Leonore Mau
„Man könnte mit einer Kamera um die Welt fahren“

Leonore Mau | Karneval, 1974 | Trinidad
Leonore Mau | Karneval, 1974 | Trinidad | © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung

Ein Vierteljahrhundert dauerte die gemeinsame Lebensreise von Leonore Mau und Hubert Fichte. Das Vermächtnis der Fotografin und des Schriftstellers inspiriert weiterhin Künstler und Wissenschaftler.

Leonore Mau, 1916 geboren in Leipzig, wurde ab 1953 als Fotografin tätig. Da war sie 37 Jahre alt. Knapp 10 Jahre später zog sie mit dem noch unbekannten Schriftsteller Hubert Fichte zusammen – und dann mit ihm um die halbe Welt. Die Fotografin Nathalie David, der Germanist Peter Braun und der Ethnologe Claus Deimel blicken auf das ungewöhnliche Leben und das gemeinsame Werk.

Nathalie David: „Die Weltbürgerin“

Nathalie David Nathalie David | © N. David Sie war still und diskret. Sie war eher Beobachterin. Leonore war sehr höflich und vornehm, großbürgerlich – aber nicht bourgeoise und sie konnte fünf Sprachen. Sie war eine Weltbürgerin! Gleichzeitig war sie eine sture Person – im positiven Sinn: Sie wusste, was sie wollte.
Ihr großbürgerliches Leben mit dem 20 Jahre älteren Architekten Ludwig Mau und die Villa in Blankenese gab sie auf. Da fotografierte sie schon mit der Leica, unter anderem für die Zeitschrift Schöner Wohnen. Ihre beiden Kinder Michael (geboren 1937), der Maler wurde, und Ulrike (geboren 1940) hatte sie großgezogen und dann ist sie abgehauen – mit dem 20 Jahre jüngeren Hubert Fichte. Mit ihm zog sie in eine kleine Einzimmerwohnung an der Elbchaussee. Ich glaube, dass ihre Pubertät mit Fichte stattgefunden hat.

Sie war sehr großzügig und frei in ihren Gedanken. Dieser Wechsel war ihre freie Entscheidung. Sie wusste, dass Fichte viele Männer hatte. Er war besessen von Sexualität. Das hat sie in Kauf genommen. Weil es für sie auch eine Art Befreiung war. In Fichtes Briefen erfährt man, wie er sie geliebt hat und wie wichtig sie für ihn war. Auch er wollte sie unbedingt körperlich haben, auch wenn er homosexuell war. Eigentlich war er bisexuell.

Er wollte eine Fotografin aus ihr machen. Er hat an sie geglaubt und sie als seine Ergänzung gesehen. Sie haben sich gegenseitig unterstützt. Es war die Zeit der Experimente. Sie arbeiten in einer Symbiose und sehr experimentell, sehr konzeptuell. Beide haben sich dadurch intellektuell ernährt.

Nach Fichtes Tod machte Leonore Mau zwei weitere Bücher: Psyche (2005) und Die Kinder Herodots (2006) zusammen mit Roland Kay, dem Mann von Pina Bausch, mit dem sie befreundet war. 1987 fotografierte sie die Serie Wuppertaler Architektur und im darauffolgenden Jahr eine Porträtreihe des Pina-Bausch-Ensembles. 1990 bis 2004 schuf sie Stillleben unter dem Titel Fata Morgana: Dafür baute und collagierte sie sehr frei Masken, Skulpturen und Erinnerungsstücke mit Messer und Maske, mit Gummihandschuhen… Eine sehr junge Arbeit! Leonore Mau verstarb am 22. September 2013 in Hamburg.
 
