Orchesterlabels
Schöne neue Klassikwelt

Die Münchner Philharmoniker mit Valery Gergiev in Aktion
Die Münchner Philharmoniker mit Valery Gergiev in Aktion | Foto © Andrea Huber

Musiker sollten in Zeiten des Internets am besten Selbstvermarkter sein. Orchester gehen diesen Schritt in die Unabhängigkeit inzwischen ebenfalls und gründen eigene Plattenfirmen. Das ist Trend und Notwendigkeit zugleich.

Kaum eine Idee erscheint idealistischer, als heutzutage eine Plattenfirma zu gründen. Denn Labels können sich nur halten, wenn sie so groß wie die seit der Krise der Musikindustrie verbliebenen Majors sind. Oder aber, wenn der Firmenchef Musik aus reiner Hingabe herausgibt und sein Geld zum Leben anderweitig verdient. So scheint es verwunderlich, dass ein Orchester wie die Münchner Philharmoniker zur Saison 2015/16 stolz verkündet hat, man eröffne nun endlich eine eigene Musikplattform mit Namen „MPhil“. Gut eineinhalb Jahre später kann man unter dem Menüpunkt „Label“ auf der Homepage in die Vergangenheit scrollen. Hier präsentiert das städtische Orchester seine Audio-Veröffentlichungen, geordnet in einer Art Ahnengalerie der ehemaligen Chefdirigenten von Günter Wand über Sergiu Celibidache und Christian Thielemann bis hin zu Lorin Maazel.

Bislang profitierten wechselnde Klassik-Unternehmen von der nostalgischen Kauflust der Orchesterfans, je nach dem bei welcher Plattenfirma der jeweilige Dirigent unter Vertrag war. Das eigene Label jedoch verspricht eine Freiheit, die mit der sogenannten Drittlabellizensierung, mit der man über die vielen anderen Kanäle veröffentlicht, nicht möglich sei, erklärt Suzana Borozan, die bei den Münchner Philharmonikern unter anderem für das Label verantwortlich ist. Früher lag die Entscheidung darüber, welche Konzerte und welches Repertoire veröffentlicht wird, bei den Vertragspartnern, die sich auch um das Organisatorische kümmerten. Am Ende des Jahres bekam das Orchester dann eine Abrechnung über die vereinbarten prozentualen Anteile am Gewinn.

Ein relativer Mehrwert

Die Entscheidung zum eigenen Label heißt also: sich selbst um alles kümmern, aber mit niemandem mehr abrechnen, weder künstlerisch noch monetär. Zu Valery Gergievs Antritt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker sei das mit der Selbstvermarktung aktuell geworden, meint Borozan weiter. Gergiev, der zuvor schon auf vielen Kanälen gekonnt mit den Medien gespielt hatte, sei dabei ein guter Partner gewesen und die Stadt München habe eine Anschubfinanzierung geleistet. „Finanziell nimmt sich das jedoch nicht viel“, erklärt Borozan, denn der Ertrag des eigenen Labels bleibe verglichen mit dem aus der Zusammenarbeit mit anderen Partnern ähnlich. Generell brauche man sich keine Illusionen machen, die goldene Zeit des Tonträgerverkaufs sei auch in der Klassik vorbei. Doch die Vorteile, etwa die Selbstbestimmung über das zu veröffentlichende Repertoire und die Möglichkeit, die Marke zu stärken, überwiegen: „Diese Art zu veröffentlichen, ist nachhaltiger für das Orchester“, resümiert Borozan. Demnächst plane man das Archivmaterial der Philharmoniker, das bis ins Jahr 1945 zurückreicht, schrittweise digital zu veröffentlichen.

