Kaninchenställe am Scheideweg

© Goethe-Institut / Martin Nejezchleba

Reisenden in den Ländern Mittel- und Osteuropas kündigen sie bereits von weitem die sich nähernde Stadt an. Wie stumme Zeitzeugen des real-existierenden Sozialismus ragen die riesigen Plattenbausiedlungen aus der Landschaft und beeinflussen bis heute merklich die Struktur tschechischer Städte. In der Öffentlichkeit entfachte nach 1989 die Diskussion um die Zukunft der Wohnanlagen, die im Tschechischen abfällig Kaninchenställe (králíkárny) genannt werden.

Fast ein Drittel der tschechischen Bevölkerung lebt in seit Mitte der 1950er errichteten Plattenbausiedlungen. Pessimistische Szenarien der 1990er-Jahre klangen dramatisch, sahen sie doch massive Entvölkerung der Siedlungen, gefolgt von physischem Verfall und sozialem Abstieg, voraus. Obgleich sich tschechische Großwohnsiedlungen momentan mit einer Reihe von Problemen konfrontiert sehen – von Monofunktionalität über niedrige Qualität des Wohnumfelds bis hin zum Wegzug gebildeter und gut situierter Bewohner – kann man jedoch nicht allgemein von Degradierung oder gar Ghettoisierung sprechen.

Während der Zeit des Sozialismus waren Plattenbausiedlungen in Tschechien durch eine heterogene Zusammensetzung der Bewohner und eine relativ homogene demografische Struktur mit hohem Familien- und Kinderanteil charakterisiert. Durch die postsozialistische Transformation in Gang gesetzte Prozesse führen zu einer sozialen Polarisierung und damit zu wachsenden Gegensätzen innerhalb der Städte und Viertel. Haushalte mit hohem Einkommen und Familien mit Kindern verlassen die Siedlungen und suchen bessere Wohnverhältnisse, beispielsweise in Vororten. Sozial schwache Bewohner hingegen bleiben in unattraktiven und günstigen Wohnungen – meist befinden sich diese gerade in Plattenbauten.

Selektive Migration siebt somit die Bewohner von Großwohnsiedlungen nach sozialem und ökonomischem Status durch. Gleichzeitig altert die Population der Siedlungen und gerade in Plattenbauten älteren Baujahrs stellt der wachsende Anteil von Senioren ein potenzielles Problem dar. Ausländische Migranten sorgen zudem für eine ethnische Differenzierung in tschechischen Großwohnsiedlungen. Neben Roma konzentrieren sich dort auch andere ethnische Gruppen, wie zum Beispiel Vietnamesen oder Ukrainer.

Plattenbau ist nicht gleich Plattenbau


Gegenwärtig gibt es unter den tschechischen Plattenbausiedlungen große Unterschiede, pauschale Aussagen zu ihrer Entwicklung sind daher nicht möglich. Faktoren wie die Stellung einer Stadt im Besiedlungssystem, die Lage einer Siedlung innerhalb der Region sowie die ökonomische Attraktivität des Umfelds beeinflussen die Prognose für eine Großwohnsiedlung. In der Regel sind Siedlungen in wirtschaftlich stagnierenden und strukturell benachteiligten Regionen der sozialen Degradierung am stärksten ausgesetzt. Nordböhmen und Nordmähren sind Beispiele dafür. Eine komplett gegenteilige Situation herrscht in großen und prosperierenden Städten mit geringer Arbeitslosigkeit. So halten sich beispielsweise auf dem Prager Wohnungsmarkt aufgrund der starken Nachfrage die Preise aller Immobilien, auch der in Plattenbausiedlungen, auf einem hohen Niveau und verhindern so den sozialen Abstieg.

Unterschiede in der Entwicklung von Plattenbausiedlungen gibt es natürlich nicht nur zwischen den Regionen, sondern auch innerhalb einzelner Städte. Verkehrsanbindung ist dabei einer der entscheidenden Faktoren. Da ein großer Teil der urbanen Bevölkerung Tschechiens in Großwohnsiedlungen lebt, ist ein allgemeiner sozialer Abstieg dieser Wohnkomplexe unwahrscheinlich. Umso mehr beeinflusst daher die Attraktivität der einzelnen Lokalität deren Entwicklung.

Siedlungen in attraktivem Wohnumfeld mit gutem Zugang zu Nahverkehr und Dienstleistungen können sich ihre heterogene soziale Struktur bewahren und sich langfristig stabilisieren. Plattenbausiedlungen mit kleinen Wohneinheiten und verkommener Bausubstanz, mit schlechter Verkehrsanbindung und Infrastruktur sind am meisten gefährdet, sozial abzusteigen. In manchen Siedlungen überdauert zudem das sozialistische Erbe einer spezifischen sozialen Zusammensetzung der Bewohnerschaft. So zum Beispiel in Wohnkomplexen, die für Fabrikarbeiter errichtet oder in Quartieren, die im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus renoviert wurden.

