Christoph Schröder
Deutschsprachige Literatur im Jahr 2016

© Goethe-Institut

Der Text ist die gekürzte Fassung der Rede, die Christoph Schröder am 8.12.2016 im Prager Goethe-Institut hielt.
 

Im Vorfeld wurde ich gebeten, als Einleitung zu Bodo Kirchhoffs Lesung ein paar thematische Schneisen in das Bücherjahr 2016 zu schlagen.
Ich gebe zu, dass es mir stets schwerfällt, Literatur in thematische Schwerpunkte einzuordnen, weil es ja gerade das Unbezähmbare, nicht Einzuordnende, zwischen allen Kategorien des guten und schlechten Geschmacks, des radikal Subjektiven und Irrationalen Hin- und Herflackernde ist, das uns an der schönen Literatur zu fesseln vermag.

„Schreiben“, so hat es Bodo Kirchhoff einmal gesagt, und mir ist bislang noch keine schlüssigere und zugleich so herausfordernde Definition untergekommen, „Schreiben ist Handwerk plus eigener Abgrund.“ Jeder hat seinen eigenen Abgrund. Die Abgründe der Schreibenden zu subsummieren, erscheint mir nahezu ungehörig. Und vor dem Hintergrund dieser Definition ist mir die oft formulierte These, analog zu den politischen Verhältnissen sei das Jahr 2016 auch in der Literatur ein Jahr gewesen, in dem die Krise eine besondere Rolle gespielt habe, zu kurz gedacht: Wenn Schreiben heißt, in den Abgrund zu blicken, ist ernsthafte Literatur immer der Versuch, eine Ausdrucksform für eine Krise welcher Art auch immer zu finden.

Dennoch: Die Sichtung der aktuellen Produktion eines Jahres war die Aufgabe, die mein Berufs- und Privatleben, und auch das von Berthold Franke, wie ich vermuten darf, in diesem Jahr maßgeblich geprägt hat. Der Deutsche Buchpreis hat schließlich keinen geringeren Anspruch, DEN Roman des Jahres auszuzeichnen. Den Zusatz „BESTEN Roman des Jahres“ hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels meiner Meinung nach zurecht vor einigen Jahren gestrichen. Seit 2005 verleiht der Börsenverein diese Auszeichnung. Ins Leben gerufen wurde sie, um, analog zum Man Booker Prize und dem Prix Goncourt, ein Zwitterwesen zu installieren: Eine Auszeichnung, die zum einen für literarische Qualität bürgt, zum anderen aber auch ein Instrument sein will und soll, um Bücher zu verkaufen.

Wer sich als Kritiker darauf einlässt, in der Jury mitzuwirken, sollte sich dessen zumindest bewusst sein. Knapp 180 Romane haben wir gesichtet, also: gelesen. Wir haben diskutiert und zum Teil erbittert gestritten, wir haben lamentiert und haben uns überraschen lassen. Und am Ende haben wir mit Bodo Kirchhoff einen würdigen Preisträger gefunden. Der Vorwurf aber, der dem Deutschen Buchpreis häufig gemacht wird, ist der, dass er das rare Gut der Publikumsaufmerksamkeit über Gebühr beansprucht und darum andere Titel, die Würdigung verdient hätten, in den Schatten stellt.
 
Bevor also der Preisträger zu Wort kommt, werde ich versuchen, Ihnen einige Autoren und Auffälligkeiten des Bücherjahres 2016 näher zu bringen.
Im Frühjahr debütierten zwei Autoren mit ihren Romanen, die bis dahin ausschließlich für das Theater gearbeitet haben, was in Deutschland Aufmerksamkeit erregte: Roland Schimmelpfennig ist der meistgespielte deutsche Dramatiker der Gegenwart.

In seinem Roman „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ schickt Schimmelpfennig in Short-Cuts-Technik eine Reihe von desorientierten Menschen in die verschneite Landschaft zwischen Berlin und der polnischen Grenze. Er lässt die Wege dieser Figuren sich kreuzen, zeigt sie uns als Suchende, Verzweifelte, denen die Gewissheiten abhanden gekommen sind und die in Kneipen oder leer stehenden Häusern Zuflucht suchen. Ein lakonisches, sprachlich reduziertes Buch, das die Kritik polarisiert hat und das auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, der Konkurrenzveranstaltung des Deutschen Buchpreises, wenn Sie so wollen, platziert war.

