Die Prager Südstadt… lebt!

Goethe-Institut Prag; Foto: Martin Nejezchleba

Manche Orte prägen durch ihre Eigenart das kollektive Gedächtnis und werden mit der Zeit zu Symbolen. In Prag ist die Südstadt eines dieser Symbole. Die größte Plattenbausiedlung Tschechiens wurde in einer Zeit gebaut, als der Faktor Mensch in der Raumplanung kaum eine Rolle spielte. Trotzdem war und ist die Südstadt ein lebendiger Ort.

In den über 50 Großwohnsiedlungen Prags leben ca. 40 Prozent der Stadtbevölkerung. Wenn man in der tschechischen Hauptstadt jemanden nach seiner ersten Assoziation zum Thema Plattenbausiedlungen fragt, so lautet die Antwort bei den meisten Südstadt (Jižní město). Für Außenstehende ist die größte tschechische Plattenbausiedlung die Verkörperung aller negativen Aspekte, die diese Form des sozialistischen Wohnungsbaus mit sich brachte. Die Bewohner der Südstadt hingegen haben das natürliche Bedürfnis, sich zumindest teilweise mit ihrem Wohnort zu identifizieren. Denn das eigene Zuhause lässt sich nicht als Arbeiterschließfach oder Kaninchenstall – wie die Platte in der tschechischen Umgangssprache genannt wird – erleben. Und es existieren sogar solche, die so etwas wie ästhetische Wertschätzung für Plattenbausiedlungen empfinden. Den Architekturtheoretiker Rostislav Švácha erinnern sie beispielsweise an abstrakte Kunst oder an die Malerei Piet Mondrians.

Damals…


Die Prager Südstadt sollte ursprünglich nach den Plänen der Architekten Lasovský und Krásný gebaut werden. Ihr Entwurf einer Satellitenstadt für 80.000 Einwohner mit intensiver städtischer Bebauung, situiert inmitten großzügiger Parkanlagen, gewann im Jahre 1968 einen urbanistischen Wettbewerb. Leider blieb bei der Umsetzung im Rahmen des sogenannten komplexen Wohnungsbaus – oder mit anderen Worten, im Rahmen des zentral organisierten Wohnungsbaus, geprägt durch extremen Sparzwang und einen nicht funktionierenden Markt – vom ursprünglich großzügigen Konzept kaum etwas übrig.

Die filmische Satire Panelstory (Originaltitel: Panelstory aneb jak se rodí sídlistě; Anm. der Redaktion) von Věra Chytlilová spiegelt die Situation nach Abschluss der ersten Bauetappe im Jahre 1976 wider, als die ersten Mieter ihre Wohnungen in der Umgebung der Plickova-Straße bezogen. Ein buntes Gemisch aus Bauarbeitern, prominenten Vertretern des Regimes, jungen Familien sowie Bewohnern, die aus dem Zentrum Prags umgesiedelt wurden. Sehr wohnlich war es damals noch nicht. Es fehlten medizinische Einrichtungen, Schulen, Geschäfte genauso wie Gehsteige oder Rampen für Kinderwägen in den Gebäudezugängen. Zur unentbehrlichen Ausrüstung für alltägliche Wege im matschigen Gelände gehörten Gummistiefel oder zumindest Plastikbeutel, die man sich über die Schuhe stülpte.

Beklagenswert war auch der Mangel an Telefonzellen. Um einen Arzt herbeizurufen, musste man beispielsweise auf einem Schalbrett über eine Baugrube balancieren und anschließend die komplette Warteschlange von der Dringlichkeit des Telefonats überzeugen. Bis heute erinnern sich die Bewohner der Südstadt daran, dass es ständig notwendig war, in die Stadt – also ins Zentrum Prags – zu fahren: Zum Einkaufen, zum Sport sowie für alle kulturellen und freizeitlichen Aktivitäten. Die Metro reichte damals noch nicht bis zur heutigen Endstation Háje, weshalb man mit dem Bus bis zur Station Budějovická der Linie C fahren musste, von wo aus sich die Südstädter jeden Morgen in Richtung ihrer Arbeitsstätten verteilten.

Heute scheinen jedoch die meisten mit einem Lächeln auf die abenteuerlichen Anfänge in der Südstadt zurückzublicken. Gespräche mit der Generation, die hier Ende der 1970er, Anfang der 1980er aufwuchs, zeigen, dass sich viele gerne an ihre Plattenbaukindheiterinnern. Überlassen wir das Wort Petr Musil, der 1978 als Vierjähriger mit seinen Eltern in die Südstadt zog: „Meine Erinnerungen sind vor allem dadurch beeinflusst, dass unser Plattenbau am Rande der Siedlung stand, in der Nähe des Miličovský Waldes. Es war also sonnenklar, wohin ich mit den Jungs nach der Schule zum Spielen ging.“