Der Konzertsaal im Wohnzimmer

Doch die Konkurrenz schläft nicht. Die Berliner Philharmoniker zum Beispiel sind, was die Bündelung der eigenen Ressourcen anbelangt, die Spitzenreiter der deutschen Orchesterlandschaft. Neben dem eigenen Label, im Mai 2014 gegründet, betreibt das Orchester schon seit 2008 die Online-Plattform „Digital Concerthall“. Das Archiv, das für zahlende Abonnenten online verfügbar ist, ist immens. Diese Plattform ist eine Pionierarbeit für die Digitalisierung der klassischen Musik, denn Konzerte können auch unabhängig vom Saal zeitgleich live auf dem internetfähigen Fernseher zuhause miterlebt werden. Und es gibt nicht nur Musik im virtuellen Konzertsaal. So kann man etwa auch die Übertragung der Jahrespressekonferenz des Orchesters live im Online-Stream mitverfolgen. Herkömmliche Medien der Informationsweiterleitung verlieren auf diese Weise an Bedeutung, ebenso gängige Labels oder Audio-Vertriebswege. Der Fan holt sich Wissen und Kunst direkt beim Objekt seiner künstlerischen Leidenschaft.

Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker, Quelle: Youtube

Dass dabei für das Orchester eine relevante Community im Netz entstanden ist, zeigt auch die Tatsache, dass die Berliner Philharmoniker ihre Tonträger zwar im Handel anbieten, aber die meisten Umsätze über Online-Direktverkäufe machen: „Wir treten direkt mit dem Kunden in Kontakt und bieten ihm ein von uns selbst gestaltetes Produkt an“, erklärt Tobias Möller, Sprecher der Berliner Philharmoniker. „Diese Direktheit der Ansprache ist für viele Musikfreunde von besonderem Reiz“. Damit gehen die Berliner noch einen Schritt weiter als die Münchner, deren Vertrieb weiterhin bei Warner Classics liegt.

Mehr Risiko, mehr Identität

In beiden Fällen liege das Risiko der Produktionskosten beim Orchester selbst, und die Absatzzahlen, die vielleicht ein Label mit weltweitem Vertriebsnetz generieren könnte, seien im Eigenverlag schwieriger zu erreichen, erklärt Möller das Modell der Berliner. Doch die Margenzahlen seien eben bei der Selbstproduktion völlig anders: Abzüglich der Steuern, Herstellungs- und Logistikkosten blieben die Einnahmen in Gänze beim Ensemble. Zudem biete das eigene Label eine größere Identifikationsmöglichkeit für das Orchester.

Außerdem ermöglicht die Eigenregie auch die Gestaltung von Liebhaberprodukten, wie etwa eines Brahmszyklus’ auf Vinyl, hergestellt im Direktschnittverfahren, wie ihn die Berliner Philharmoniker veröffentlicht haben. Das wiederum ähnelt den Verfahren, mit denen Künstler und Labels in der Popmusik versuchen, Tonträger nach der Krise der Musikindustrie wieder aufzuwerten: Pressungen in geringen Stückzahlen, dafür mit Sammlerwert, manchmal sogar in selbst gestalteten Siebdruck-Covern in limitierten Sonder-Editionen.

Digitale Zukunft

Im Vergleich dazu wirkt die Gestaltung der Orchester-Label-CDs wie herkömmlicher Industriestandard. Das funktioniert, denn der Klassik-Markt spürt die Implosion der Musikindustrie sanfter und zeitversetzt zu den Popkollegen. Als die Digital Natives Anfang der Nullerjahre begannen, Musik illegal im Internet zu tauschen, fehlte vielen älteren Klassik-Hörern oft noch der technische wie gedankliche Zugang zur Gratiskunst. Das hat sich seitdem zwar geändert. In der Klassikwelt jedenfalls, in der alles ein wenig gemächlicher als im Pop vor sich geht und in der das Publikum größtenteils wohlwollend hinnimmt, was ihm angeboten wird, geht das Konzept bislang auf, sich selbst mit eigenem Label zu vermarkten. „Der physische Markt ist in Deutschland noch relativ stabil“, resümiert Suzana Borozan. „Die Zukunft liege aber auch in der Klassik im Digitalen“.