27. September 2016
Perspektivwechsel: Die weltweite Residenzarbeit des Goethe-Instituts

Einführung durch den Präsidenten des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann

Sehr geehrte Damen und Herren,
 
Perspektivwechsel durch Residenzen – zu diesem Thema sind wir heute hier im Silent Green zusammengekommen.
 
Ich begrüße herzlich
Sie, verehrte Frau Staatsministerin Dr. Böhmer,
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
liebe Mitglieder des Beirats und der Jury der Kulturakademie Tarabya,
die Jurymitglieder der Villa Kamogawa und die Nominerenden der Vila Sul in Salvador de Bahia,
unsere Partner hier im silent green (silent green, Harun Farocki-Institut, SAVVY Contemporary, Arsenal, Music Board Berlin Brandenburg)
und ganz besonders die aktuellen und ehemaligen Stipendiatinnen und Stipendiaten der Residenzprogramme des Goethe-Instituts.
 
Unseren Namensgeber Johann Wolfgang von Goethe kann ich heute natürlich leider nicht in dieser Runde begrüßen – ich bin aber überzeugt, dass er der ideale Stipendiat gewesen und allzu gerne in das lauschige Häuschen (Einladungskarte hochheben) eingezogen wäre. Warum? Goethe hat immer wieder in seinen Schriften über das Eigene und das Fremde reflektiert. Aussagen finden sich in Maximen und Reflexionen, im West-Östlichen Divan oder in den Gesprächen mit Eckermann. So schreibt er:
 
„Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.“
Oder:
„Die Existenz fremder Menschen sind die besten Spiegel, worin wir die unsrige erkennen können.“
 
Die Zitate sprechen von der Erfahrung mit der Fremdheit und vom Nutzen der Wechselwirkung.  Das Verlassen der eigenen heimatlichen Denk- und Lebensstrukturen sind entscheidende Voraussetzungen für Offenheit, Erkenntnis, Verstehen und Verständnis.
 
Goethe plädiert für Weltoffenheit und Weltneugier, er plädiert aber auch dafür, sich des Eigenen bewusst zu sein – und das Eigene und das Fremde nicht vermessend, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit gleichwertig neben- und miteinander zu denken.
 
Diese Auffassung Goethes ist für unsere Zeit keine Selbstverständlichkeit, aber eine umso dringendere Notwendigkeit. Flucht und Vertreibung, Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit, Propaganda, erschwerter Bildungszugang, Behinderung zivilgesellschaftlicher Prozesse bestimmen in vielen Teilen der Welt das Bild.
 
Ohne kulturelles Verständnis, ohne Dialogfähigkeit wird unsere Welt immer weniger lesbar und zugänglich. Es braucht Menschen, die sich dem Dialog aussetzen, mit der Fähigkeit des Umgangs mit kulturellen Unterschieden, mit der Kenntnis anderer Modelle des Zusammenlebens, mit Mehrsprachigkeit und Empathie. Weltformeln bieten keine Lösung, eher die persönlichen Begegnungen und Erfahrungen, die zu Lerngemeinschaften führen.
 
Sind denn nicht die Goethe-Institute per se solche Frei- und Dialogräume und bieten Workshops, Recherchereisen, Koproduktionen, Hospitationen und unterschiedliche Arbeitsaufenthalte an Goethe-Instituten nicht schon genug Austausch. Immerhin gibt es weltweit etwa 100 Programme dieser Art auf der Grundlage partizipatorischer Arbeit in allen künstlerischen Disziplinen, auch interdisziplinär.
 
Außenminister Steinmeier hat im Zusammenhang mit dem von ihm angestoßenen Review Prozess für die AKBP auf den notwendigen Ausbau von Künstlerresidenzen  hingewiesen. Sie seien die entscheidenden Knotenpunkte und greifen weiter in ihrer Wirkung. Sie können die langfristige und nachhaltige Vernetzung zwischen kulturellen Szenen leisten, sie können einen ungewöhnlichen Perspektivwechsel ermöglichen, sie können  kulturpolitische Impulse im Gastland und im Anschluss im Herkunftsland auslösen und sie bieten durch den Eigenwert künstlerischen Schaffens experimentelle Freiräume für Neues. Eine Produktionsverpflichtung besteht nicht, Residenzen sind zweckfrei und ergebnisoffen. Aber sie sind kein arkadisches Refugium sondern eher ein Basislager für Künstler und Intellektuelle.
 
Durch Residenzen entstehen Netzwerke und Freundschaften, die lange über den eigentlichen Aufenthalt hinaus wirken. Besondere Bedeutung kommt deshalb auch der Alumni-Arbeit zu. Sie zu pflegen sollte fester Bestandteil der Residenzarbeit sein.
 
