28. August 2015
Verleihung der Goethe-Medaille 2015

Begrüßungsrede des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow,

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, liebe Claudia Roth,

Sehr geehrte Frau Finanzministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin Thüringens, Heike Taubert,

Sehr geehrter Herr Innenminister des Landes Thüringen, Herr Dr. Holger Poppenhäger,

Liebe Frau Staatsministerin Dr. Maria Böhmer,

Lieber Herr Oberbürgermeister Wolf,

Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Thüringer Landtages,

Exzellenzen, Präsidenten, Direktoren, Prinz Michael und Prinzessin Dagmar,

Sehr verehrte Präsidiumsmitglieder und Mitglieder des Goethe-Instituts,

Hoch verehrte Festversammlung,

ich heiße Sie sehr herzlich willkommen zur diesjährigen Verleihung der Goethe-Medaille im Festsaal des Stadtschlosses Weimar. Sie steht unter dem Motto "Der Geist der Geschichte".

Man könnte meinen, ein behäbiges Thema, ein rückwärtsgewandtes Thema. Das Gegenteil ist der Fall. Das wird nicht nur durch die aktuellen Ereignisse belegt, zum Teil dramatisch belegt, sondern auch durch die drei Preisträger, die in ganz besonderer Weise für eine aktive kulturelle Überlieferung stehen und in ihrer aufklärerischen humanistischen Haltung zur Verständigung über die Welt entscheidend beitragen. Dabei geht es nicht immer um die Vermehrung der Erkenntnis durch noch unbekannte Informationen sondern auch – vielleicht sogar häufiger – um neue Auffassungen des schon Bekannten. Das entspricht ganz der Ansicht Goethes, der es so formuliert hat: "Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen."

Derzeit sind wir alle fassungslos und entsetzt über die Brutalität kriegerischer Auseinandersetzungen in den Ländern des Nahen Ostens und in Teilen von Afrika. Wir erleben die enthemmte Vernichtung von Menschen und Sachwerten, die Aneignung und Wegnahme von materiellen Gütern, die Versklavung und die gezielte Zerstörung von Kunstwerken und Kulturgütern. Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Ein Teil von ihnen kommt nach Europa und in die Bundesrepublik. Die Biografie unserer Preisträgerin Eva Sopher belegt an einem individuellen Schicksal eindrücklich die historische Verantwortung Deutschlands. Die Hilfsbereitschaft, die den Geflüchteten in vielen Städten von tausenden Bürgerinnen und Bürgern begegnet, ist ein gutes Beispiel für gelebte Solidarität. Gleichzeitig hören wir immer mehr Nachrichten von Übergriffen radikaler Zellen und ihrer Mitläufer, die nicht nur gegen gültiges Recht verstoßen, sondern auch die Grundprinzipien menschlichen Anstands verletzen. Das Goethe-Institut verurteilt diese Geschehnisse in aller Deutlichkeit, da es sich in der ganzen Welt für einen offenen Dialog und gegen jede Form von Diskrimierung einsetzt. Hierfür ist auch das Wissen um die eigene Geschichte und um die Komplexität der Entwicklung von Gesellschaften eine wichtige Grundlage. Im Nahen Osten wird derzeit durch die geübte Kriegspraxis das kulturelle Gedächtnis ganzer Landstriche gezielt und systematisch ausgelöscht. Bauwerke, Kunstwerke, Bibliotheks- und Museumssammlungen werden geplündert und ausradiert. Palmyra, Mossul, Ninive, Nimrud stehen beispielhaft für die barbarischen sinnlosen Akte und den Versuch der Auslöschung der kulturellen Identität. Dabei geht es auch um das Selbstverständnis des Weltkulturerbes.

Die lange Geschichte der Kriege kennt immer wieder solche Vernichtungsszenarien mit Plünderung und Vernichtung von Kulturgut. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand die Völkergemeinschaft zu einer gemeinsamen völkerrechtlichen Auffassung, die gegen Wegnahme und gezielte Zerstörung von Kulturgut eine absolute Ächtung formulierte.

Der tiefe Rückschlag kam dann durch den unglaublichen Zivilisationsbruch der Nationalsozialisten durch die barbarischen Akte im 2.Weltkrieg von Kunstraub und Zerstörung. Die Sowjetunion hatte relativ früh die Praxis des nationalsozialistischen Kunstraubs für sich adaptiert und weiter entwickelt. Es ist interessant, dass in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen Kunstraub aufgrund des geltenden Völkerrechts ein konkreter Anklagepunkt war.

