10. Mai 2017
Es geht auch praktisch – aber nur miteinander

Beitrag des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann für das Debattenportal Causa des Berliner Tagesspiegel

Die Deutschen sind geübt in Grundsatzdebatten, die ihre eigene Kultur betreffen: Kulturnation, Nationalkultur, Leitkultur, kulturelle Identität. Schon Kurt Tucholsky stellte in der Weltbühne in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts fest: Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich selbst kommen wollen.

Wie wäre es mit etwas mehr Gelassenheit anstatt erneut den Begriff „Leitkultur als Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland“ (de Maiziere) zu beleben? Thesen und Appelle werden uns nicht weiterhelfen, sondern viel eher praktisches Handeln.

Deutschland ist bereits seit längerem Zuwanderungsland. Fast 20 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln leben hier: Gastarbeiter und deren Kinder, Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge, Asylsuchende, freiwillige und unfreiwillige Migranten. Für alle ist die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration. Alle Studien belegen, je besser das Sprachvermögen umso besser die Chancen für eine gesellschaftliche Teilhabe. Das gilt übrigens auch für die deutsche Bevölkerung. Hier gibt es neben mangelnder sprachlicher Ausdrucksfähigkeit auch eine erschreckend hohe Zahl von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten.

Wenn man über das Zusammenleben in Deutschland spricht, muss man auch darüber sprechen, dass sich insgesamt ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht, bestimmt durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche – nur das Nützliche zählt – sowie durch Digitalisierung und Globalisierung. Das führt letztlich zu einer Gesellschaft, die sehr stark vom Wettbewerb und von Individualisierung geprägt wird und die Fragen der Solidarität und der Partizipation nicht als wesentliches gesellschaftliches Merkmal erkennt. Diese veränderte Auffassung macht sich auch in der schulischen Bildung bemerkbar, bei der die musischen Fächer zugunsten der naturwissenschaftlich-technischen Fächer zurückgedrängt werden. Hier gibt es jedoch erste Korrekturen, die mit dem Begriff kulturelle Bildung zu beschreiben sind. Dadurch sollen Schlüsselkompetenzen wie Persönlichkeitsbildung, Kreativität und Partizipation gefördert werden. Eine Individualisierung, die nur technokratisch begründet wird, gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das gilt für bestehende gesellschaftliche Strukturen als auch für die Integration der neu angekommenen Menschen.

Bei der Integration geht es übrigens nicht nur um die Eingliederung von Fachkräften für die Wirtschaft. Längst gibt es Musikerinnen, Schriftsteller, Filmemacherinnen oder Bildende Künstler, die ihre Erfahrungen und ihre Perspektiven mit uns teilen, die sich als Teil der deutschen Kultur verstehen wollen.

Zu lange sind die Fragen zu Migration und Integration vernachlässigt worden. Erst die neue Größenordnung und die Geschwindigkeit der Migration 2015/2016 schafften endlich die neue Aufmerksamkeit und den nötigen Pragmatismus. Dazu mussten weder Leitkultur noch Identitätsfindung bemüht werden. Es war eine beeindruckende Willkommenskultur als humanitäre Soforthilfe, die das Bild von Deutschland bei der Aufnahme der Geflüchteten prägte. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer leisteten großartige Unterstützung. Aber dabei kann es nicht belassen werden. Dem Willkommen muss eine wirkliche Kultur der Teilhabe folgen, die die Menschen als Teil der Gesellschaft aufnimmt. Geflüchtete wollen nicht Opfer bleiben, sondern eine verlässliche Integration erleben. Integration richtet sich nicht nur an Zuwanderer, sondern an alle Menschen in Deutschland. Sie wird nicht für die Anderen gemacht, sondern sie wirkt miteinander. Sie ist auch kein statischer Zustand sondern muss immer wieder neu verhandelt werden. Parallelgesellschaften sind Gift für das Zusammenleben, wechselseitige Prozesse sind gefragt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Anteil von Migranten wächst und wir diese Vielfalt als Chance ausgestalten. Es ist nicht nur Tagespolitik sondern ein andauernder Bestandteil.

Hier muss das praktische Handeln einsetzen. Die derzeitigen Integrationskurse für Sprache bieten nur einen Minimalstandard. Zum erfolgreichen Einstieg zur Integration bedarf es neben der Erhöhung der Stundenzahlen aber auch der Vermittlung von Informationen über das Leben in Deutschland, Informationen zu Ausbildung und Beruf. Die Flüchtlinge sind keine homogene Gruppe, jeder hat seine eigenen Lern- und Berufserfahrungen und Fähigkeiten, die Möglichkeiten und Erwartungen bestimmen. Je nach Bildungsstand bedarf es differenzierter und flexibler Sprachangebote, besondere Berücksichtigung müssen dabei Frauen und Jugendliche erhalten. Für Kinder sollten Voraussetzungen für den Spracherwerb schon in den Kitas ausreichend geschaffen werden. Darüber hinaus müssen Spracherwerb und Ausbildung enger aufeinander abgestimmt werden und die Angebote müssen auf die zeitliche und örtliche Verfügbarkeit Rücksicht nehmen. Es geht nicht um das Durchschleusen, um große Zahlen zu erreichen, es geht um Qualität bei der Förderung. Das Goethe-Institut stellt hierfür ein differenziertes Sprachangebot zur Verfügung, vom Smartphone über Online-Kurse bis zu hochwertigen Präsenzkursen.

