Tschechischer Buchmarkt
Übersetzung deutscher Literatur 2014

Jitka Nešporová
Jitka Nešporová | Foto: Jitka Nešporová

Neue Übersetzungen der deutschen Literatur sind auf dem tschechischen Buchmarkt gut vertreten. Klassische Autoren bilden darunter keine selbstverständliche Mehrheit. In der Regel handelt es sich um Schriftsteller, die in Deutschland zu bedeutenden Vertretern der aktuellen Literaturszene zählen. 

Der Bericht über den tschechischen Buchmarkt 2013/2014, der vom Verband tschechischer Buchhändler und Verleger veröffentlicht wurde, bestätigt erneut einen langfristigen Trend: unter den Sprachen, aus denen am meisten ins Tschechische übersetzt wird, folgt Deutsch dem dominierenden Englisch gleich auf Platz zwei. Im Jahr 2013 erschienen 924 aus dem Deutschen übersetzte Titel, und es ist anzunehmen, dass für 2014 die Summe ähnlich ausfällt. Ich konzentriere mich jedoch nicht auf die Hunderte von Ratgebern, Reiseführern, Fachbüchern und Konsumtiteln, sondern nur auf die bedeutendsten belletristischen Werke. In meiner Aufzählung erinnere ich auch an einige Genretitel, die in ihrer Qualität den Genredurchschnitt überragen oder ggf. die Bandbreite des Buchangebots manifestieren. In der Auswahl nicht enthalten ist auch das deutschsprachige Schaffen aus Österreich bzw. der Schweiz, hier soll es nur um „deutsche Literatur aus Deutschland“ gehen. Ebenso wenig berücksichtige ich das Drama, und bis auf eine einzige Ausnahme habe ich auch keine Poesieübersetzung berücksichtigt.
Die unten angeführte Liste verdeutlicht die außerordentliche Vielfalt, in der sich unterschiedliche Intentionen von Autoren, das Interesse der Verleger und der Geschmack der Leser widerspiegeln. Dieses bunte Gemisch zu gliedern ist recht schwierig; ein gemeinsamer Nenner könnte eine sog. Rückzahlung von Schuld(en) (Müller, Hilbig, Schmidt), ein anderer vielleicht die Beliebtheit bei den Lesern oder die Nachfrage sein, auf die thematisch verknüpfte Buchserien reagieren (insbesondere im Genre Krimi, Romanze und Kinder- und Jugendlektüre). Festzustellen sind auch andere partielle Details, z. B. in der Biographie der Autoren oder im Autorenstil, allerdings ist diese Affinität unter den im 2014 erschienenen Titeln wohl nur Zufall. Ich stelle die von mir ausgewählten Bücher kurz in alphabetischer Reihenfolge nach dem Familiennamen ihrer Autoren vor: zuerst die schöngeistige Literatur, anschließend dann die Genretitel Krimi, Romanze, Non-Fiction, Kinder- und Jugendbücher und Sonstiges.

Herrndorf, Wolfgang. Písek. Překlad Michaela Škultéty. Praha, Argo 2014. 368 S.
Herrndorf, Wolfgang. Sand. Berlin, Rowohlt 2011. 480 S.

Für seinen letzten Roman Sand (2012) erhielt der im letzten Jahr verstorbene Schriftsteller und Illustrator Wolfgang Herrndorf (1965–2013) den Preis der Leipziger Buchmesse. Die Kritik schrieb über ihn: „Vor diesem Roman steht man selbst wie vor einer riesigen Sanddüne. [1] Wer das Buch betritt, verlässt den festen Boden gewohnter Lesegewohnheiten. Bis zum Schluss hat der Leser das Gefühl, ihm sei etwas entgangen.“ Dieser formal gewagte Roman, zwischen Krimi, Thriller und Satire changierend, entfaltet seine Handlung in Nordafrika, offensichtlich in Marokko. Bei den Olympischen Spielen wird eine Geisel genommen, die Polizei untersucht den Mord an vier Opfern aus der Hippie-Szene. Gestalten und Verwicklungen kommen hinzu, jeder sucht etwas. Und findet nichts. Die Atmosphäre der Geschichten ist dunkel – im Unterschied zum vorherigen Buch des Autors mit dem Titel TSCHICK (Čik), ein Roadmovie (nicht nur) für die Jugend. Beide Titel wurden von Michaela Škultéty für den Verlag Argo ins Tschechische übersetzt. 

