Postsozialistischer Albtraum oder funktionale Wohnstätte?

@ Goethe-Institut Prag / Martin Nejezchleba

Wofür steht in Ihren Augen der Plattenbau in Deutschland und Tschechien und wie sollte die Zukunft der Großwohnsiedlungen aussehen? 

Diese Frage stellten wir renommierten Architekten aus Deutschland und Tschechien: Stefan Forster, Vlado Milunić, Phillip Meuser und Josef Pleskot. Alle vier sind Experten auf dem Gebiet des Großsiedlungs-Umbaus und zählen zu den wichtigsten Stimmen im öffentlichen Diskurs um das Erbe sozialitischer Wohnungspolitik. Jeder hat seine ganz eigene Plattenbauphilosophie.
 

Stefan Forster
Vlado Milunić
Phillip Meuser
Josef Pleskot
 

Stefan Forster

 Stefan Forster Stefan Forster und sein gleichnamiges Frankfurter Architekturbüro legen ihren Arbeitsschwerpunkt auf das städtische Wohnen. In Anlehnung an die großen Wohnungsbauer der Gründerzeit und Moderne streben ihre Projekte die Diversifizierung der Wohnangebote an.

Für Leinefelde, eine für die DDR typische Neugründung mit extensiver Plattenbebauung um einen industriellen Kern, entwickelte Forster sein Gartenstadtkonzept. Einzelne Gebäude stellen hier ästhetische Unikate dar und erfüllen somit die Ansprüche von Individualisierung und Differenzierung. Unter anderem durch nachhaltige Plattenbautransformationen in Leinefelde und in Halle erlangte das Frankfurter Architekturbüro Weltruhm.


„Die Plattenbausiedlungen sind aus einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Situation heraus entstanden. Politisch steht dahinter der Gedanke der völligen Gleichheit aller Menschen. Wirtschaftlich sind sie ein Zeichen für die sozialistische Mangelwirtschaft. Die Plattenbausiedlungen negieren durch ihre Beschränkung auf die Funktion des Unterbringens die eigentlichen Bedürfnisse der Menschen.

Plattenbausiedlungen sind eine überkommene Wohnform, auch weil sie das Scheitern einer politischen Utopie symbolisieren. Die Menschen sind verschieden in ihren Wünschen, Empfindungen und Bedürfnissen. Man kann dem nicht durch eine Einheitsarchitektur gerecht werden. Die Abhilfe besteht in der konsequenten Transformation dieser Siedlungen in humane Wohnformen, mit einem vielfältigen Angebot an Lebensformen.

Wir sehen die Lösung des Problems im Vorbild der Gartenstadt. Diese Siedlungstypologie versucht in ihrer Dimension und Anlage keine Konkurrenz zur Innenstadt herzustellen sondern sieht sich als Ergänzung. In ihr wird das Wohnen im Grünen, in der Natur, mit der Natur, zum eigentlichen Thema. Hierin liegt die Chance für die Plattenbaustädte.“
 

Vlado Milunić

 Vlado Milunić Das Tanzende Haus brachte Prag zurück auf die Weltkarte der modernen Architektur und machte Vlado Milunić zum Stararchitekten. In Zagreb geboren, studierte der Sohn politischer Flüchtlinge Architektur in Prag und in Paris. Das dekonstruktivistische Bauwerk am Prager Moldauufer, das er in den 1990ern zusammen mit Frank O. Gehry plante und mit der Unterstützung von Václav Havel umsetzte, war laut Milunić ein einfaches Unterfangen.

In der gleichen Zeit widmete sich Milunić einer ungleich schwierigeren Aufgabe: Revitalisierung und Ausbau einer der ältesten Prager Plattenbausiedlungen im Stadtteil Petřiny. Seit dem Bau des kontrovers diskutierten Areals Hvězda engagierte sich Vlado Milunić unter anderem für den Umbau der Siedlung Malešice und ist zu einer Autorität im öffentlichen Diskurs um das sozialistische Erbe der Plattenbausiedlungen geworden.


„Zum Thema Plattenbausiedlungen ist die tschechische Öffentlichkeit in zwei Lager geteilt. Das eine Lager – vertreten zum Beispiel durch den Architekten Martin Rajniš – fordert den schnellstmöglichen Abriss der Siedlungen. Die Anderen hingegen behaupten, dass Großwohnsiedlungen eine sehr erfolgreiche Form des Urbanismus sind, da sie unlösbare Probleme des Städtebaus im 19. Jahrhunderts gelöst haben. Vertreter dieser Meinung sind zum Beispiel der Theoretiker Rostislav Švácha oder der Architekt Ladislav Lábus, bekannt durch seine Parole ‚Ich wäre gerne so wahrhaftig wie ein Plattenbau.‘

Ich jedoch glaube, dass Plattenbaubausiedlungen keine vollwertigen Städte sind. Da derart große Komplexe im Kopf nur eines Architekten – bzw. in den Köpfen eines Architektenteams – entstanden sind, leiden sie an geistiger Armut. Auch der genialste Architekt ist nicht in der Lage, eine ganze Stadt zu konzipieren; deshalb ist auch Niemeyers und Costas Brasilia keine Stadt. Eine wirkliche Stadt ist eine Gemengelage an Meinungen, sie ist eine Geschichte, spannend erzählt und mit unterschiedlichen Lesarten, dynamisch, vielseitig und geheimnisvoll. Der Umbau der Plattenbausiedlungen ist die wichtigste politische Aufgabe in Prag. Hier ist die Situation schon deshalb absurd, weil in einer so schönen Stadt 40 Prozent der Einwohner in unschönen Siedlungen wohnen. Klar ist, dass man sie aus ökonomischen Gründen weder zum Abriss noch zum sukzessiven Verfall verdammen kann.

