Sozialistische Architektur heute
„In postsozialistischen Städten wurde zu wenig geplant“

Stefan Rettich
Stefan Rettich | Foto: Martin Nejezchleba

Stefan Rettich projektuje hodnotné městské prostory pro život. Jeho nejznámějším projektem je knihovna pod širým nebem. S česko-německým magazínem mluvil o prázdnotě městských center, domovních hlídačích a architektuře proti násilí.

Herr Rettich, Sie wohnen und arbeiten derzeit vor allem in Norddeutschland, Ihr Architekturbüro KARO ist in Leipzig, Sie haben an mehreren Projekten in Mittelosteuropa gearbeitet, heute sind Sie Gast des Festivals reSite, das sich mit urbanem Design in Prag beschäftigt. Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, das postsozialistische Städte ausmacht?

Im Sozialismus wurden die Innenstädte vernachlässigt. Die Antwort auf die Wohnungsfrage war der modernistische, industrialisierte Wohnungsbau: die Plattenbausiedlungen. In Leipzig hat das zu extrem hohen Leerständen in der Innenstadt geführt. Ein neuer Ring von Einkaufszentren an den Stadträndern hat das in allen postsozialistichen Städten verstärkt. Die Suburbanisierung ist mit extremer Wucht nachgeholt worden, es kam zu einer unkontrollierten Ausdehnung in den ländlichen Raum. Das ist in Osteuropa massiver geschehen, als in Ostdeutschland. Dort bekamen sie Schützenhilfe von Planern aus dem Westen, bei denen dieser Prozess schon 20 Jahre zuvor abgelaufen war.
Plattenbausiedlung Plattenbausiedlung | © Flickr unter Lizenz von /pod licencí CC BY-SA 2.0, Foto: neverending september
Haben Architekten in den neueren EU-Ländern auch einen anderen gesellschaftlichen Stand?

Der Markt hat hier viel stärker das Geschehen diktiert. Es gab hier lange kein politisches Verständnis dafür, dass man Prozesse steuern, manche gar verhindern muss. Es gab auch keine gewachsene Kultur von Kleininvestoren. In Ostdeutschland kam noch etwas hinzu und ich denke, in anderen Ländern lief das ähnlich. Im Einheitsvertrag wurde für Immobilien die während des Sozialismus enteignet wurden die Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“ festgelegt. Die Folge waren Rechtsstreite, die sich Jahrzehnte lang zogen. Weder die DDR-Eigentümer noch der Restitutionseigentümer haben in diese Immobilien investiert. Die Häuser sind verfallen.

Die Zeit der Wächter

In Prag liefen ähnliche Prozesse ab. Noch immer gibt es leerstehende Häuser im Zentrum. Teilweise kommt es dabei zur Zwischennutzung für temporäre Projekte …

Gründerzeithaus in der Lützner Straße in Leipzig  Gründerzeithaus in der Lützner Straße in Leipzig | © Flickr unter Lizenz von/pod licencí CC BY 2.0, Foto: LE Mon. hist. In Sachen Zwischennutzung ist Leipzig zum Beispiel sehr interessant. In einem der Projekte unserer Architektengruppe L21 ging es um Gründerzeithäuser an der Lützner Straße, die zum größten Plattenbaugebiet in Grünau führt. Das waren Stadtglieder, bei denen gar nichts mehr lief. Alles sah danach aus, als könne man die Bausubstanz nicht mehr halten. Wir haben dort das sogenannten Wächterhausmodell entwickelt: Man überredet den Eigentümer, für fünf bis zehn Jahre auf sein Nutzungsrecht zu verzichtet. Als Anreiz muss er keine Grundstückssteuer zahlen und die Stadt investiert in die Sanierung des Daches. Dann ist das Haus vorbereitet für die Wächter, die als Zwischennutzer einziehen. In der Lützner Straße gibt es inzwischen zwanzig solcher Häuser. Das Prinzip dieser Steuerungsmodelle ist einfach: Man versucht alle Beteiligten ins Gespräch zu bringen und eine Win-win-Situation zu schaffen.

Aus dem Zwischennutzungsmodell ist also etwas Dauerhaftes geworden?

