Bildung
"Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während Corona-Pandemie

"Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie
© Iliyan Ruzhin

Rückblickend waren die ersten Wochen der Pandemie an vielen Schulen geprägt von einer Parallelität anhaltender Schockstarre und kreativer Agilität. Plötzlich wurden vielfältige Lösungen gefunden und unbekannte Wege erprobt, wie es doch gelingen kann: das gemeinsame Lehren und Lernen im virtuellen Raum.
 

Von Sabine Brachmann-Bosse

Im Frühjahr 2020 stellte die plötzliche Schließung der Schulen in nahezu allen Ländern der Welt Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Eltern und Bildungsbeauftrage vor ungewohnte Herausforderungen. Der physische Unterricht im Klassenraum wurde von einem Tag auf den anderen in heimische Wohn- und Kinderzimmer verlegt. Schnell war klar, hier handelt es sich nicht um eine kurze Unterbrechung des Schulbetriebs, wie man es teilweise von ein- bis zweiwöchigen Grippeferien kennt. Nein, der weltweit ausgerufene Pandemiezustand war langfristig und unbestimmt gleichermaßen. Niemand kannte die Zeitdimension, in der die Corona-Pandemie das öffentliche Leben weitgehend zum Stillstand brachte. Für die Institution Schule, die auf festen Daten, Stundenplänen, Curricula und Prüfungsterminen und vor allem auf der sozialen Interaktion im physischen Raum basiert, brach damit das grundlegende Fundament weg. Einen ausgearbeiteten Krisenplan, einen Plan B, gab es zu Beginn der Pandemie weder in den Bildungsministerien noch an den Schulen selbst.

die Pandemie als Katalysator für agile Lösungen


Rückblickend waren die ersten Wochen der Pandemie an vielen Schulen geprägt von einer Parallelität anhaltender Schockstarre und kreativer Agilität. Plötzlich wurden vielfältige Lösungen gefunden und unbekannte Wege erprobt, wie es doch gelingen kann: das gemeinsame Lehren und Lernen im virtuellen Raum.

Dies ist der Ausgangspunkt für ein langfristiges Bildungsprojekt der Goethe-Institute in Südosteuropa in Zusammenarbeit mit Pilotschulen und Bildungspartnern in Albanien, Bulgarien, Griechenland, Kosovo, Kroatien, Nordmazedonien, Rumänien und der Türkei: das Projekt "Remote Schools".

"Remote Schools" greift Erfahrungen und Praxisbeispiele aus dem schulischen Distanzunterricht in Südosteuropa auf, ermöglicht Schulleiterinnen und Schulleitern sowie Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern sich zu vernetzen und sich sowohl über Frustrationsmomente als auch Erfolgserlebnisse während der Pandemie auszutauschen. Beide Zielgruppen erhalten durch ihre Beteiligung am Projekt außerdem umfassende Beratungs-, Informations- und Fortbildungsangebote rund um die Themen digitales Lehren und Lernen sowie schulische Transformationsprozesse.

Ziel ist es, die an den insgesamt 34 Pilotschulen erprobten Verfahren und Methoden gemeinsam mit den Bildungspartnern in einer abschließenden Fachtagung zu diskutieren, Potentiale für die weitere Schulentwicklung zu identifizieren und je nach Land langfristig in lokale Bildungsstrukturen zu verankern.
"Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie © © Iliyan Ruzhin "Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie © Iliyan Ruzhin

schulisches Distanzlernen – ein Paradigmenwechsel


Bereits der kollegiale Austausch in den Auftaktveranstaltungen des Projekts im März dieses Jahres zeigte: Viele Lehrerinnen und Lehrer haben in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie Erstaunliches geleistet und eigene kreative Ideen entwickelt.