Trailer: „Diese Photographin heißt Leonore Mau“ von Nathalie David
 

Die Filmemacherin und Fotografin Nathalie David assisiterte Leonore Mau seit Beginn der 1990er-Jahre beim Archivieren ihres immensen Fotofundus. Sie studierte freie Kunst in Nizza an der Villa Arson und an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Es folgt ein Fellow-Stipendiat an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg. Im Sommer 2005 begleitete sie Leonore Mau mit der Kamera. Es entstand der Film Diese Photographin heißt Leonore Mau (2005, 54 Min.) erhältlich auf DVD ab November 2016

Gemeinsame Lebensreise

„– Du fotografierst / Ich schreibe. / Wir besuchen uns./ Du machst aus mir einen großen Dichter. / Und ich mache aus dir eine große Fotografin.“ – Das war der Plan den Jäcki, Hubert Fichtes literarisches Alter-Ego und Irma, die die biographischen Züge Leonore Maus trägt, in Fichtes Roman Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs (1988) vorschlägt. Sie beginnen ihre gemeinsame Lebensreise. Sie suchen das Fremde, beschreiben es in Wort und Bild, synergetisch: Portugal, Rom, dann 1969 die erste Reise nach Brasilien. Sie erforschen die afroamerikanischen Religionen: Candomblé, Voodoo, Santería.

  • Leonore Mau | Selbstportrait mit Foto von Hubert Fichte, 1962 © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Selbstportrait mit Foto von Hubert Fichte, 1962
  • Leonore Mau | ohne.Titiel, 1964 Sesimbra © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | ohne.Titiel, 1964 Sesimbra
  • Leonore Mau | Hubert Fichte vor seinen Notizen zum "Versuch über die Pubertät“ | Hamburg 1971 © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Hubert Fichte vor seinen Notizen zum "Versuch über die Pubertät“ | Hamburg 1971
  • Leonore Mau | ohne Titiel, 1967 | Rom, auf der Spanischen Treppe © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | ohne Titiel, 1967 | Rom, auf der Spanischen Treppe
  • Leonore Mau | Pünktchen Ritual, 1975 | Afrika © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Pünktchen Ritual, 1975 | Afrika
  • Leonore Mau | Einweihungsritus, 1971 | Brasilien © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Einweihungsritus, 1971 | Brasilien
  • Leonore Mau | Sonntag vor der Kirche, 1973 | Port-au-Prince, Haiti © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Sonntag vor der Kirche, 1973 | Port-au-Prince, Haiti
  • Leonore Mau | Junge mit Tablettenmaske, 1974 | Abomey, Benin © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Junge mit Tablettenmaske, 1974 | Abomey, Benin
  • Leonore Mau | Karneval, 1974 | Trinidad © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Karneval, 1974 | Trinidad
  • Leonore Mau | Port of Spain. Hubert Fichte mit Mother Darling auf dem Reisfeld, im Gespräch, 1974 © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Port of Spain. Hubert Fichte mit Mother Darling auf dem Reisfeld, im Gespräch, 1974
  • E Leonore Mau | Xango Zeremonie, 1975 | Trinidad © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    E Leonore Mau | Xango Zeremonie, 1975 | Trinidad
  • Leonore Mau | Zaubermarkt bei Lomé, 1975 | Togo	© Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Zaubermarkt bei Lomé, 1975 | Togo
  • Leonore Mau | Ein Haus für Irre, Psychiatrie in Aneho, 1975 | Togo © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Ein Haus für Irre, Psychiatrie in Aneho, 1975 | Togo
  • Leonore Mau | Agadir. Moschee Aus dem Film "Das neue Agadir" von Hubert Fichte und Leonore Mau, 1970 | Agadir © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Agadir. Moschee Aus dem Film "Das neue Agadir" von Hubert Fichte und Leonore Mau, 1970 | Agadir
  • Leonore Mau | o.T., um 1983 © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | o.T., um 1983
  • Leonore Mau | Casa das Minas in Sao Luiz de Maranhao, 1982 | Brasilien © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Casa das Minas in Sao Luiz de Maranhao, 1982 | Brasilien
  • Leonore Mau | Wuppertal. Pina Bausch im Spiegel, dreifach gespiegelt, 1987 | Wuppertal © Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung
    Leonore Mau | Wuppertal. Pina Bausch im Spiegel, dreifach gespiegelt, 1987 | Wuppertal
Wir danken der S. Fischer Stiftung für die freundliche Unterstützung.


