Bücher, über die man spricht
Antworten auf Fragen der Zeit

Bücher, über die man spricht - Buchcover Herbst 2017
Bücher, über die man spricht - Buchcover Herbst 2017 | © Suhrkamp; Rowohlt; Die andere Bibliothek; DuMont; Suhrkamp; Klett-Cotta; Kiepenheuer & Witsch; Ariadne im Argumentverlag; C.H.Beck; Siedler.

In diesem Herbst des Missvergnügens sprechen wir, zuhause, mit Freunden oder auf der Arbeit, viel mehr über Politik als früher. Vor allem über den Triumph des rechten Populismus, des Ressentiments und des neuen Nationalismus, nicht nur hier und da, sondern beinahe flächendeckend in der Welt.

Die Zeit, die wir bei solchen Themen verbringen, geht ab von der Zeit, in der wir über Bücher sprechen. Es sei denn, aber das kommt selten vor, dass ein Buch sich lesen lässt als Antwort auf Fragen der Zeit. Wenn es vorkommt, dann sind es seltener Romane, sondern eher Sachbücher, die solche Debatten begleiten oder sie sogar auslösen. In Deutschland war das zuletzt und ganz unerwartet ein bei Erscheinen schon sieben Jahre altes Buch aus Frankreich, Didier Éribons Rückkehr nach Reims (2016). Der Soziologe und Foucault-Biograph reflektiert darin seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu in Reims, seine kulturelle Befreiung von diesem Milieu beim Studium in Paris und den Schock, mit dem er Jahrzehnte später erkennen muss, dass die „kleinen Leute“ von Reims zur Beute des „Front National“ geworden sind. In Deutschland las man Éribons Essay als Kommentar zur aktuellen Lage. Hier war ein Buch, das den Ruck nach rechts im eigenen Erleben verortet und zugleich Begriffe findet, die das Ereignis erklären.

Romane als literarische Lagebeurteilung

Von Romanen soll man solche Hoch-Aktualität besser nicht erwarten. Es gab allerdings Zeiten, in denen sich die führenden Schriftsteller des Landes (damals war noch klar, wer „führend“ war) verlässlich zu Wort meldeten, wenn eine literarische Lagebeurteilung gefragt war. Man denke an Heinrich Bölls Erzählung Die Verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) oder an Günter Grass’ Roman Ein weites Feld (1995), beides literarische Reaktionen auf politische Ereignisse in Deutschland, einmal RAF-Terror und -hysterie, das andere Mal die deutsche Wiedervereinigung. Zum Ereignis wurden solche Bücher, weil sie von den renommiertesten Autoren des Landes kamen und auch, weil sie in der Presse von Großkritikern wie Marcel Reich-Ranicki sogleich breit besprochen wurden, und zwar gerne negativ („ganz und gar missraten“). Erst der saftige Verriss, zu dem es natürlich Gegenmeinungen gab, sorgte für das notwendige Aufsehen.

Literatur und Politik

Aber solche Eklats werden mit dem langsamen Aussterben der Großschriftsteller- und Großkritiker-Spezies seltener. Das heißt nicht, dass über Literatur nicht mehr gestritten würde. Neuerdings prügelt man sich sogar auf der Frankfurter Buchmesse, so geschehen in diesem Oktober am Stand des Antaios-Verlages. Der Antaios Verlag ist das intellektuelle Forum der Neuen Rechten in Deutschland. Hier erscheinen viel gelesene Bücher wie Finis Germania, in dem der verstorbene Historiker Rolf Peter Sieferle vor dem Untergang des Abendlandes durch „Sozialdemokratismus“ und den Kult um die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ warnt. Anlass der Frankfurter Prügelei war nun das Buch Mit Linken leben, eine Konterattacke auf derzeit populäre Titel wie Mit Rechten reden. Der rechtsextreme AfD-Mann Björn Höcke trat dort auf, die „Antifa“ war ebenfalls erschienen und skandierte „Nazis Raus“, bevor die Fäuste flogen. Die Buchmesse hatte vorab erklärt, dass sie nicht vorhabe, rechtes Gedankengut von der Messe auszuschließen. Damit ist sie gut beraten, denn sonst hätte die AfD mehr Grund zu behaupten, dass die Meinungsfreiheit heute vor allem durch Liberale bedroht werde. Insgesamt lässt sich, nicht nur auf der Buchmesse, eine Polarisierung der Standpunkte beobachten. Die Frage heißt immer öfter: Kann man mit dem und der überhaupt (noch) reden? Gerade in Deutschland, wo man oft zwischen konservativ, rechts und rechtsextrem nicht genau genug unterscheidet, drohen auch Denk- und Redeverbote von links. Sind etwa Peter Sloterdijk und Botho Strauss Vertreter der Rechten, die man deshalb am Schreiben und Reden hindern soll? Immer mehr Leute haben, so scheint es, ein Problem mit politischem Pluralismus.

