Word Project – Stories travelling through Africa. Ein vernetztes afrikanisches Narrativ bewegt sich seit 2013 mit Poetry Slam Künstlern, die poetische Texte und Erzählungen vor Publikum vortragen, durch den Kontinent, begleitet von deutschen Slam-Poeten, es sind die Geschichten der Gemeinschaften, angereichert mit Gesang und Tanz. Inzwischen ist es ein großer kommerzieller Erfolg, der einerseits kommerzielle Arbeitsstrukturen schafft, andrerseits die kulturelle Überlieferung lebendig macht – über Ländergrenzen hinweg. Letztes Jahr waren Künstler des Projektes beim Poesiefestival in Berlin eingeladen – mit großem Erfolg.
 
Moving Africa. Afrika hat viele künstlerische Talente. Sie sind weitgehend lokal gebunden, deshalb auch kaum darüber hinaus bekannt. Das Projekt identifizierte Künstler und Kulturakteure, es organisierte Workshops zum gegenseitigen Kennenlernen – im Land und über Ländergrenzen hinweg – bis schließlich Festivals von großer Ausstrahlung in verschiedenen Städten Afrikas stattfanden. Aufgrund der nachgewiesenen Qualitäten ist eine Internationalisierung erreicht worden. Die gute Nachricht: sie sind nicht abgewandert, sie stärken ihre eigenen Länder, aber stehen im kulturellen Austausch, besonders auch mit Deutschland, beispielsweise als Kuratoren in Düsseldorf und Dresden, die mit afrikanischem Blick europäische Sammlungen kuratieren, oder mit Ausstellungen, wie hier im Hamburger Bahnhof.
 
Music in Africa. Das Talent afrikanischer Musiker ist Legende. Aber entweder reichte es nur zu einem kurzfristigen lokalen Aufscheinen oder es wurde weggelobt in abseitige Reservate wie Gute-Laune-Folklore. Es fehlte an Strukturen und eigenständiger Verantwortung. Das Goethe-Institut mit 25 Instituten in Afrika hat jetzt mit der Siemensstiftung gemeinsam eine digitale Plattform geschaffen, die die vielen lokalen Keimzellen vernetzt und sichtbar macht, die zeitgenössische afrikanische Musik zugänglich macht, die Biografien der Musiker vermittelt und Ausbildungsinhalte anbietet. Bis 2018 werden voraussichtlich alle afrikanischen Länder beteiligt sein, jeweils mit ihren lokalen Knotenpunkten als Teil des panafrikanischen Netzes. Aufgrund des Erfolges ist es inzwischen zur Gründung einer selbständigen afrikanischen Gründung gekommen, den Vorsitz hat Eddie Hatitye aus Kinshasa, Kongo. Ende März gab es ein großes Konzert in der Muffathalle in München. Dieser Erfolg der Internationalisierung ist ein guter Gradmesser für den Umbruch des Afrikabildes: man ist sich der Traditionen bewusst, aber entwickelteinen afrofuturistischen Soundtrack. Wir sind dabei die Ermöglicher und die gesuchten Partner. Auch hier ist gewollt, neben der künstlerischen Entwicklung, das Schaffen von kommerziellen Strukturen, um gesellschaftliche Perspektiven zu geben.
 
MOKOLO. Das, was die afrikanischen Goethe-Institute für die afrikanische Musik neuerdings leisten, wurde bereits erfolgreich für den afrikanischen Film erprobt. Auch hier sorgt eine Internetplattform für den Zugang und die Verbindung der Filmemacher und –produzenten untereinander. Das Wissen über und der Vertrieb von afrikanischen Filmen wird erheblich verbessert. Die erste Mokolo-Stiftung in Nigeria ist in Gründung. Damit werden eigenständige Arbeits- und Verantwortungsstrategien geschaffen.
 
Centers of Photography. Das neueste Projekt, das im Oktober 2015 starten soll, ist das Center of Photography, das in verschiedenen Städten Afrikas mit Aus- und Fortbildungsstätten auf den Weg gebracht werden soll, um jungen Menschen eine Chance in den Bildmedien zu geben, gleichzeitig wird es wiederum über eine digitale Plattform vernetzt.
Das wäre alles nicht in dieser wirkungsvollen Form möglich, wenn wir nicht die nachdrückliche Unterstützung des Deutschen Bundestages hätten, sowohl der Fachpolitiker als auch der Haushälter. Sie haben uns aktuell einen entsprechenden Gestaltungsrahmen gegeben und sie haben auch ermöglicht, dass wir das Goethe-Netz in Afrika mit Neueröffnungen in Kinshasa und Windhoek erweitern konnten.

Alle diese praktischen Beispiele mit kulturellen und medialen Anwendungen sind lokal verankert, afrikanisch vernetzt, kommerziell ausbaufähig, mit der Zielvorstellung der eigenen Selbständigkeit und des kulturellen Selbstbewusstseins. Deutschland wird als der verlässliche Partner und Ermöglicher gesehen, zu dem man auch und gerade in der Zukunft intensive Beziehungen pflegen will. Minister Steinmeier hat bei seiner Afrikareise im Februar 2015 in den Kongo, nach Ruanda und Kenia, an der ich teilnehmen durfte, ganz bewusst die afrikanischen und deutschen Projektverantwortlichen in Kinshasa, Nairobi und Kigali getroffen und damit ein starkes Signal für seine Wertschätzung für diese Art von Kooperationen gesetzt, die auch dem Verständnis des von ihm angestoßenen Review-Prozesses für die AKBP entsprechen.

Es ist, glaube ich, deutlich geworden, wie wir arbeiten. Mit überschaubaren lokalen Projekten, an denen sowohl auf der Seite der Gastländer als auch auf der von Deutschland Interesse besteht, schaffen wir eine wirkungsvolle kulturelle Infrastruktur, die sich durch Plattformen und Netzwerken aufspannt und dadurch große Reichweiten und eine eigene Selbständigkeit erreicht, bei der geleichermaßen kulturelle Selbstvergewisserung, Offenheit und Gleichwertigkeit, aber auch kommerziell nutzbare Arbeitsstrukturen entstehen, die Zukunftsfähigkeit und kooperative Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Uns allen ist bewusst, dass sich mit den kulturellen Anwendungen nur ein schmales Segment aktivieren lässt und dass weitere Segmente hinzutreten müssen, um aus dem derzeit krisengeschüttelten Kontinent den Chancenkontinent Afrika zu machen. Aber die Beispiele zeigen zumindest, es gibt keinen Automatismus der Gewalt. Und es gibt das deutsche Sprichwort: Gute Beispiele machen Schule!
 
Es gilt das gesprochene Wort.