Gleiches gilt für den Roman „Der Fuchs“ des ebenfalls bislang als Theaterautor bekannten Nis Momme Stockmann, der allerdings, was seine Anlage und Form betrifft, das genaue Gegenteil zu Roland Schimmelpfennigs Buch darstellt: „Der Fuchs“ ist ein postapokalyptischer Roman (auch die haben gerade Konjunktur), in dem ein junger Mann an der friesischen Küste nach einer großen Sturmflut auf dem Dach eines Hauses sitzt und an seine Kindheit und Jugend zurückdenkt. Von dieser Erzählsituation aus verzweigt der Roman sich in die unterschiedlichsten Stränge und Phantastereien. Man könnte sagen, dass Stockmann nicht nur die Möglichkeiten der Darstellung, sondern auch die der Ausweitung von Handlungsebenen auf die Probe stellt. Und wenn wir gerade bei der Postapokalypse sind: Auch der hochbegabte Thomas von Steinaecker entwirft ein solches Szenario in seinem Roman „Die Verteidigung des Paradieses“. Deutschland ist zerstört. Unter einem Schutzschirm leben auf einer Alm in Bayern sechs Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Elf Jahre nach der Katastrophe gerät das scheinbare Gleichgewicht ins Wanken: Die Schutzschirme fallen aus; Hitze, Regen und Sturm fegen ungehindert über die Alm; am Himmel kreisen Drohnen, Seuchen brechen aus.
 
In Frankreich, so hatte es stets geheißen, existiere in großes Camp für Überlebende. Also bricht die nun siebenköpfige Gruppe auf zu einem Marsch durch ein finsteres Land.
Der Kniff an Steinaeckers Roman ist, dass sich nach und nach herausstellt, dass die Erzählstimme ein Roboter ist, vollgestopft mit Zitaten aus der Weltliteratur. Das Paradies im Titel – das ist das Reich der Worte, in dem Humanität noch etwas gilt. Aber ich schweife ab.
 
Wenn es so etwas einen Trend gibt, nicht nur in der deutschsprachigen, sondern in der europäischen Literatur, dann ist es eine Tendenz zum hemmungslos autobiografischen Epos. Karl Ove Knausgards „Min Kamp“-Projekt dürfte der berühmteste und erfolgreichste Fall dieser Art sein.
Zwei Feststellungen sind es, die im Zusammenhang mit den großen (auto)biografischen Schreibprojekten der Gegenwart zu treffen sind: Zum einen sind es ausschließlich Männer, die den Versuch wagen, die eigenen Lebenswege ausufernd in fiktionalisierter und literarisierter Form auszubreiten. Das ist die eine Seite, die der Produzenten. Zum anderen aber scheint es, als hätten das lesende Publikum nur auf diese Projekte gewartet, als erzeugten sie einen Sog, ja geradezu eine Suchtwirkung.

Das gilt in Deutschland beispielsweise auch für Joachim Meyerhoff, dessen Roman „Diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ auf den Bestsellerlisten und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand.Joachim Meyerhoff ist in Norddeutschland aufgewachsen, hat in München Schauspiel studiert und gehört seit 2005 zum Ensemble des Wiener Burgtheaters. Eben dort startete Meyerhoff auch 2007 sein Programm „Alle Toten fliegen hoch“, in dem er einem begeisterten Publikum Episoden aus seinem Leben erzählte.

Daraus sind mittlerweile drei Romane entstanden, die wohl zum Unterhaltsamsten gehören, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit langem hervorgebracht hat.
Meyerhoff ist ein glänzender und ungemein komischer Erzähler, der die Grenze zum Klamauk niemals überschreitet. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass der schwarze Kern, um den all seine Romane unausgesprochen kreisen, der Unfalltod seines Bruders ist. Ein Ereignis, von dem die Familie sich nie erholt hat. So erfahren wir also im ersten Teil, „Amerika“, von Meyerhoffs Jahr als Austauschschüler in den USA, leben im zweiten Teil „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ gemeinsam mit der Familie auf dem Gelände des psychiatrischen Krankenhauses in Schleswig, dessen Leiter Meyerhoffs Vater war, und landen schließlich im dritten Teil „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ im hochherrschaftlichen Haus der Großeltern in München, wo Meyerhoff während seiner Ausbildung zum Schauspieler lebt. Und so wenig Angst Meyerhoff davor hat, sich selbst in all seinen Zwangslagen und in seiner Lächerlichkeit zu zeigen – auch diese Romane sind Zeugnisse einer Künstlerwerdung. Er hat es ja schließlich geschafft. Und er schreibt weiter.
 