Panagiotis Giatras, Deutschlehrer an einem Gymnasium in Athen, beschreibt diese Monate wie folgt: "Ich habe mich an das Zitat ´Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, denn sie könnten in Erfüllung gehen' erinnert. Ich habe mir immer gewünscht, Zeit zu haben, um meinen Lernstoff mit Medien zu bereichern und das Distanzlernen in Verbindung mit der Corona-Krise hat mir diese Chance gegeben. So habe ich vielmehr als sonst gearbeitet und ich glaube, das gilt für alle Lehrkräfte, wir haben unendliche Stunden vor dem Bildschirm gesessen."[1]

Doch oft war in den Diskussionen auch der Anspruch der Teilnehmenden zu erkennen, den Präsenzunterricht eins zu eins in den virtuellen Raum verlagern zu wollen. Das Bewusstsein, dass sich nicht nur die technischen Rahmenbedingungen des Unterrichts verändert haben, sondern der Online-Unterricht stattdessen einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Unterrichtsdidaktik und -methodik bewirkt hat, kam in der fortschreitenden Diskussion der Auftaktveranstaltungen immer mehr zum Vorschein.

Fragen, die sich die 42 Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer und 34 Schulleiterinnen und Schulleiter dabei stellten, waren u.a.: Wir kann die klassische Klassenzimmerkommunikation in das heimische Wohnzimmer übertragen werden? Wie gelingt es mir als Lehrkraft, alle Schülerinnen und Schüler einzubeziehen und anzusprechen? Wie viel "online" darf und kann ich vor allem jungen Schülerinnen und Schülern zumuten? Wie werden Lerninhalte vermittelt und wie können trotz veränderter Formate die Lernziele erreicht werden? Und vor allem: Wie motiviere ich als Lehrkraft meine Schülerinnen und Schüler zum selbständigen (Deutsch)lernen?

Diese und weitere Fragen vertiefen die teilnehmenden Lehrkräfte im Projektjahr 2021 in vier Modulen, die sich aus synchronen Online-Live-Workshops und einer asynchronen Praxisphase zusammensetzen:
 
Digitale Kompetenzen: Auf Basis des DigCompEdu (Europäischer Rahmen für die digitale Kompetenz Lehrender)[2] analysieren die teilnehmenden Deutschlehrkräfte in diesem Modul ihre vorhandenen digitalen Kompetenzen. Der Referenzrahmen dient gleichzeitig als Verständigungsgrundlage und Instrument für Zielvereinbarungen mit Schulleitung und übergeordneten Bildungsbehörden. Im Mittelpunkt des Moduls stehen die Kompetenzbereiche des DigCompEdu. Die Teilnehmenden entwickeln gemeinsam Strategien zur Weiterentwicklung ihrer digitalen Kompetenz in einem Bereich ihrer Wahl.

Methodik und Didaktik: Methodisch-didaktische Kenntnisse des Fremdsprachenunterrichts sind auch beim Online-Unterricht die zentralen Voraussetzungen für eine gelungene Unterrichtsplanung der Lehrkraft. Dennoch erfordert die Durchführung des Unterrichts im virtuellen Raum eine andere Perspektive auch auf die Planung und schafft, qua Medium, neue Begegnungs- und Austauschformate für Lehrende und Lernende. In diesem Modul geht es daher um die Gewichtung und Verzahnung von synchronem und asynchronem Lernen, um die Schüleraktivierung in Online-Live-Sitzungen, um Strategien für kollaboratives Lernen, die Förderung der Lernerautonomie und die Arbeit mit digitalen Lehrwerken. Die Teilnehmenden betrachten methodisch-didaktische Fragestellungen des Lehrens und Lernens im virtuellen Raum, lernen digitale Unterrichtsideen und Tools kennen und entwickeln selbst eine schüleraktivierende Unterrichtseinheit.

Beziehungsarbeit: Distanzlernen, so legt der Begriff schon nahe, erzeugt zunächst eine räumliche, technische und oftmals auch soziale Barriere zwischen den Beteiligten. Die typische Klassenraumatmosphäre, das 5-Minuten-Gespräch zwischen Lehrkraft und Schülerin oder Schüler nach dem Unterricht stellt sich beim virtuellen Unterricht nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit ein. Lehrende klagen darüber, dass Schülerinnen und Schüler ihre Kamera nicht einschalten und ihnen dadurch der natürliche Resonanzraum fehlt. Doch es gibt Möglichkeiten, auch über die virtuelle Distanz Nähe aufzubauen und Beziehungen zu etablieren. In diesem Modul setzen sich die Teilnehmenden daher mit der Frage auseinander, wie es Lehrkräften gelingt, bei Schülerinnen und Schülern Hemmungen abzubauen und sie zu motivieren, sich aktiv in den Online-Unterricht einzubringen. Auch Formen von Feedback und geeignete Kommunikationskanäle und -formate sind Inhalte dieses Moduls.