Das Goethe-Institut verfügt inzwischen über mehrere Residenzhäuser. Es gibt die Villa Kamogawa – die vom Goethe-Institut betriebene Residenz in Kyoto. Im Oktober feiern wir ihr fünfjähriges – überaus erfolgreiches – Bestehen. In Istanbul arbeiten wir eng mit dem Auswärtigen Amt zusammen, das die Kulturakademie Tarabya am Bosporus betreibt und für die das Goethe-Institut die kuratorische Leitung übernommen hat. Im November werden wir einen weiteren Standort neu eröffnen: Die Vila Sul in Salvador de Bahia! Schwerpunktthema ist hier erstmals der Süd-Süd-Dialog mit einer Vernetzung von Ländern der Südhalbkugel und Teilnehmern auch aus Drittländern.
 
Neu sind Überlegungen für ein gemeinsames von Auswärtigem Amt und  Goethe-Institut formuliertes Konzept für eine German Academy New York, das ein Residenzprogramm von bis zu 15 Residenten vorsehen soll. Es soll in der 5th Avenue, dem früheren Sitz des Goethe-Instituts seinen prominenten Platz finden, einer Landmark, in der die transatlantischen intellektuellen und künstlerischen Beziehungen der Nachkriegszeit ihren lebendigen Ort hatten – und an die wieder angeknüpft werden soll. Außenminister Steinmeier hat sich letzte Woche am Rand der UN-Konferenz dazu geäußert: „Wir wollen einen Ort, an dem Kultur sich mit Wissenschaft austauscht, Kunst mit Politik und an dem Debatten, Projekte und neue Ideen entstehen.“ Es soll eine Non-Profit Organisation nach amerikanischem Recht werden mit großer Unabhängigkeit von Board und Intendant.  Der Unterausschuss AKBP hat das Projekt wesentlich befruchtet und unterstützt, nun hoffen wir auf weitere Hilfe durch den Bundestag.

 Diese Beispiele zeigen, dass Residenzarbeit immer das Ergebnis sorgfältiger Umfeld- und Bedarfsanalysen sein muss und auch hinsichtlich Struktur, Status und Finanzierung unterschiedliche Modelle und Vereinbarungen bedacht werden müssen.  Aber immer sind es Freistätten der Inspiration, der Begegnung und der künstlerischen Arbeit, die sich mit ihren Veranstaltungen einem vielfältigen Publikum öffnen. Es sind ehrgeizige Orte, die Zukunft schaffen!
 
Diese Zukunft hat inzwischen vielfach zu künstlerischen Werken, künstlerischen Entwicklungen und persönlichen Beziehungen geführt. Einige dieser beeindruckenden Ergebnisse erleben Sie heute als künstlerische Beiträge. Zwei möchte ich kurz nennen.
 
Liebe Ulrike Haage: Ihr Aufenthalt in der Villa Kamogawa 2012 inspirierte Sie zu dem nach einem japanischen Haiku benannten Kompositionszyklus For All My Walking, den Sie gemeinsam mit Ihrem Co-Residenten Eric Schaefer erarbeiteten. Und damit nicht genug: Durch einen Kontakt in der Villa Kamogawa mit Doris Dörrie entstand die Zusammenarbeit für Dörries Film „Grüße aus Fukushima“, für die Sie die beeindruckende Filmmusik gemacht haben.
 
Diesen partnerschaftlichen Ansatz haben auch Sie verfolgt, liebe Antje Töpfer: Während Ihre Aufenthalts in Kyoto kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen Ihnen, dem ebenfalls in der Villa Kamogawa lebenden Regisseur Philip Widmann und dem japanischen Dramatiker Satoshi Ago. Wir freuen uns schon auf die Aufführung dieser Koproduktion in Deutschland. 2018 ist die Uraufführung geplant, wir müssen uns also noch etwas gedulden. Heute werden Sie uns aber bereits Einblicke in Ihr Schaffen geben.  
 
Der partnerschaftliche Ansatz gilt aber nicht nur für unsere Stipendiaten, sondern auf institutioneller Ebene in gleichem Maße. So möchte das Goethe-Institut mit anderen deutschen Akteuren gemeinsam die internationalen Residenzarbeit stärken. Es möchte auch in Deutschland eine Plattform schaffen und ein Fenster zur Welt öffnen – und kann das auch, dank seines Außennetzes.
 
Mein herzlicher Dank gilt dem Auswärtigen Amt, das die Stärkung von Residenzen kontinuierlich gemeinsam mit dem Goethe-Institut vorantreibt.
 
Herzlichen Dank auch dem silent green Kulturquartier – wir hätten uns keinen passenderen Rahmen für unsere Veranstaltung heute wünschen können als diesen kreativen Ort, mit dem wir obendrein das gemeinsame Residenzprogramm  „Film Feld Forschung“ betreiben. Vielen Dank an auch an unsere hier ansässigen Partner Arsenal, das Harun Farocki Institut, das Music Board Berlin und das Savvy Contemporary – mit Ihnen allen verbinden uns neben dem heutigen Abend zahlreiche weitere Projekte und Initiativen, teils auch Residenzprogramme.
 
Zuletzt möchte ich auch dem Team um Joachim Bernauer (Melanie Bono und Florian Römmert) danken, das den heutigen Abend gestaltet hat.
 
Vielen Dank und einen „perspektiv(wechsel)reichen“ Abend!

Es gilt das gesprochene Wort.