Hilbig, Wolfgang. Provizorium. Překlad Petr Dvořáček. Praha, Prostor 2014. 232 S.
Hilbig, Wolfgang. Das Provisorium. Frankfurt am Main. S. Fischer Verlag, 2000. 319 S.

Wolfgang Hilbig (1941–2007), von seiner Herkunft her ein ostdeutscher Dichter und Prosaiker, schrieb, nachdem er in den Westen gegangen war, drei Romane. Der letzte und autobiographischste mit dem Titel Das Provisorium spiegelt bereits durch seinen Namen die bitter erlebte Erfahrung des Verlusts des Zuhauses und der Unmöglichkeit, in der neuen (kapitalistischen) Welt Wurzeln zu schlagen wider. Der Schriftsteller C. verliert allmählich seine Fähigkeit zu schreiben, aber auch zu lieben. Er führt, eingehüllt von Alkoholdunst, ein provisorisches Leben. Herausgegeben vom Verlag Prostor in einer Übersetzung von Petr Dvořáček.  

Müllerová, Herta. Nížiny. Překlad Radka Denemarková. Praha, Mladá fronta 2014. 150 S.
Müller, Herta. Niederungen. München, Carl Hanser Verlag 2010. 176 S.

Mit etwas Übertreibung kann man sagen, Herta Müller (geb. 1953) musste den Nobelpreis für Literatur erhalten (2009), damit die tschechischen Leser ihre Bücher lesen können. Wer schon die Novelle Der Reisepass oder die Romane Atemschaukel und Herztier (herausgegeben vom Verlag Mladá fronta) gelesen hat, hat eine Vorstellung davon, was ihn in dem 2014 herausgegebenen Erzählband Niederungen erwartet, mit dem Müller in den achtziger Jahren ihr Debüt feierte. Eine genaue Sprache voller Metaphern, dabei kühl, mit dem Thema Leben in Vereinsamung und in einer Atmosphäre der Angst vor einem totalitären Regime. Schon der Titel selbst ist als Metapher für die moralische Zerstörung der Einwohner von Stadt und Land zu interpretieren, die in allen neunzehn Erzählungen gegenwärtig ist. Die Übersetzerin des Werkes von Herta Müller, Radka Denemarková, bemerkt im Nachwort: „Das Wichtigste, das Wertvollste für die Menschheit ist ein Leben in Würde. Nicht das Überleben um jeden Preis.“ 

Schädlich, Hans Joachim. Veličenstvo, chvátám. Voltaire u Friedricha II. Překlad Vratislav Slezák. Praha, Argo 2014. 184 S.
Schädlich, Hans Joachim. Sir, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle. Reinbek, Rowohlt Verlag 2011. 144 S.

Historische Themen werden üblicherweise in einer blumigen Sprache, in reichen Kulissen aus der damaligen Zeit und mit einem ganzen Arsenal an Gestalten und partiellen Episoden behandelt. Das genaue Gegenteil tat Hans Joachim Schädlich in der schmalen Novelle Sir, ich eile: über die Zeit voller Schnörkel schreibt er sozusagen in kargen Sätzen, er vollführt einen reinen sprachlichen Minimalismus. Und stellt dabei unter Beweis, wie kompliziert die Beziehung des preußischen Despoten Friedrich II. und des hartnäckigen französischen Freidenkers Voltaire war. Und dass wieder einmal eine Frau Recht hatte … Die deutsche Ausgabe kam genau richtig zum dreihundertsten Geburtstag von Friedrich II. heraus, in Tschechien erscheint das Buch mit drei Jahren Verspätung in der ausgefeilten Übersetzung von Vratislav Slezák. 