Aus Potsdam wiederum stammt der Schriftsteller André Kubiczek, der im Jahr 2012 mit dem Roman „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ die Geschichte seines Vaters und seiner laotischen Mutter von der DDR der 60 er-Jahre bis zum Tod der Mutter in den 80 er-Jahren rekonstruiert. Und nun hat Kubiczek mit „Skizze eines Sommers“, nominiert für die Shortlist des Deutschen Buchpreises, einen wunderbaren Jugenderinnerungs- und Initiationsroman vorgelegt, der sowohl die Atmosphäre der späten DDR als auch das individuelle Gefühl eines kurzen Zeitraums, in dem die Welt sich möglicherweise für immer verändert, einzufangen vermag.
René, Kubiczeks Held, liest Beaudelaire, trägt ausschließlich schwarz, toupiert sich die Haare – und kommt unter die Mädchen. Eine verwirrende Zeit, eine schöne Zeit, die Kubiczek gekonnt in einem Schwebezustand zwischen Sehnsucht und Erfüllung hält. Und wer sich das Jugendfoto des Autors, das er auf Facebook gepostet hat, betrachtet, stellt umgehend fest, dass der jugendliche André und sein adoleszenter Held René nicht nur biografische, sondern auch optische Gemeinsamkeiten aufweisen.
 
Auffällig ist, dass jedes dieser Schreibprojekte – auf unterschiedliche Weise – auch als eine ganz spezielle Form der Heimatliteratur gelesen werden kann. Heimatliteratur nicht als ein aggressiv antiidyllischer Reflex, aber eben auch beileibe nicht als Verklärung der Scholle. Vielmehr scheint es ein Bedürfnis von Autoren zu sein, sich in einer politisch und sozial enorm unübersichtlichen Epoche des permanenten Wandels der eigenen Herkunft, der eigenen Identität zu versichern.
Es wäre falsch, diese Tendenz als Eskapismus zu interpretieren. Schließlich suchen sich die guten Autoren nicht ihre Themen aus, sondern die Themen finden ihren jeweiligen Autor.
 
In ganz besonderer Weise gilt das für einen jungen Autor aus Österreich, Reinhard Kaiser-Mühlecker. Ich gebe es gerne zu: Er ist einer meiner Lieblingsautoren. Und ich gebe auch gerne zu, dass kaum ein anderer Autor in diesem Jahr in der Jury des Deutschen Buchpreises für so viele Reibungspunkte gesorgt hat wie er. Kaiser-Mühlecker ist gerade einmal 34 Jahre alt, hat aber bereits sechs Romane veröffentlicht. Er ist ein Bauernsohn, in dessen Kindheit das einzige Buch im Haus die Bibel war und das Verfassen von Literatur als eine Spinnerei oder als Zeitverschwendung galt.

Kaiser-Mühlecker macht nicht viele Worte; er erzählt von Veränderungen im Großen wie im Kleinen, vom Niedergang der Landwirtschaft und den Konsequenzen für die Menschen; von ihrer Sprache, aus der sie nicht herausfinden, obwohl für die neuen Zeiten längst neue Worte fällig wären. Er erzählt ohne Pathos von der Schicksalhaftigkeit des Daseins. Und er dürfte einer der wenigen Schriftsteller sein, der bei der Überarbeitung seiner Texte nichts wegstreicht, sondern etwas hinzufügt, damit die sprechenden Leerstellen nicht allzu groß werden.
 
Von Heimatromanen mit umgekehrten Vorzeichen dürfen wir vielleicht auch im Fall jener auffällig großen Anzahl von Autorinnen und Autoren sprechen, die einen so genannten Migrationshintergrund haben. Aus diesem durch und durch heterogenen Kreis von Schriftstellern, die sich mit den Themen Identitätsfindung, Flucht, Entwurzelung und Ankommen in einem neuen, fremden Land auseinandersetzen, ist in diesem Jahr eine Anzahl bemerkenswerter Romane erschienen.

Die in Deutschland geborene und in Saudi-Arabien aufgewachsene Rasha Khayat beispielsweise, die in „Weil wir längst woanders sind“ von einer jungen und selbstbewussten Frau erzählt, die freiwillig und zum Entsetzen ihrer Umwelt die Entscheidung trifft, zurück nach Saudi-Arabien gehen, um dort zu heiraten. Khayat sucht in ihrem Roman nach dem, was einem freiheitlich gesinnten, liberalen Menschen in Deutschland fehlen kann und ihn dazu bringt, eine aus unserer Sicht unverständliche Entscheidung zu treffen. Oder Shida Bazyar, die in „Nachts ist es leise in Teheran“ die Geschichte einer Familie überknapp vier Jahrzehnte, von 1979 bis in die Gegenwart, zwischen iranischer Revolution und deutscher Provinz nachzeichnet.