Das Wissen um Herkunft und Geschichte bildet die Grundlage für eine Gleichwertigkeit der Kulturen und die Bereitschaft, sich auf andere Kulturen einzulassen. Das Bewusstsein um die Geschichte von Kulturen ist eine wichtige Voraussetzung für ihre Koexistenz und damit für unser Zusammenleben. Es gibt aber neben dieser Brutalität gegenüber der Geschichte und ihrer Zeugnisse  noch eine andere subtile Gefährdung, die sehr aktuell ist. Das ist die "Beschleunigung der Geschichte". Sie wird ausgelöst durch die Globalisierung mit ihrer weltweiten Vernetzung, durch die Flüchtigkeit der Medien, durch das Verschwinden eines gemeinsamen Kanons und durch die eindeutige Bevorzugung ökonomischer Sichtweisen gegenüber kulturellen.

Der französische Historiker Pierre Nora warnte vor einiger Zeit, dass wir zwar einerseits eine weltweite Verbreitung des Erinnerns erleben, andrerseits aber durch "eine Beschleunigung der Geschichte" über einen schwindenden gemeinsamen Erfahrungshintergrund verfügen, der zur Auflösung eines generationsübergreifenden Gedächtnisses führe. Dieser schnelle Wandel habe die Einheit der geschichtlichen Zeit zerbrochen. Damit rücke die Vergangenheit in die Ferne und das "Augenblicks-Gedenken" der Geschichte besetze die Erinnerung. Die Gefahr ist groß, dass aus der daraus resultierenden Oberflächlichkeit die Beschäftigung mit der kulturellen Überlieferung auf spektakuläre Einzelereignisse mit Unterhaltungswert reduziert wird.

Wir ehren heute drei Persönlichkeiten, die in ihrem Schaffen jeweils auf einzigartige Weise und mit neugierigem Geist diesen beiden Entwicklungen entgegen wirken. Das mag als Gemeinsamkeit zunächst überraschen, wirken sie doch in ganz unterschiedlichen Disziplinen und sind in ganz unterschiedlichen Weltgegenden zu Hause. Aber genau deshalb ist die Zusammenschau dieser drei Persönlichkeiten so faszinierend. Sie liefert neue Erkenntnisse, auch für das Zusammenleben in der Welt heute.
 
Der Preisträger Sadik Al-Azm ist einer der wichtigsten Intellektuellen der arabischen Welt. Die eskalierende Gewalt in Syrien zwang ihn 2012 ins Exil zu gehen. Seitdem lebt er, um zu überleben, mit seiner Frau bei uns in Deutschland. Die Spirale der Gewalt in seiner Heimat ist weiter eskaliert. Mit seinen in viele Sprachen übersetzten Schriften ist er gerade auch gegen die barbarischen und faschistischen Entwicklung eine unverzichtbare Stimme. Er ist ein Aufklärer im besten Sinn. Wie kein anderer steht er ein für die Modernisierung der muslimischen Gesellschaft. Mutig setzt er sich für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für Rechtstaatlichkeit, Demokratie und einen säkularen und selbstkritischen Islam ein – auch gegen große Widerstände in der arabischen Welt. Geprägt wurde er durch das philosophische Werk Immanuel Kants – einem der Wegbereiter der Weimarer Klassik. Ich freue mich sehr, lieber Sadik Al-Azm, Sie heute hier in Weimar zu begrüßen.

Ihre Laudatio wird der Islamwissenschaftler Professor Stefan Wild halten, der Sie sehr gut kennt, aus Ihren Publikationen, aber auch aus enger persönlicher Verbindung. Sein wissenschaftliches Lebenswerk gehört der Welt des Islam, insbesondere der arabischen Literatur und der Geistesgeschichte. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen, lieber Herr Wild.

Eva Sopher, unsere zweite Preisträgerin, hat mit ihrem leidenschaftlichen Engagement für das Theater die brasilianische Kulturlandschaft, aber auch den internationalen Kulturaustausch entscheidend geprägt. Auch hier wiederum ein Leben im Exil. Die Tochter einer deutsch-jüdischen Familie floh mit ihren Eltern Ende der 1930er-Jahre nach Brasilien. Das jüdische Erbe hat eine ganz starke Prägung auf die deutsche Kultur ausgeübt. Der erzwungene Auszug der jüdischen Mitbürger oder der Tod in den Gaskammern war eine unermessliche menschliche Tragödie, aber auch kulturell ein enormer Verlust. Eva Sopher nahm ihre kulturellen Wurzeln mit ins Exil. Dort schuf sie mit dem Theatro São Pedro eine Spielstätte, deren Stiftung sie noch heute im Alter von 91 Jahren vorsitzt. Wir bedauern, dass Eva Sopher heute nicht persönlich bei uns sein kann. Ihr hohes Alter hat eine so weite Anreise nicht zugelassen. Sie hat mir jedoch ihre große Freude über die Auszeichnung vermittelt. Und sie ist heute nicht nur in Gedanken unter uns, sondern auch virtuell – davon können Sie sich gleich selbst überzeugen, wenn Sie ihre Videobotschaft sehen, voller Enthusiasmus und Emotion.