Als wir Anfang der 1990er die Projektentwürfe zum Tanzenden Haus im Martinitz Palais ausstellten, wurden dort gleichzeitig Umbauvorschlägen für die Berliner Plattenbausiedlung Marzahn präsentiert. Da habe ich verstanden, dass wir nicht noch einmal die Fehler aus der Zeit der Projektierung von Plattenbausiedlungen machen dürfen. Der Umbau dieser Großkomplexe darf nicht aus nur einem einzigen Gedankenzentrum heraus entstehen. Wir müssen die Siedlungen schrittweise in Städte umwandeln, und zwar nach dem Vorbild zahlreicher europäischer Städte, die durch den Umbau der ursprünglichen römischen Militärlager entstanden sind.“
 

Philipp Meuser

 Philipp Meuser „Architektur lässt sich nicht neu erfinden. Vielmehr geht es um die Transformation vorhandener Materialien, Ornamente und Typologien.“ So das Credo des 1996 von Phillip Meuser und seiner Frau Natascha gegründeten Studios Meuser Architekten. Ihr Ziel: Das Schaffen einer Architektur, deren Maßstab vom Menschen ausgeht. Phillip Mauser arbeitet als freier Architekt und Architekturjournalist in Berlin, ist Inhaber des Verlags DOM publishers und realisiert seit 2004 internationale Planungs- und Bauprojekte mit Schwerpunkt Osteuropa und Asien.

In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut führte Phillip Meuser Workshops zum Thema Sanierung von Plattenbauten mit Architekturstudenten in Taschkent durch. Nach zahlreichen anderen Botschaftsprojekten in der Vergangenheit ist er momentan Generalplaner für die Deutsche Botschaft in Neu Delhi, ein von der Bundesregierung ausgewähltes Pilotprojekt zur Kohlendioxid-Reduzierung bei Bundesbauten.


„Plattenbau – oder fachlich korrekt: serieller Wohnungsbau – ist untrennbar mit sozialistischer Architektur verbunden. 20 Jahre nach dem Fall der Diktaturen in Osteuropa ist das Wohnen in der Platte inzwischen Teil der Architektur- und Baugeschichte. Das darf allerdings nicht heißen, dass diese Wohnsiedlungen kritiklos unter Denkmalschutz gestellt werden müssten. Denn auch heute noch wohnen Millionen von Menschen im sozialistischen Erbe. Plattenbau in Ostdeutschland und Osteuropa ist also auch ein Stück Heimat. Auf der anderen Seite ist es ein wenig beackertes Forschungsfeld bei Architekten und Bauhistorikern.

Wie die Zukunft der Großwohnsiedlungen aussehen sollte? Der Begriff Wohn-Siedlung offenbart schon das Kernproblem. Solange wir immer noch monogenutzte Wohngebiete bauen, sei es eingeschossig oder mehrgeschossig, bauen wir weiterhin die autogerechte Stadt, deren Geist auch die Großwohnsiedlungen entspringen. Die Stadt in Funktionsbereiche aufzuteilen, verliert in unserer Internetgesellschaft an Bedeutung. Die Wohnquartiere gilt es nachzuverdichten, und zwar mit Gewerbe und Dienstleistungen. Wenn die Menschen dort wohnen, wo sie auch arbeiten, wird es zur notwendigen Funktionsmischung kommen. Parallel muss freilich an der Modernisierung der inzwischen veralteten Wohngebäude gearbeitet werden.“
 

Josef Pleskot

 Josef Pleskot „Josef Pleskot: Der bedeutendste tschechische Architekt der letzten 20 Jahre”. So der Titel eines unlängst in der tschechischen Tageszeitung Hospodařské noviny erschienenen Artikels. Der Autor dieser Zeilen steht mit seiner Meinung nicht alleine da. Preisgekrönt sind unter anderem Pleskots Design des Fußgängertunnels im Hirschgraben der Prager Burg, die Villa des reichsten Mannes Tschechiens Petr Kellner in Vrané nad Vltavou sowie der Prager Hauptsitz der größten tschechischen Bank ČSOB.

Seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Revitalisation von Plattenbauten stellte Pleskots Studio AP atelier vor allem in der ostböhmischen Stadt Litomyšl unter Beweis. Dem Team um Pleskot gelang dort das ehrgeizige Projekt der nachträglichen Integration einer Plattenbausiedlung in das historische Stadtzentrum.


„Für mich persönlich sind die Plattenbausiedlungen in der Tschechischen Republik kein Alptraum. Die Situation in Deutschland kann ich nicht genau einschätzen, aber ich denke, dass sie sich nicht besonders von der hiesigen unterscheidet.

Ein Alptraum sind für mich viel mehr die die Satellitensiedlungen von Einfamilienhäusern, die in beiden Ländern im Laufe der letzten Jahre entstanden sind. Sie nehmen landwirtschaftliche Fläche ein, schaffen ein Umfeld großer soziale Leere und sorgen für eine gravierende Komplikation des Automobilverkehrs in den Städten.

Die konzentrischen Gebilde der Plattenbausiedlungen, oftmals gut an öffentliche Verkehrsmittel angeschlossen, sind im Hinblick auf entscheidende urbanistische Kriterien bereits weitestgehend stabilisiert und wenn wir die richtige Form ihres Wandels zulassen, können sie eine höhere Wohnqualität anbieten, als allgemeinen angenommen.

Natürlich gibt es auch nicht gelungene Plattenbausiedlungen, die man ohne jegliche Reue und sofort entfernen kann.“