Für das Foto eines afrikanischen Jungen mit Tablettenmaske gewinnt Mau 1975 den World Press Preis. Dann: New York, Venezuela, Trinidad, Benin; Trance-Kulte und ihre Rückverfolgung nach Afrika. 1974 bis 1978 widmen sie sich der Dokumentation von psychiatrischen Dörfern in Senegal. 1976 erscheint Maus Fotoband Xango. Die Afroamerikanischen Religionen. Bahia Haiti Trinidad mit Texten von Fichte. Ethnopoetische Forschungen, in denen sich Wort und Bild gegenseitig beleuchten. Dann sind sie wieder den afroamerikanischen Religionen auf der Spur: Miami, Grenada, Nicaragua und Haiti. 1981 unternehmen sie ihre letzte gemeinsame Reise nach Brasilien. Hier, in der Casa das Minas in São Luis de Maranão, entstehen Maus Porträts der Candomblé-Priesterinnen.

Peter Braun: „Gegen die Enge der Welt“

Peter Braun Peter Braun | Privat Der rituelle Reichtum und die Sinnlichkeit der afroamerikanischen Religionen übten eine große Faszination auf die Fotografin und den Schriftsteller aus. Das erforderte mehr als eine bloße Dokumentation. So suchten sie nach Möglichkeiten, in Bild und Wort die Atmosphäre der Orte und die körperlichen Bewegungen der Akteure, ihre Blicke, ihre Gesten, ihre Handlungen – und die derart freigesetzten „Energien“ einzufangen. Gerade Leonore Mau reagiert in ihren Fotografien oftmals auf Farben und Formen, auf Strukturen und Ordnungen – und immer wieder auf ein Geschehen zwischen Menschen vor der Kamera. Gegen Ende ihrer gemeinsamen Arbeit gewinnt vor allem das Porträt für Leonore Mau eine besondere Bedeutung. In den Gesichtern der alten Priesterinnen in der Casa das Minas spürt sie nicht nur die lange Tradition des ältesten Candomblé-Tempels in Brasilien auf, sondern konzentriert darin auch ihre eigene fast 15-jährige fotografische Erfahrung der afroamerikanischen Welt.

Beide bewegen sich mit ihren Arbeiten auf dem schmalen Grat zwischen Ethnologie und Kunst. Wie Wissenschaftler bemühen sie sich um ein Verstehen des afroamerikanischen Synkretismus. Sie interessieren sich sowohl für die Lebensgeschichten der Menschen, die an den Kulten teilnehmen, für ihre Beweggründe und Hoffnungen, als auch für die politischen und sozialen Bedingungen, unter denen sie leben. Ihre künstlerische Darstellung jedoch zielt nicht auf einen reflektierten intellektuellen Diskurs. In ihm sehen sie vielmehr eine „neoimperialistische Siegersprache“. Sie wollen dichter an den Menschen bleiben, wollen nicht über sie, sondern in ihrer Nähe sprechen – und das schließt immer auch ein Sprechen über sich selbst mit ein. Auch die Arbeiten von Leonore Mau stellen keine „Siegerfotografien“ dar – die ihr Sujet dem Betrachter restlos erschließen. Sie zeugen von Diskretion und Nähe.


 

Peter Braun ist Germanist und leitet das Schreibzentrum an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; zudem lehrt und forscht er zur Literatur vornehmlich des 20. und 21. Jahrhunderts. Einen Schwerpunkt bilden Leben und Werk Hubert Fichtes, zu dem er unter anderem die Einführung Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte (Fischer Verlag, 2005) geschrieben hat. Jüngst gab er die Briefe Hubert Fichtes an Leonore Mau unter dem Titel Ich beiße Dich zum Abschied ganz zart heraus  (Fischer-Verlag, 2016).

