Interview mit Gerhard Henschel
Ein Roman als Zeitmaschine

In seinen autobiografischen Schlosser-Romanen schildert Autor Gerhard Henschel seine Kindheit und Jugend in den 1960er bis 1980er Jahren.
In seinen autobiografischen Schlosser-Romanen schildert Autor Gerhard Henschel seine Kindheit und Jugend in den 1960er bis 1980er Jahren. | Foto: © picture-alliance / dpa

Ob Kettcar oder Ahoj-Brause: Wer in den 1960er-Jahren geboren wurde und die Chronikromane von Gerhard Henschel liest, durchlebt mit dem Protagonisten Martin Schlosser viele Stationen des eigenen Lebens.

Als Gerhard Henschel im Jahr 1996 sein erstes autobiografisches Werk zu schreiben begann – den Kindheitsroman, in dem er als Martin Schlosser seine Kindheit in den 1960er-Jahren schildert –, da hatte er noch nicht vor, sein gesamtes Leben in Romanform aufzubereiten. Und doch hat er bis heute nicht damit aufhören können: Am Ende des 2017 erschienenen siebten Bandes seiner Chronik, der den Titel Arbeiterroman trägt, ist Henschels Alter Ego Ende zwanzig. Er hat sein Studium abgebrochen und die deutsch-deutsche Wiedervereinigung steht kurz bevor.

Henschels Schlosser-Romane nehmen den Leser mit auf eine Zeitreise, die für Deutsche seiner Generation auch ein Ausflug in die eigene Vergangenheit ist: Denn egal, ob man nun wie Schlosser im emsländischen Meppen oder etwa in Stuttgart aufwuchs, unzählige Erfahrungen verliefen ähnlich. Drei Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte hat Henschel nun schon aus subjektiver Perspektive und nahezu tagesgenau erzählt. Eine solch detailgetreue Rekonstruktion eines ganzen Lebens – auch wenn es das eigene ist – ist vor allem eines: eine Menge Arbeit.

Herr Henschel, wie kamen Sie auf die Idee, Martin Schlosser sein – beziehungsweise Ihr Leben in Romanform erzählen zu lassen?

Als ich 1996 wieder einmal Walter Kempowskis Roman Tadellöser & Wolff las, hätte ich anschließend gern einen Kindheitsroman dieser Art von jemandem aus meiner eigenen Generation gelesen, aber so etwas gab es nicht. Dann kam ich auf den Gedanken, es selbst zu versuchen. Zum Glück ahnte ich damals nicht, wie viel Arbeit mir bevorstand. Der Plan, auf meinen Kindheitsroman weitere Bände folgen zu lassen, ist auch erst viel später entstanden.
 
Martin Schlossers persönliches Leben spielt sich vor der realen zeitgeschichtlichen Kulisse ab. Im 2017 erschienenen „Arbeiterroman“ geht es weltweit turbulent zu, die deutsche Wiedervereinigung steht bevor, Nelson Mandela kommt nach 27 Jahren aus der Haft frei, in Chile wird Pinochet als Staatschef abgelöst. Wie viel Recherche steckt dahinter, dies alles zu rekonstruieren?

Es dauert schon eine Weile, das Rohmaterial zusammenzutragen. Ich kann mich zum Glück auf ein gutsortiertes Archiv stützen, also auf Briefe, Fotoalben, Notizbücher, Quittungen, Leihscheine oder Arzneimittelbeipackzettel. Außerdem ist Verlass auf Verwandte und Freunde, die mir zuarbeiten. Viele Romanfiguren helfen mir mit Auskünften und verbessern auch mal Dialoge, an denen sie beteiligt sind. Und bei Recherchen, die politische, gesellschaftliche oder sportliche Ereignisse betreffen – Kinofilme, Zeitungszitate, Bahnverbindungen, Wetterdaten, Werbeslogans oder Lottoquoten –, ist das Internet eine unerschöpfliche Goldgrube.
 
Erleichtern Ihnen Internet und Digitalisierung also die Arbeit?

Das Internet hat die Recherchen außerordentlich erleichtert, und es ist auch hilfreich, wenn man Tausende von Romanseiten in Sekundenschnelle durchsuchen kann, um zu prüfen, wann zum letzten Mal das Wort „Rummelplatz“ oder die plattdeutsche Redewendung „Hol di fuchtig“ vorgekommen ist. Oder wie oft Martin Schlosser schon Milchnudeln oder Lasagne gegessen hat.
 
Ihre Romane lesen sich fast wie Tagebücher, so detailliert sind die Aufzeichnungen. Schlosser schreibt alles auf, selbst den nebensächlichsten Dialog in der Raucherpause bei der Spätschicht. Als Sie den „Arbeiterroman“ geschrieben haben, lagen die Ereignisse auch schon mehr als zwanzig Jahre zurück. Wie machen Sie das? Sie müssen ein unglaubliches Gedächtnis haben.

Ich habe früher nur sporadisch Tagebuch geführt, aber immer viele Briefe geschrieben und mir die meisten wiederbeschaffen können. Ergiebige Quellen waren auch die Terminkalender meiner Großmutter aus Jever, ein zeitgenössisches jeversches Telefonbuch, in dem sämtliche Ärzte, Optiker, Apotheken, Fleischereien und Supermärkte verzeichnet sind, die Briefwechsel aus dem Nachlass meiner Eltern und diverse Ausgaben des Oldenburger Stadtmagazins Diabolo, für das ich damals geschrieben habe. Ohne solche Erinnerungshilfen wäre die Arbeit viel schwerer, aber glücklicherweise habe ich tatsächlich ein recht gusseisernes Gedächtnis.
 