Strauss, Botho. Marlenina sestra. Teorie hrozby. Překlad Alice Rahmanová. Praha, Dauphin 2014. 126 S.
Strauß, Botho. Marlenes Schwester. Theorie der Drohung. München, Carl Hanser Verlag 1985. 112 S.

Das Dramenschaffen von Botho Strauß (geb. 1944) wurde bereits in den 80-er Jahren von Milan Tvrdík ins tschechische Umfeld eingeführt. Botho Strauß´ Prosaschaffen hat sich der Verlag Dauphin angenommen: im Jahr 2010 gab dieser Wohnen Dämmern Lügen heraus, in diesem Jahr den Erzählband Marlenes Schwester. Theorie der Drohung; beide Titel in einer Übersetzung von Alice Rahmanová. Eine fragile Existenz am Rande der Gesellschaft, das immer neue Schreiben von Geschichten, permanentes neues Definieren, romantische Elemente von Vampirismus und ständiger Suche, existenzielle Unsicherheit und Schwäche – diese Attribute lassen sich beiden Erzählungen zuschreiben. Die Hauptfiguren sind namenlos, bloße Träger von Rollen: Marlenes Schwester hat weder die Kraft zu leben, noch aus dem Leben zu scheiden, sie klammert sich an ihre Adoptivschwester und tritt in eine erdachte Handlung ein. Der Schriftsteller aus der zweiten Erzählung wiederum nimmt allmählich die Identität seiner (weiblichen) Gestalt an, über die er schreibt. Verwandlungen sind übrigens für Strauß´ Prosaschaffen symptomatisch. 

Schmidt, Arno. Brandovo blato. Překlad Michaela Jacobsenová. Zblov, Opus 2014. 118 S.
Schmidt, Arno. Brand‘s Haide. Hamburg, Rowohlt Verlag 1951.

Arno Schmidt (1914–1979), einer der originellsten deutschen Nachkriegsprosaiker, wirkte auch als Übersetzer. Selbst jedoch gehört er aufgrund seines Sinns für Neues und seines semantischen Tiefgangs nicht zu denjenigen, die besonders oft übersetzt werden. Der sog. Kurzroman Brand´s Haide aus dem Jahre 1951 erschien im 2014 Jahr im Verlag Opus nach den zwei Sammelbänden von frühen Prosastücken Leviathan und Weilaghiri. Höllenstadt und dem „bürgerlichen“ Roman Aus dem Leben eines Fauns. Es handelt sich anscheinend um das autobiographischste Buch aller Werke Schmidts – darin tritt eine Person auf, die den Namen des Autors trägt, der Text hat Tagebuchcharakter, gleichzeitig aber zeichnet er sich durch eine Kreuzung von Zeitachsen, einer Umsetzung topographischer Realien, Allusionen auf andere literarische Texte, eine Vermischung der biographischen Fakten aus Schmidts Leben, aber auch des deutschen Romantikers Friedrich de la Motte-Fouqué, dessen Biographie Schmidt schrieb, aus. Dieses höchst literarische Werk erschien mit sachkundigen Erklärungen und einem Nachwort der Übersetzerin Michaela Jacobsenová. 

Velasco, Stefanie de. Tygří mlíko. Překlad Jana Zoubková. Praha, PLUS 2014. 240 S.
Velasco, Stefanie de. Tigermilch. Köln, Kiepenheuer und Witsch 2013. 288 S.
An Herrndorfs Tschick erinnert in seiner Kadenz und seinem empathischen Erzählstil – so die Kulturrubrik des Spiegels – der „Berliner“ Roman Tigermilch, das Erstlingswerk der Autorin, das für das suggestiv gezeichnete Abbild des Lebens junger Menschen von heute in einer Stadt ausgezeichnet wurde. Er erzählt die Geschichte zweier unzertrennlicher Freundinnen, der vierzehnjährigen Nina und Jameelah, die in einer kleinen Berliner Siedlung unter vielen nationalen Minderheiten leben. Im Sommer entschließen sich die Mädchen zu einem Sexabenteuer, doch was als Spaß beginnt, wird nicht gut enden …

[1] Andrea Hünniger: „Die Wüste ist ein sinnloser Ort“. © Die ZEIT, 17. November 2011