In der Wohnraumdifferenzierung der heutigen Städte haben auch Privatisierungsprozesse eine entscheidende Rolle gespielt. Die Restitution ehemaligen Staatseigentums führte vor allem in attraktiven, zentralen Stadtvierteln zu Veränderungen und zur Zerstreuung der ehemaligen, sozial schwachen Bewohner. Die zogen in günstigere Lokalitäten am Stadtrand, oftmals eben in Plattenbausiedlungen. Die Privatisierung städtischen Wohneigentums hatte je nach Stadt und Stadtteil unterschiedliche Folgen. Trotz des deutlichen Rückgangs an Wohnungen in städtischem Eigentum, bleiben die Gemeinden wichtige Akteure in der Wohnraumentwicklung. Da sie eher selektiv denn umfassend an die Vitalisierung von Plattenbausiedlungen herangehen, droht letzten Endes die Verlagerung der Probleme – von vitalisierten auf andere Lokalitäten.


Drei Szenarien für tschechische Großwohnsiedlungen


Etwas vereinfachend, können wir drei Entwicklungsszenarien tschechischer Plattenbausiedlungen unterscheiden. Großwohnsiedlungen mit guten Aussichten befinden sich in der Regel in Großstädten. Sie benötigen kaum extensive Hilfsmaßnahmen. So ersetzen beispielsweise in Prager Plattenbausiedlungen dank des Generationenwechsels gut gebildete, junge Leute die wegziehenden Bewohner mittleren Alters und tragen so zum Erhalt der durchmischten soziodemografischen Struktur bei. Überalterung und sozialer Abstieg werden so im Zusammenspiel mit der steigenden Qualität des Wohnumfelds verhindert.

Beim zweiten Szenario kann man von Großwohnsiedlungen am Scheideweg zwischen Vitalisierung und Abstieg sprechen. Ihre Zukunft hängt von einer Reihe innerer und äußerer Faktoren ab, wobei besonders die Haltung der örtlichen Verwaltungen zu Privatisierung, zum sozialen Wohnungsbau und zur Vitalisierung wichtig ist. Das Risiko, dass sich sozial schwache Bevölkerungsgruppen konzentrieren, ist vor allem in Städten mit hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Exklusion hoch. Dem gegenüber profitieren Städte und Gemeinden in der Reichweite von Großstädten – wie im Beispiel Kladno bei Prag – von der Nähe attraktiver regionaler Zentren und vom Zuzug junger Menschen, die durch niedrigere Mietpreise angelockt werden. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass die Wurzeln problematischer Wohnanlagen auf der Ebene einzelner Häuser und Blocks zu suchen sind. Werden solche Inseln sozialer Benachteiligung rechtzeitig erkannt, können die betroffenen Wohnanlagen vor umfassenden Problemen bewahrt werden.

Großwohnsiedlungen mit einer Konzentration sozialer Probleme und geringer Hoffnung auf Besserung gehören zur dritten Kategorie. Während die Wurzeln heutiger Probleme in manchen Siedlungen bis in die Zeit des Sozialismus zurückreichen – zum Beispiel in der größtenteils durch Roma bewohnten Siedlung Chanov –, kommt es andernorts durch das Zusammenspiel von Faktoren wie wirtschaftlich schwache Haushalte, Privatisierungsprozesse und lokale Wohnungspolitik zu sozialen Problemen. Als Beispiel sei hier die Siedlung Máj in České Budějovice (Budweis) genannt. Physischer Verfall und sozialer Abstieg, in extremen Fällen bis hin zur Ghettoisierung, kennzeichnet gerade diese Gruppe von Plattenbausiedlungen.

Steigende Mobilität und qualitative Differenzierung des Wohnraums in tschechischen Städten führt zu einer deutlichen Umschichtung der Bewohner und zu einer Zunahme sozialer Unterschiede. Eine Reihe von Großwohnsiedlungen geriet so unter die unpopulärsten Wohnadressen. Der sukzessive Wegzug von Bewohnern mit höherem sozialem Status ist die Folge. Sozial schwächere Bevölkerungsschichten und ausländische Migranten werden dem gegenüber von günstigsten Wohnungspreisen angezogen, die gerade in besonders dürftig ausgestatten Plattenbausiedlungen gelten. Es ist also anzunehmen, dass von sozialer Exklusion bedrohte Lokalitäten zum größten Teil in den tschechischen Großwohnsiedlungen entstehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass allen Plattenbausiedlungen der physische und soziale Abstieg vorbestimmt ist.