Oder der gebürtige Ungar Akos Doma, der in „Der Weg der Wünsche“ die Flucht seiner Familie aus Ungarn in den 70 er-Jahren auf hoch spannende Weise nachzeichnet und ganz nebenbei offenlegt, dass es in der Empfindung von Fremdheit keine qualitativen Unterschiede gibt und dass dieses Gefühl auch nicht an bestimmte Epochen gebunden ist. Oder der junge Senturan Varatharajah, der in „Von der Zunahme der Zeichen“ zwei in Deutschland lebende Studenten mit fremden Wurzeln, einen Mann und eine Frau, in einem Facebook-Chat einen hochphilosophischen Austausch über ihre Herkunft und ihre Geschichte beginnen lässt.
 
Sie bemerken, meine Damen und Herren, ich glaube daran, dass das Jahr 2016 ein ungemein reichhaltiges, vielfältiges und zudem unterhaltsames Literaturjahr war. Ein guter Jahrgang. Und in meinem rein subjektiven Rundgang habe ich so viele Autorinnen und Autoren unterschlagen, die mir wichtig sind und die großartige Werke vorgelegt haben: Thomas Melle beispielsweise hat mit „Die Welt im Rücken“ eines der schonungslosesten und wuchtigsten Bücher des Jahres geschrieben. Eine radikale Auseinandersetzung mit seiner psychischen Krankheit, die ihn zunächst nur all sein Hab und Gut und schließlich auch fast das Leben gekostet hätte. Oder, sozusagen am anderen Ende der literarischen Lautstärkeskala, die Österreicherin Eva Schmidt, die seit 20 Jahren kein Buch mehr veröffentlicht hat und der nun mit „Ein langes Jahr“ ein so wunderbar stilles und doch eindringliches Porträt einer kleinen Siedlung und deren Bewohnern gelungen ist, deren einzige Trostspender, so kann es gehen, Hunde sind.

Aber ich will meinen kleinen Rundgang schließen mit dem Verweis auf zwei Autoren, die mir besonders am Herzen liegen: Zum einen ist es, und nicht, weil er hier heute sitzt, Bodo Kirchhoff, der ein so makelloses Buch wie „Widerfahrnis“ ja nicht aus dem Nichts heraus geschrieben hat, sondern seit knapp 40 Jahren an einem beeindruckenden Werk arbeitet. Doch in Verbindung mit den beiden großen Romanen „Die Liebe in großen Zügen“ (2012) und „Verlangen und Melancholie“ (2014) scheint sich mit „Widerfahrnis“ etwas gerundet zu haben, zu einem vorläufigen Ende gekommen zu sein: Eine Trilogie, auch wenn er selbst sie vielleicht nicht als solche angelegt hat; eine altersweise, elegante und erzählerisch zupackende Reflexion über das Älterwerden, über Verlust, Erinnerung, Liebe und Lebenssinn. Die große Themen also. Wir werden gleich darüber sprechen und Sie werden etwas daraus hören.

Gestatten Sie mir aber zum Abschluss, noch auf einen Autor hinzuweisen, der im November 2013 gestorben ist und den ich für einen der bedeutendsten der deutschen Nachkriegsliteratur halte: Peter Kurzeck hat, und damit passt er perfekt in das Raster der autobiografischen Heimaterzählung, seit 1992 an seinem großen Zyklus „Das alte Jahrhundert“ gearbeitet. 2011 erschien mit „Vorabend“ sein mehr als 1000 Seiten umfassendes Opus Magnum, in dem er die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik von den 50 er- bis in die 80 er-Jahre auferstehen lässt.
Kurzeck war ein großer Erinnerer und Zauberer, ein Weltverzauberer. Berühmt geworden ist er auch durch seine frei erzählten Hörbücher: Über Stunden hinweg konnte er ganz und gar frei, ohne Manuskript, in seinem melodiösen Tonfall ganze Welten entstehen lassen. Vor wenigen Wochen ist die letzte noch unveröffentlichte Hör-CD unter dem Titel „Für immer“ erschienen, auf der Kurzeck über die Bedingungen seines Schreibens spricht. Hören Sie ihm zu.