Natürlich war nicht alles so idyllisch. „Der Film Panelstory hat das schon richtig festgehalten. Zum Einkauf mussten wir tatsächlich durch den Matsch waten und ich erinnere mich, dass es in der ganzen Siedlung nur einen Lebensmittelladen gab, der gerade von uns ziemlich weit weg war. Wir mussten deshalb in der Bauarbeiter-Kantine einkaufen.“ Trotzdem ist er der Ansicht, dass das Leben in der Großwohnsiedlung aufgrund der guten Ausstattung sowie der trockenen und hellen Wohnungen um vieles besser ist, als das in einem Mietshaus in so manchem Prager Altbauviertel. Eine Meinung, die keine Ausnahme darstellt. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bedeutete der Umzug in die Südstadt vor allem den Erwerb einer neuen Eigentumswohnung, was aufgrund der damaligen Wohnungspolitik einen wirklichen Glücksfall bedeutete. Trotz allem erhielt die Südstadt gerade damals, als die Leute in der noch unfertigen Wohnsiedlung leben mussten, ihren schlechten Ruf, von dem sie sich bis heute nicht befreien konnte. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Südstadt damals und die Südstadt heute sich unterscheiden wie Tag und Nacht.

… und heute


Einige positive Aspekte der Siedlung wirken bis heute fort. So zum Beispiel die gute Anbindung ans Zentrum und die kurzen Wege in die Natur. Beliebt ist unter den Bewohnern vor allem der Zentralpark in Opatov, der zum natürlichen Zentrum des gesamten Quartiers geworden ist. Die Ortsansässigen erzählen oft von den angenehmen Spaziergängen auf der sogenannten Anhöhe – ein künstlicher Hügel, der auf die Begrünung von Aushebungen zurückgeht, die beim Bau der Metro entstanden sind. An Stelle der Betonrohre, die damals den Kindern als Abenteuerspielplatz dienten, stehen längst richtige Spielplätze. Wider alle Prognosen kam es nicht zum Großabriss der Plattenbauten. Im Gegenteil: die Gebäude werden wärmeisoliert und die ursprünglichen Fenster durch solche aus Plastik ersetzt. Fassaden erhalten neue, farbige Anstriche, Plattenbauten werden durch teils recht bizarre Anbauten erhöht. Maßnahmen, die der Uniformität der Großwohnsiedlung entgegen wirken sollen. Es gilt allerdings kritisch anzumerken, dass solche kosmetischen Nachbesserungen nur selten gelingen.

Gleichzeitig werden Wohnungen neu gestaltet: Umbauten finden statt, Trennwände werden eingerissen, Grundrisse verändert. Heute ist es kein Problem mehr, aus einer gewöhnlichen Plattenbauwohnung ein komfortables 5-Zimmer-Appartement zu machen; von so etwas liest man heute in jedem Lifestylemagazin. Und ein Blick auf die Parkplätze verrät, dass die Südstadt nicht wie befürchtet zum Ghetto und Auffangbecken für sozial Schwache geworden ist. Nicht einmal die soziale Vielfalt ist verschwunden: alte Škodas parken hier neben Luxuslimousinen.

Den öffentlichen Raum zu beleben, darum bemüht sich alljährlich das Festival Street For Art. Mit den Worten des Koordinators David Kašpar, ist es „sprichwörtlich nötig, den Leuten Hindernisse in den Weg zu stellen, damit sie innehalten und nachdenken, damit sie eine Beziehung zum Ort aufbauen. Hier lebt eine Menge von Leuten auf engstem Raum, Anonymität ist jedoch allgegenwärtig. Diese Situation versuchen wir zu verändern.” Das Herzstück des Festivals ist jedes Jahr eine andere architektonische und visuelle Ikone. Voriges Jahr war es die Blase des deutschen Architekturstudios Raumlabor Berlin, 2010 ist es ein dreistöckiges Bauwerk aus gläsernen Modulen. Ein buntes Programm soll eine größtmögliche Anzahl an Bewohnern aller Altersgruppen, Nationalitäten und sozialer Schichten zusammenbringen, Begegnungen untereinander sowie mit Pragern aus anderen Vierteln anregen. So gibt es Ausstellungen tschechischer Künstler, die in ihrer Arbeit durch Plattenbausiedlungen inspiriert wurden, Nachbarschaftsessen, geführte Rundfahrten, kartierte Lehrpfade, aber auch Konzerte und Theateraufführungen.

Der Südstadt-Chronist Jiří Bartoň, der zu den Alteingesessenen der Siedlung gehört, ist überzeugt davon, dass man in der Südstadt ein zufriedenes Leben führen kann. Er begründet das wie folgt: „weil man hier in ehrenwerten Häusern wohnt, weil es hier genügend Grünflächen gibt und auch, weil hier über 60 verschiedene Skulpturen und Objekte stehen, aus Keramik oder Stein, die die Umgebung abrunden.“ Und tatsächlich: Studien belegen, dass die Südstadt ein konkurrenzfähiges Viertel geworden ist und dass mehr als 40 Prozent der Einwohner dort bleiben möchten.