Auch wenn derzeit die Literatur ein wenig im Schatten der Politik steht: Sie hatte einen großen Auftritt in diesem Herbst. Das lag weniger an der Schwedischen Akademie mit ihrer zwar akzeptablen, aber wenig aufregenden Wahl von Kazuo Ishiguro als Nobelpreisträger für Literatur, sondern an vielen wichtigen Neuerscheinungen. Aus deutschsprachiger Sicht sind besonders zu nennen: Robert Menasses Brüssel-Roman Die Hauptstadt, Ingo Schulzes Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst, Daniel Kehlmanns historisch-fantastischer Tyll und Sasha Marianna Salzmanns furioses Debüt Außer sich. Für sein EU-Epos hat Menasse soeben den Deutschen Buchpreis erhalten. Jahrelang hat der Autor dafür in Brüssel recherchiert. 2012 erschien von ihm, als essayistische Summe seiner Recherchen, das Buch Der Europäische Landbote, eine Streitschrift für ein vereinigtes Europa. Die Hauptstadt ist der selten gewordene Fall eines literarisch interessanten und politisch aktuellen Romans. Damit ist Menasse etwas gelungen, was in ihren Tagen Böll und Grass nicht geschafft haben. Wenn immer sie tagespolitisch wurden, ging das zu Lasten der literarischen Qualität.

Robert Menasse und die EU

Es ist nicht leicht, einen Roman auf der Höhe der politischen Gegenwart zu schreiben, wenn diese Gegenwart ständig neue Meldungen generiert, die natürlich alle „last minute“ in den Roman einfließen müssen. Der Brexit, die Flüchtlingskrise, die Terroranschläge von Brüssel, ständig passiert etwas. Als Fels in der Brandung des Tagesgeschehens erweist sich bei Menasse die Europäische Kommission mit ihren Beamten, ihren Prozeduren, Routinen und Sprachregelungen. Nichts wäre einfacher (und langweiliger), als eine EU-Satire zu schreiben, in der man womöglich die Trägheit und Abgehobenheit des dortigen Betriebs geißeln würde. Menasse hingegen lobt (und liebt vielleicht sogar) die Brüsseler Komplexität. Und er entdeckt im Inneren des Apparats eine Menge kluger Leute, denen das kalte und abstrakte Brüssel irgendwie zur Heimat geworden ist. 

Zu Beginn des Romans läuft ein Schwein durch die Straßen, Verkörperung auch der Tatsache, dass Brüssel vor allem die Hauptstadt des agrarisch-industriellen Komplexes ist. Das Schwein ist wichtig in Europa, es ist „Querschnittsmaterie“, das heißt, es gehört je nach Verarbeitungsgrad in verschiedene EU-Ressorts. Während das Schwein ohne klaren Auftrag durch Brüssel läuft, lernen wir eine Reihe der Figuren kennen, die Menasse zu einem Brüsseler Reigen verlinkt hat. Kultur ist das letzte, was in der EU-Kommission zählt, weiß man dort, deswegen muss man sich drei Mal anstrengen, um von dort bald in andere „Dossiers“ aufzusteigen (Landwirtschaft zum Beispiel). Die Griechin Fenia Xenopolou braucht eine Idee, für ihre eigene Karriere, und für die Feier diverser anstehender Europa-Jubiläen. Wer kann die Idee für eine solche Parallelaktion liefern? Der Österrreicher Susman hat den Einfall, die letzten Auschwitz-Überlebenden nach Brüssel zu holen. Das europäische Projekt soll Auschwitz für alle Zeit unmöglich machen, ein fast pathetischer Gedanke, und fast zu ernst für diese Kommission. Kurz nimmt die Idee Fahrt auf, um dann nach allen Regeln der europäischen Kunst torpediert zu werden. Vieles läuft schief in Brüssel, vieles wird ein Opfer von Bürokratie und Ineffizienz. Aber vielleicht verhindert die EU Kriege, so wie das Habsburgerreich lange Zeit einen brüchigen Frieden bewahrt hat. Nichts ist, darin folgen wir Menasse, schlimmer als eine Rückkehr des Nationalismus.

Wir haben nicht mehr die Erwartung, in Romanen politische Zeitgenossenschaft zu spüren. Was sollen Romanautoren schon über das hinaus wissen, was können sie erlebt haben, was über den Horizont unseres eigenen Nachrichtenkonsums hinaus geht? Vielleicht ziehen sich auch deshalb viele Schriftsteller in die Vergangenheit zurück, beispielhaft Daniel Kehlmanns Tyll in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges oder Ingo Schulze in die Wirren der Postwendezeit. Oder sie konzentrieren sich auf die Resonanz der großen Umbrüche im Leben einer Familie, wie Sasha Marianna Salzmann in Außer sich. Robert Menasse ist das Wagnis eines politisch informierten, politisch engagierten Gegenwartsromans eingegangen und hat damit gewonnen. Sein Engagement drückt Besorgnis aus, kann aber eine große Heiterkeit nicht verkennen. Besorgt, aber heiter: So einen Roman können wir gerade gut gebrauchen.