Organisation und Administration: Online-Unterricht und Distanzlernen stellen wie der Präsenzunterricht auch besondere organisatorische und administrative Anforderungen an das Schulpersonal: Wie erfolgt die Leistungsmessung und wie können Prüfungen online durchgeführt werden? Wie lassen sich Elternabende und Elternkommunikation online gestalten? Welche technische Ausstattung benötigt eine Schule oder eine Familie für erfolgreiches Distanzlernen und wie verhält es sich mit dem Datenschutz? In diesem Modul tauschen sich die Teilnehmenden über Best-Practice-Beispiele aus und finden gemeinsam Wege, das Distanzlernen sukzessive in den Schulalltag zu integrieren, verlässliche Strukturen zu etablieren und durch eine Steuerungsgruppe an der Schule gemeinsam weiterzuentwickeln.

"Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie © © Iliyan Ruzhin "Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie © Iliyan Ruzhin

digitaler Transformationsprozess: auf die Schulleitung kommt es an


Neben den Deutschlehrkräften an den 34 Pilotschulen steht bei "Remote Schools" eine weitere wichtige Zielgruppe im Vordergrund: die Schulleiterinnen und Schulleiter sowie Vertreterinnen und Vertreter der Bildungsbehörden in den beteiligten Projektländern. Sie sind es, die den Digitalisierungsschub durch die Corona-Krise an ihren Schulen aufgreifen, administrativ steuern und nachhaltig weiterentwickeln. Das wachsende agile Potential, das durch die Corona-Pandemie an vielen Schulen entstanden ist, macht diese Schulen zu einem Spiegelbild der Gesellschaft: Sie bewegen sich mit und bewegen selbst. Analog zu dieser Entwicklung verändert sich die Rollenerwartung an Schuleiterinnen und Schulleiter: Neben einer stabilisierenden Leitungs- und Führungsfunktion unterstützen sie ihre Schulen zunehmend in der Flexibilisierung von Prozessen, um neue digitale Herangehensweisen zu ermöglichen.

In vier Workshops, Expertenbefragungen und umfassenden Coaching-Angeboten setzen sich die Schulleiterinnen und Schulleiter daher mit den Themen agiles Management, Transformationsentwicklung und Change Management sowie digitale Schulentwicklung auseinander.

Auch wenn beide Zielgruppen, Deutschlehrkräfte sowie Schulleiterinnen und Schulleiter sich im Verlauf des Projektes zunächst getrennt austauschen und fortbilden, so verfolgt das Projekt dennoch die partizipativ geprägte Zusammenarbeit aller Beteiligten: Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern und Betreuungspersonen, Schülerinnen und Schüler sowie Vertreterinnen und Vertreter der Bildungsbehörden. Denn erfolgreiches Lernen und Lehren erfordert ein funktionierendes Zusammenspiel von Organisation, Mensch und Technik. Dass nicht immer alle drei Komponenten im digitalen Lernprozess von Schülerinnen und Schülern optimal aufeinander abgestimmt werden können, zeigt sich vor allem bei sozial und sozioökonomisch benachteiligten Kindern, denen die technischen Voraussetzungen oder die familiäre Unterstützung für den schulischen Online-Unterricht fehlen.

Online-Fachtagung zum schulischen Distanzlernen am 04.12.2021


Diese und andere Aspekte des schulischen Distanzlernens werden in einer großen Online-Fachtagung am 04.12.2021 thematisiert. Projektteilnehmende, Bildungsexpertinnen und –experten, Bildungspartner sowie weitere interessierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschen sich bei der zweisprachigen Online-Konferenz (DE/EN) über ihre Erfahrungen, methodisch-didaktische Implikationen des Online-Unterrichts und Transformationsprozesse an ihrer Bildungseinrichtung aus und diskutieren Chancen und Potentiale, die sich aus der Etablierung des Distanzlernens durch die Corona-Krise auch für die Zeit nach der Pandemie ergeben.