An die Begeisterungsfähigkeit Eva Sophers erinnert sich auch Hanna Schygulla, die vor zehn Jahren selbst auf Eva Sophers Bühne, im Theatro São Pedro, stand. Es freut mich außerordentlich, dass wir Sie, liebe Hanna Schygulla, als Laudatorin gewinnen konnten. Für Sie ist Weimar ein emotional und künstlerisch besetzter Ort. Ich erinnere mich an unser erstes Telefongespräch, als sie mir von Ihrer Radtour durch den Ilmpark begeistert erzählten. Sie sind hier unter anderem 1995 in Jorge Sempruns Stück "Bleiche Mutter, zarte Schwester" aufgetreten, eine unvergessliche Inszenierung von Klaus Michael Grüber. An dieser Stelle möchte ich auch Renata Rubim, Eva Sophers Tochter, und Ulrike Mühlschlegel, ihr Patenkind, herzlich begrüßen – Sie werden heute die Goethe-Medaille für Eva Sopher entgegennehmen. Ihnen ein herzliches Willkommen!

Der dritte im Bund der Preisträger ist Neil MacGregor, noch Museumsdirektor des British Museum in London und ab Oktober 2015 Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, gemeinsam mit Hermann Parzinger und Horst Bredekamp. Auch bei ihm finden wir eine ausgeprägte Haltung zu Aufklärung und Emanzipation. Er definierte einmal das British Museum als ein Museum der Welt für die Welt. Genau das bezeichnet die Verantwortung, die für die Weltkulturen übernommen werden muss. Objekte zum Sprechen zu bringen, die Kulturen nicht hierarchisch vermessend und bewertend sondern vergleichend zu sehen, den Besuchern die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen und damit Herkunft und Zukunft zu verbinden. Das wirkt der Beschleunigung und dem Auslöschen der Geschichte entgegen. Neil MacGregor vertraut auf die Sprachmacht und Bildkraft der Objekte. Und er vertraut auf die Bildungsmacht der Kunst. Damit ist er ganz nah bei den Idealen der Weimarer Klassik!

Die künstlerische Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Marion Ackermann wird die Lobrede auf Neil MacGregor halten. Sie ist dafür besonders prädestiniert, wie er ist sie Kunsthistorikerin, wie er ist sie geprägt von Weltneugier und Weltoffenheit, wie er arbeitet sie an der Grenzlinie von künstlerischen Prozessen und Sammlungsgrundsätzen. Liebe Marion Ackermann, ich begrüße Sie sehr herzlich im Weimarer Schloss.

Zum Abschluss meiner kurzen Vorstellung von Preisträgern und Laudatoren möchte ich nochmals an den Anfang meiner Rede zurückkehren, bei dem ich Terror und Barbarei thematisiert habe und zugleich auf die Gegenwirkung solcher Persönlichkeiten und ihrer Arbeit, die wir heute ehren, eingegangen bin. Uns ist allen bewusst, dass es nicht bei Einzelereignissen bleiben darf, um diese brutalen Zivilisationsbrüche zu unterbinden und dass die Kultur auch kein Allheilmittel ist. Trotzdem ist der Dialog wichtiger denn je, ein Dialog, der wirkliche Antworten geben muss, der Solidarität einfordert und praktisches Handeln übernimmt.