Nein. Im Moment befinden wir uns in einer spannenden Übergangsphase. Inzwischen hat eine rasante Gentrifizierung stattgefunden. Mit Sicherheit werden die Eigentümer die auslaufenden Verträge nicht verlängern. Jetzt wollen manche Wächter ihr Haus übernehmen. Sie könnten es kaufen und so zu Eigentümern werden.
Proteste gegen den Gentrifizierungsprozess Proteste gegen den Gentrifizierungsprozess | © Flickr pod licencí CC BY 2.0, Foto: srbanister
Kann man Gentrifizierungsprozesse aufhalten, wenn ein Zwischennutzungsmodell Erfolg hat?

Viele Fachleute sagen, dass man das nur schafft, indem man ausreichend andere Angebote schafft, mit Neubaumaßnahmen also. Ich finde auch: man muss die Zwischennutzer am Aufwertungsprozess beteiligen. In Deutschland stagnieren oder schrumpfen 90 Prozent der Städte. Die übrigen 10 Prozent wachsen aber auch nur durch Migration, entweder aus dem Ausland oder von Stadt zu Stadt. Relativ neu ist, dass die Leute wieder in die Zentren drängen. Das alles führt zu extremen Verdrängungseffekten. Für Bremen haben wir mit meinen Studenten versucht, ein Gentrifizierungsbarometer zu erstellen. Wenn man die Faktoren kennt, dann kann man versuchen auf die Prozesse zu reagieren.

Naivität bewegt

Im Goethe-Projekt „Making Heimat“ haben Sie sich mit Kollegen aus Deutschland und Ungarn mit dem Budapester Viertel Magdolna beschäftigt. Die Hälfte der Bevölkerung dort gehört der Roma-Minderheit an, die andere Hälfte sind ethnische Ungarn. Das birgt Konfliktpotenzial. Wie können Architekten hier eingreifen?

Uns ging es um eine Imagefrage. Es gibt in dieser Gegend andere Viertel, die ein eigenes Image entwickelt haben – Little Paris etwa. Wir haben also versucht, das Image einer Roma City zu schaffen und so eine Aufwertung mit Hilfe der Roma-Kultur in Gang zu setzen. Wir haben überlegt, wie man die Arbeitslosigkeit mindern könnte, etwa in dem man Roma-Restaurants oder Manufakturen für traditionelle Produkte schafft. Dazu haben sich die vielen Brownfields im Viertel angeboten. Wir wollten ökonomische Grundlagen schaffen und den Stadtteil insgesamt interessanter machen. Das waren natürlich nur erste Ansätze, die vielleicht auch etwas naiv positiv waren. Aber ich denke, wenn man etwas in Gang setzen möchte, ist das auch gut so.
Entwurf für das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal, das die Wiederverwendung von Fassadenteilen der Stasi-Zentrale vorschlägt, um daraus ein Zimmer der Demokratie zu errichten. Entwurf für das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal, das die Wiederverwendung von Fassadenteilen der Stasi-Zentrale vorschlägt, um daraus ein Zimmer der Demokratie zu errichten. | © KARO* architekten
Und können Architekten denn nun etwas gegen konkrete Konfliktsituationen tun?

An einer Hochstraße in der Bremer Innenstadt gibt es eine Art Diskomeile. Dort kam es ständig zu Schlägereien. Es wurde eine Waffenverbotszone ausgesprochen, es gab Sozialarbeiter, die jederzeit ansprechbar waren – ein echter Konfliktherd. Meine Studenten haben sich das angesehen und gesagt: klar, da führt eine Straße entlang, die man eigentlich nicht braucht und der Gehweg ist viel zu schmal. Es ist logisch, dass es zu Rempeleien kommt. Der Vorschlag war, die Straße zu verlegen und einen Outdoor-Bereich für die Diskotheken zu machen. Das ist ein Paradebeispiel dafür, wie man über die Gestaltung des sozialen Raums erkennt, wo Ursachen für Gewalt liegen. Hier können Architekten konkret eingreifen.

Stefan Rettich ist Theoretiker und Praktiker zugleich. An der School of Architecture Bremen unterrichtet er Theorie und Design. Mit seinem Büro KARO* architekten entwickelt er handfeste Lösungen für privaten und öffentlichen Raum. Mit KARO stellte er auf der elften und dreizehnten Architekturbiennale in Venedig aus und gewann den Europäischen Preis für urbanen öffentlichen Raum. Zu seinen bekanntesten Projekten gehört die Freilichtbibliothek in Magdeburg.