Speziell für Kinder und Jugendliche gibt es Bücher- und Filmkoffer, bei denen deutsche Bücher und Filme mit arabischen und farsischen Untertiteln in deutsch/ausländischen Gruppenveranstaltungen vermittelt werden und damit Lebenswirklichkeit unter Gleichaltrigen hergestellt wird.

Schließlich ist die Einbeziehung der Angekommenen in unser gesellschaftliches Leben ein motivierendes Element. Gerade weil wir kein Land der großen Metropolen sind – die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebt in Orten unter 50 000 Einwohnern – eröffnen sich aufgrund nachbarschaftlicher Strukturen Chancen für gemeinsame Erfahrungen und damit zu wirklichen Begegnungen. Weil Integration nicht durch Verordnung erreicht werden kann, ist das bürgerschaftliche Engagement ein wesentliches Element.

Dazu gehören die Möglichkeiten im Arbeitsleben. Wir sind eine Arbeitsgesellschaft, deren Sinn nicht nur in der wirtschaftlichen Absicherung, sondern auch in dem dichten sozialen Geflecht liegt. Möglichst zügige Eingliederung und Ermutigung für soziale Kontakte sind wichtig. Wir sind ein Land von Vereinen, Nachbarschaften, Bürgergesprächen usw. Diese Strukturen bieten hervorragende Möglichkeiten für gemeinsame Initiativen. Das Goethe-Institut hat außerdem bei muslimischen Gemeinden gezielt Imame in der deutschen Sprache ausgebildet, damit sie als Gemeindevorsteher bei Problemen helfen können, es hat auch Kurse erfolgreich angeboten, um zugewanderte Personen als kommunale Funktionsträger  zu gewinnen. Das Institut macht zahlreiche Veranstaltungen für die Stadtgesellschaften, bei denen bewusst Streitlust eine Komponente ist, nicht aggressiv sondern diskursiv.

Spannend ist ein Förderprogramm der Kulturstiftung des Bundes zur Öffnung von Kulturinstitutionen. Museen, Theater, Konzerthäuser, Bibliotheken werben dabei um ein breites Publikum, das die veränderte Zusammensetzung von Stadtgesellschaften berücksichtigt und kulturelle Bildung attraktiv vermittelt. Gleichzeitig wird aber auch die Personalpolitik der Kultureinrichtungen kritisch reflektiert, die aus ihrer konservativen Haltung heraus geführt werden sollen und ebenfalls Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Migrationsgesellschaft in ihren Ensembles berücksichtigen sollen. Kultur spielt eine zentrale Rolle. Aber sie muss sich mitteilen können.

Sprache und Kultur waren für das Werden von Deutschland das einigende Band. Aber trotz des nationalen Ansatzes ist der geistige wie geografische Bezugsraum für unseren Umgang die Region oder die Stadt. Der Föderalismus ist ein Charakteristikum für unsere Kultur. Das macht auch den kulturellen Reichtum aus. Es muss heute darum gehen, für unsere Kultur keine Ausschließlichkeit zu postulieren, nicht Reservate zu schützen, sondern Entwicklungen aufzunehmen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Das geht nur dann, wenn die eigene Kultur erkannt, gewollt und gestaltet wird. Dazu gehört auch eine Kultur der Teilhabe für die Migranten, die sich zu Deutschland bekennen und unsere Grundwerte leben. Dazu gehört letztlich neben dem Asylrecht, das Schutz bieten soll, auch ein Einwanderungsgesetz mit klaren Rahmenbedingungen. Ein Gesetz, das um gut ausgebildete Einwanderer wirbt und Deutschland als ein weltoffenes und attraktives Einwanderungsland präsentiert, in dem Zuwanderer auch dauerhaft willkommen sind.

Die große Attraktivität, die Deutschland so anziehend in der Welt macht, sind seine Offenheit, seine Diskursfähigkeit und seine Gestaltungsmöglichkeiten. Die persönliche Freiheit, auch die von Kunst, gepaart mit einer gelebten Eigenverantwortlichkeit, ist das Ferment des Zusammenlebens. Sie lässt Nationalkulturen wachsen und lebendig sein. Nationalkulturen, die sich isolieren, sich verschließen, eine egoistische Anspruchshaltung einnehmen, führen letztlich zu einem Bruch mit dem Umfeld und verhindern eine solidarische Gemeinschaft.

Die türkischstämmige Schriftstellerin Mely Kiyak äußerte sich einmal so: „In meinen Ohren klingt Nationalkultur gut, opulent, angefüllt mit vielem, das mir gefällt, mit Goethe, Schiller und Heine. Ich habe keine Schwierigkeiten, Deutschland trotz seiner Historie zu lieben und stolz darauf zu sein.“

Das Goethe-Institut arbeitet mit dieser Grundeinstellung zum Diskurs und zur Begegnung auch bei der Vermittlung des Deutschlandbildes in der Welt. Das führt zu Glaubwürdigkeit und dauerhaften Partnerschaften.