 

Claus Deimel: „Empfindung und Sehen“

Claus Deimel Claus Deimel | © Captain Globo, 2016 Die Arbeiten von Leonore Mau und Hubert Fichte zeigen eine bis dahin seltene Einheit von poetischem Text und Fotografie. Beide Autoren wären ohne ihre gegenseitige Übersetzung von Empfindung und Sehen wohl gar nicht denkbar. Dabei erhält, was Hubert Fichte „Empfindlichkeit“ nannte, auf beiden Seiten eine Art Textur: im Bild als spontane Umsetzung einer starken Sympathie für die Riten der Dargestellten und für diese selbst, im Text als Versuch einer minutiösen Aufzeichnung der Geschehnisse und ihrer Begleitumstände.

Das Besondere für die Ethnologie ist die Einheit, die Kooperation für einen poetischen Entwurf, den Fichte übrigens nicht als Kunst bezeichnet hat, auch nicht als Ethnografie, sondern als Teil einer Geschichte der Empfindlichkeit. Beide greifen in diesem Projekt die Diskrepanz zwischen Subjektivität und Objektivität auf und suchen sie nicht zu überwinden, sondern sie beschreiben diese detailreich. Eben in diesem Prozess der Objektivierung bleiben Fotografin und Textautor immer präsent. Für die Ethnologie haben Mau und Fichte den Wert der genauen Beschreibung zurückgewonnen.


Fichtes Texte sind in vielen Fällen Übersetzungen der Bilder von Leonore Mau, also in gewisser Weise Bildbeschreibungen. Während eines Rituals nahm die Fotografin andere Dinge wahr und er hat daraus erst im Nachhinein Texte entwickelt. Fichte eröffnete Mau, die ja vor ihrer Beziehung vor allem Architektur fotografierte, eine neue Welt, die sie ihm in ihren Bildern als Vorlage für seine Texte zurückgab. Beide Autoren vermieden den sentimentalen Blick auf das zunächst fremd erscheinende Bild des Anderen. Dadurch gelingt ihnen eine durchaus krude Dokumentation dessen, was sie als schön empfanden.

Der Ethnologe Claus Deimel kuratierte bereits 1993 seine erste Ausstellung mit Leonore Mau und Texten von Hubert Fichte im Forum des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover und gab den zweibändigen Katalog Götter aus Afrika (Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, 1993) heraus. 2002 folgte eine zweite Ausstellung unter dem Titel Xango – Lebende Götter. Fotografien von Leonore Mau – Texte: Hubert Fichte im Grassimuseum für Völkerkunde zu Leipzig. An beiden Ausstellungen wirkte Leonore Mau selbst kuratorisch mit.

Im Rahmen des Regionalprojekts „Hubert Fichte – Liebe und Ethnologie“ zeigt das Goethe-Institut Porto Alegre die Ausstellung „A casa de Leonore Mau“. Ausgestellt werden über 100 Fotos, die Leonore Mau auf mehreren Reisen zwischen 1969 und 1982 in Bahia, Rio de Janeiro, São Luís do Maranhão, Brasília und Porto Alegre gemacht hat. Bis auf wenige Ausnahmen waren diese Fotos nie in Brasilien zu sehen. Der Kurator Prof. Alexandre Santos, Kunstwissenschaftler an der Bundesuniversität Rio Grande do Sul, ist auf Einladung des Goethe-Instituts Porto Alegre im Juli 2016 nach Hamburg gereist, um die Fotos gemeinsam mit Nathalie David aus dem Nachlass Leonore Maus bei der S. Fischer Stiftung auszuwählen. Die Ausstellung wird am 17. November mit einem Vortrag von Diedrich Diederichsen eröffnet