Denn auch wenn die Corona-Pandemie eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation darstellt: Konzepte und Materialien zum Distanzlernen, virtuelle Austauschformate im Schulalltag und digitale Kommunikationsformen mit Eltern werden auch nach der (Teil)Öffnung der Schulen von großer Bedeutung für alle Beteiligten sein. "Von der Vorstellung, dass Unterricht wieder genauso sein wird wie vor der Pandemie, sollten sich alle Beteiligten verabschieden" bekräftigt auch der Bildungsjournalist Armin Himmelrath und fordert, Schule dürfe sich nicht länger um ordentliche Fernlernkonzepte drücken.[3]
"Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie © © Iliyan Ruzhin "Remote Schools": Schulisches Distanzlernen während und nach der Corona-Pandemie © Iliyan Ruzhin

Zukunftsszenarien für die Integration des Online-Unterrichts in den Schulalltag


Es ist davon auszugehen, dass sich das Infektionsgeschehen in vielen Ländern weiterhin wellenartig entwickeln wird und Schulen demnach immer wieder zwischen verschiedenen Präsenz-, Teilöffnungs- und Fernunterrichtsszenarien pendeln. Für all diese Szenarien sowie deren Übergänge sollte es verbindliche Steuerungs-, Handlungs- und Kommunikationskonzepte geben, so dass das kommende Schuljahr trotz anhaltender Pandemie dennoch weitgehend störungsfrei ablaufen kann und die Schule ihrer Funktion als Lern- und Erfahrungsraum zu jeder Zeit gerecht werden kann.

Der Austausch im Projekt "Remote Schools" legt den Fokus aber auch auf die Zeit nach der Corona-Pandemie, die zwar alle Beteiligten berechtigterweise herbeisehnen, die jedoch auch die Gefahr birgt, dass Bildungsbeauftragte schnell wieder zu gewohnten Routinen des rein präsentischen Unterrichts zurückgreifen. Dabei hat das Distanzlernen in den letzten Monaten an den Schulen Südosteuropas viele Potentiale freigesetzt, die es lohnt, auch nach der Pandemie fortzusetzen und weiterzuentwickeln. So gibt es in Bulgarien seit Jahren ein Schichtsystem an Schulen, da die Anzahl der Schulgebäude in den Großstädten nicht ausreicht. Hier könnte in Zukunft durch eine stärkere Gewichtung des Distanzlernens eine Entlastung erfolgen. Denn während der Präsenzunterricht vor allem für die jüngeren Kinder wichtig ist, könnte mit steigendem Alter der Schülerinnen und Schüler der Anteil des Online-Unterrichts sukzessive zunehmen.

Auch hybride Unterrichtsszenarien wie beispielweise digitale Projektarbeit, Flipped-Classroom und andere Online-Selbstlernkonzepte oder spielerische Lernangebote sollten nicht wie oft bisher in die Freizeit der Schülerinnen und Schüler gelegt werden, sondern integraler Bestandteil einer synchronen präsentischen und asynchronen virtuellen Unterrichtsplanung werden.

Auch Daniela Nabu Sbiera, Deutschlehrerin aus Rumänien, argumentiert mit Blick auf eine langfristige Zukunftsperspektive: "Ich denke, dass wir diesen Schritt nicht mehr zurückgehen können. Es bleibt ein Vorteil für Schülerinnen und Schüler, die kurzfristig durch Krankheit oder ähnliches verhindert sind, am Unterricht teilzunehmen und den Kontakt zur Schule zu sichern. Die unterschiedlichen Lernplattformen, die unsere Schule benutzt, können für die Kommunikation mit Schülerinnen und Schülern und künftig für unterschiedliche Arbeitsaufträge genutzt werden."[4]


Aktuelle Informationen zum Projekt "Remote Schools" der Goethe-Institute in Südosteuropa und zur Online-Fachtagung am 04.12.2021 finden sich auf: www.goethe.de/soe/remote-schools

 
[1] Das gesamte Interview ist auf www.goethe.de/soe/remote-schools einsehbar.

[2] www.ec.europa.eu/jrc/en/digcompedu

[3] Armin Himmelrath, Julia Egbers (2020): Das Schuljahr nach Corona – was sich jetzt ändern muss. Bern: hep-Verlag.

[4] Das gesamte Interview ist auf www.goethe.de/soe/remote-schools abgebildet.

Top