Das Goethe-Institut wird ab 2016 in zweijährigem Rhythmus ein Kultursymposium mit rund 200 Teilnehmern aus der ganzen Welt in Weimar durchführen, das aus kultureller Perspektive über die entscheidenden gesellschaftlichen Veränderungen verhandelt  und dazu die führenden Denker und Künstler, vor allem aber auch junge Menschen aus der ganzen Welt zusammenführt. Die Ergebnisse sollen auf künftige Entscheidungen und internationale Beziehungen Einfluss nehmen. Über die modernen Kommunikationskanäle werden die Debatten weltweit zugänglich gemacht. Die erste Veranstaltungsreihe, vom 1. bis 3. Juni 2016 widmet sich dem Thema "Teilen und Tauschen". Kulturelle Traditionen, ökonomische Modelle, gesellschaftliches Verhalten werden hinterfragt, nachhaltige Formen des Wirtschaftens, eine gerechtere Teilung von Gütern und neue internationale Netzwerke vorgestellt und bewertet.  Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier wird das Symposium eröffnen. Ein hochkarätiges Kuratorium, zu dem auch Goethe-Medaillen-Preisträger gehören (darunter neben dem hier anwesenden Neil MacGregor auch Petros Markaris, Lars Gustafson und Christina von Braun als Vorsitzende der Kommission zur Verleihung der Goethe-Medaille) wird eine breit gefächerte Expertise zur inhaltlichen Ausgestaltung einbringen. Ein Dutzend Goethe-Institute im Ausland werden in vorbereitenden Veranstaltungen lokale Künstler und Wissenschaftler einbeziehen. Und Weimar ist dafür der richtige Platz mit seinen zahlreichen Veranstaltungsorten. Das als kurze Vorschau.
 
 Zurück zu unserer heutigen Festveranstaltung, und zwar zum musikalischen Teil. Für die musikalische Begleitung der Feierlichkeiten arbeiten wir erneut mit der Hochschule für Musik Franz Liszt zusammen und ich bedanke mich bei Tiago Oliveira Pinto, der das Programm kuratiert hat. Ausgewählt wurden die Künstlerinnen und Künstler mit Bezug zu unseren Preisträgern. Für Sadik Al-Azm wird Nabil Hilaneh als Hommage an seine syrische Heimat das Stück „Homs, Ort der Sehnsuch“ auf dem Ud, der arabischen Laute, spielen.

Unsere Preisträgerin Eva Sopher wünschte sich einen Musikbeitrag, der mit Weimar in Verbindung steht. Die Pianistinnen Anna Lysenko aus Russland und Mai Shinada aus Japan (nicht die im Programm abgedruckten Pianistinnen, aus familiären Gründen musste einen von ihnen kurzfristig absagen) bringen durch die „Valse de Faust“ aus der Oper Faust von Charles Gounod in einer Fassung von Franz Liszt, einem der Lieblingskomponisten von Frau Sopher, gleich zwei Weimarer zum Erklingen.

Den Komponisten Alex Vaughn hat Neil MacGregors Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ zu seiner musikalischen Arrangement „The Violincello in 100 Motives“ inspiriert. Das Stück wird von Alexandres Castro-Balbi am Cello, Moritz Schneidewendt an der Bassklarinette und José Vergara am Kontabass interpretiert und ist dem Preisträger gewidmet. 

Bedanken möchte ich mich wieder bei Christian Holtzhauer und seinem dynamischen Team beim Kunstfest Weimar: Wir haben in unserer zweiten gemeinsamen Runde wieder ganz wunderbar zusammengearbeitet: Sadik Al-Azms gab bei einer Podiumsdiskussion mit Frau von Braun Einblicke in seine Einstellung zu „Islam und Aufklärung“, Neil MacGregor hielt einen Vortrag zu unserem Leitthema „Der Geist der Geschichte“ im historischen Hotel Elephant. Und heute Abend können Sie in den Genuss einer Lesung von Hanna Schygulla im Kino mon ami anlässlich des Fassbinder-Jubiläums kommen. Einen schöneren Rahmen für die diesjährige Preisverleihung hätten wir uns nicht wünschen können.

Mein besonderer Dank gilt natürlich auch wie in jedem Jahr unserem großzügigen Gastgeber hier in den immer wieder aufs Neue beeindruckenden Räumlichkeiten des Schlosses, der Klassik Stiftung Weimar.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe zum Eigenen und zum Fremden: „Ich habe weder Blick noch Schritt in fremde Lande getan, als in der Absicht, das allgemein Menschliche, was über den ganzen Erdboden verbreitet und verteilt ist, unter den verschiedensten Formen kennenzulernen und solches in meinem Vaterland wiederzufinden, anzuerkennen, zu fördern. Wir sind eines Geschlechtes, mit der Einsicht über das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann – nämlich das Erkennen seiner selbst und dadurch das Erkennen des anderen. Die Existenz fremder Menschen sind die besten Spiegel, worin wir die unsrige erkennen können.“

Und nun freue ich mich, das Wort an den Ministerpräsidenten, Herrn Bodo Ramelow, zu übergeben.

Herzlichen Dank.

Es gilt das gesprochene Wort.