Man hat das Gefühl, jeder, der Ihnen über den Weg gelaufen ist, taucht irgendwann in den Romanen auf. Es gefällt bestimmt nicht allen, so genau beschrieben zu werden – haben Sie manchmal Ärger deswegen?

Im Gegenteil. Es sind manche alten Freundschaften wieder aufgelebt. Hin und wieder meldet sich nach einer Lesung jemand bei mir und fragt: „Kennst du mich noch?“ Und dann steht da ein einstiger Mitspieler aus der C-Jugend des Fußballvereins SV Meppen vor mir, eine ehemalige Kollegin aus dem Tresenteam der jeverschen Diskothek Na Nu oder eine Gabi, die in Vallendar am Rhein dieselbe Grundschulklasse besucht hat wie ich. Lauter Romanfiguren also. Der Frau, die in den Romanen Andrea heißt und fünf Jahre lang mit mir liiert war, habe ich für jeden Satz ein Vetorecht eingeräumt, aber sie ist mit allem einverstanden gewesen. In dem Roman, an dem ich gegenwärtig arbeite, verliebt Martin Schlosser sich in die Studentin Kathrin Passig, die ihren Namen darin behalten wird. Sie berät mich jetzt bei der Rekonstruktion unserer gemeinsamen Erlebnisse.
 
Wie gehen Sie generell vor, wenn Sie an einem Roman arbeiten? Und hören Sie beim Schreiben Musik, um sich in alte Zeiten zurückzuversetzen?

Erst die Recherche, dann die Reinschrift, denn ich arbeite ja nicht ins Blaue hinein. Aber auch bei der Arbeit an der Reinschrift treten immer wieder Fragen auf: Um wie viel Uhr ist 1990 das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft angepfiffen worden? Welche Folge der Fernsehserie Diese Drombuschs hat Martin Schlossers Großmutter dann und dann eigentlich gesehen? Wenn es mir gelingt, an einem Tag zwei Tage zu schildern, bin ich zufrieden, denn das gibt mir die Hoffnung, dass ich mich irgendwann einholen könnte. Musikalisch untermalen lasse ich mir die Arbeit zurzeit am liebsten von Thomas Tallis, Palestrina und Leonard Cohens letztem Album. Der Song String Reprise/Treaty begleitet mich seit Monaten. Ich wohne förmlich darin.
 
Sie werden als Chronist der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Ist Martin Schlosser ein typischer Deutscher?

Das will ich nicht hoffen. So, wie ich den typischen Deutschen kenne, gefallen ihm der Schlagersänger Wolfgang Petry und der Fernsehkasper Oliver Pocher besser als der Renaissancekomponist Thomas Tallis.
 
Wie lange schreiben Sie an einem Schlosser-Roman? Immerhin ist jeder Band mehr als 500 Seiten lang. Haben Sie neben der Arbeit an einem Roman noch Zeit für andere Projekte?

Alle anderthalb Jahre erscheint ein neuer Roman. Der nächste, der Dorfroman, ist für den Herbst 2018 geplant. Unter dem Titel Laubengänge wird im kommenden Frühjahr in der Edition Temmen das Tagebuch einer Wanderung erscheinen, die der Fotograf Gerhard Kromschröder und ich im Mai auf den Spuren von Wilhelm Busch unternommen haben. Der Weg reichte von seiner Wiege in Wiedensahl über die berühmte Mühle in Ebergötzen bis zu seinem Grab in Mechtshausen bei Seesen. Mit dem Kollegen Wenzel Storch arbeite ich an Fotoromanen nach Motiven aus katholischen Ministrantenzeitschriften, nebenher bin ich als Übersetzer tätig, damit der Schornstein raucht, und ich mische mich auch immer wieder gern mit Beiträgen für Zeitungen und Zeitschriften ins Weltgeschehen ein. Soviel Zeit muss sein.
 
Sie geben regelmäßig Interviews. Welche Frage würden Sie gerne einmal gestellt bekommen? Und was würden Sie darauf antworten?

Sie überschätzen meine Bereitschaft, Interviews zu geben. Ich mache das keineswegs regelmäßig. Kürzlich wünschte sich ein Radiosender von mir eine Stellungnahme zum Ausgang der Landtagswahlen in Niedersachsen, und da musste ich passen, denn ich bin ja nicht Günter Grass. Ich ziehe es vor, zu den allermeisten Themen eine Meinung weder zu haben noch zu äußern. Eine Frage, die ich aber tatsächlich gern einmal gestellt bekäme, würde lauten: „Darf ich als Mäzen auf Sie zukommen und Sie aller Geldsorgen entheben, damit Sie sich für den Rest Ihres Lebens in aller Ruhe der Arbeit an Ihrem Romanzyklus widmen können?“ Darauf würde ich vermutlich antworten: „Aber gern.“

Gerhard Henschel

Der 1962 geborene Schriftsteller Gerhard Henschel hat Romane, Erzählungen, Sachtexte und Satiren veröffentlicht. Außerdem ist er als Übersetzer aus dem Englischen tätig. In Deutschland ist er vor allem für seine bisher sieben Bände umfassenden Schlosser-Romane bekannt. Der in den 1960er-Jahren geborene Ich-Erzähler Martin Schlosser führt darin den Leser ausführlich an der Zeitgeschichte entlang durch sein Leben. Henschel erhielt für sein Werk mehrere Preise, etwa 2015 den Georg-K.-Glaser-Preis und 2017 den Ben-Witter-Preis.