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Gemischtes Doppel: Visegrad #11 | Ungarn
Ist das schon das Vorzimmer zum Faschismus?

Während der Führer der illiberalen Demokratie im Urlaub weilt, legen seine Gefolgsleute weiter die Axt an die jüngere ungarische Geschichte. Zwischen Protest und Apathie schwankt Márton Gergely.

Von Márton Gergely

Liebe Tereza, liebe Monika, lieber Michal,
 
manchmal fühle ich mich wie eine Laborratte. Es wird Gift über mir ausgeschüttet und ich muss mich entscheiden, ob ich schreien oder lieber cool bleiben soll. Werde ich absichtlich provoziert, oder bin ich schon im Vorzimmer zum Faschismus gelandet, den ich mit meiner Ignoranz dulde?
 
„Die Maschine läuft, der Schöpfer ruht sich aus“, heißt es in Die Tragödie des Menschen von Imre Madách, dem bekanntesten ungarischen Drama. Und das beschreibt ziemlich genau, was in diesen Wochen in Ungarn geschieht. Anfang August verabschiedete sich Ministerpräsident Viktor Orbán in die Ferien und ließ über Facebook ausrichten, man solle ihn nicht stören. Zuvor versprach er große Taten und Reformen für September, allen voran einen End(wahl)kampf gegen die Alt-68er auf dem gesamten Kontinent. Das alles anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Mai. In Orbáns Abwesenheit überbietet sich jetzt seine Gefolgschaft mit Angriffen auf Andersdenkende.
 

In Orbáns Abwesenheit überbietet sich jetzt seine Gefolgschaft mit Angriffen auf Andersdenkende.

Es fing mit der Entscheidung der Regierung an, Gender-Studies zu verbieten. Als Grund behaupten sie, Geschlechter seien nur biologisch zu untersuchen. Und: Aus gesellschaftlicher Perspektive die Rolle von Frauen und Männern zu betrachten, sei keine Wissenschaft, sondern Ideologie. Der Präsident des ungarischen Parlaments László Kövér meinte, Gender-Studies seien genauso schlimm, wie die Eugenik in Nazi-Deutschland. Überhaupt wünsche er sich, „dass unsere Töchter es als die größtmögliche Selbstentfaltung verstünden, uns mit Enkeln zu beglücken“.
 
Orbán und Kövér haben sich schon vor Jahren vorgenommen, den Platz vor dem ungarischen Parlament, den Kossuth tér, umzubauen. Dort soll alles wieder so aussehen wie vor dem zweiten Weltkrieg, also zur Zeit des ungehemmten und selbstzerstörerischen Nationalismus. Der Führer der illiberalen Demokratie plant nichts anderes als eine rechtsnationale Restauration. Die Statuen der jüngeren Geschichte wurden verbannt, alte Denkmäler mithilfe historischer Fotos wiederaufgebaut. Ministerpräsident Mihály Károlyi, der die erste demokratische Regierung nach dem ersten Weltkrieg anführte, musste verschwinden. Jetzt, nach 70 Jahren, steht stattdessen wieder István Tisza vor dem ungarischen Parlament – jener Ministerpräsident, der Ungarn in diesen Krieg hineinzog.
 
Am Kossuth tér befindet sich auch eine Statue des Nationalhelden Imre Nagy. Er könnte die Ungarn vereinen – zumindest symbolisch. Um genau das zu betonen, steht seine Statue auf einer künstlichen Brücke. Der Reformkommunist verstand den Wunsch der Demonstranten während des Volksaufstandes im Oktober 1956, leitete als Ministerpräsident die demokratische Wende ein und bezahlte nach der Niederschlagung der Revolution dafür mit seinem Leben. Der Märtyrer ist aber bei der ungarischen Rechten verhasst. Jetzt scheint ihnen die Gelegenheit günstig, sie kratzen ihren Mut zusammen, wollen sein Denkmal vom Kossuth-Platz verbannen.
 
Das allein ist verstörend. Was sie stattdessen vorhaben, ist dagegen geschmacklos: Das Denkmal für die „nationalen Märtyrer“, das als ideologische Verankerung des faschistischen Ungarns zwischen den zwei Weltkriegen diente, soll wiedererrichtet werden. Ursprünglich war es vordergründig den Opfern der kommunistischen Räterepublik von 1918-1919 gewidmet. Natürlich ist es nicht falsch, die Gräueltaten anzumahnen, aber der Staat sollte mit einem Abstand von 100 Jahren den Anstand aufbringen, auch der Toten des weißen Terrors zu gedenken. Darum scheren sie sich aber nicht, ganz im Gegenteil: Ihr Ziel ist es, die Geschichte umzuschreiben.
 

Nichtkatholiken werden zu Bürgern zweiter Klasse degradiert.

An diesem Montag, anlässlich des ungarischen Nationalfeiertages, zierten zwei große Kruzifixe das Parlamentsgebäude. Vor ein paar Monaten wurde die ungarische Verfassung geändert: Seitdem sind alle staatlichen Institutionen verpflichtet, die katholische Kultur zu verteidigen. Damit sind Nichtkatholiken nun offiziell zu Bürger zweiter Klasse degradiert. Nun prangt das Kreuz auch noch als Dekoration auf dem Haus der Volksvertretung. Anders als in Deutschland, wo die Maxime „Dem deutschen Volke“ die Parlamentarier an ihre Verpflichtung erinnert, verkünden ihre ungarischen Kollegen am Nationalfeiertag, dass sie sich nur für einen Teil des Volkes zuständig fühlen.
 
Ich weiß nicht, welche Reaktion jetzt richtig wäre! Sollte ich die Verklärung der Geschichte, die Leugnung der Wissenschaft und die ideologische Neuausrichtung meines Landes stumm ertragen? Oder soll ich handeln, lauthals demonstrieren, wüten, schreien?
 
Ich weiß, dass sie mich provozieren wollen. Sie suchen die Konfrontation, um ihren Kulturkampf zu legitimieren. Seit April ist Orbán de facto Alleinherrscher, und ihm gehen allmählich die Gegner aus. Deshalb muss das Regime neue erschaffen, um weiterhin seinen Raubbau an der Demokratie begründen zu können.
 
In diesem zynischen Spiel bleibt dem Demokraten keine Wahl. Wenn man sich erregt, wenn man demonstriert, liefert man dem System den verhassten Liberalen, der Ungarn verrät. Schweigt man, ermuntert man sie, noch krasser, noch hasserfüllter, noch menschenverachtender vorzugehen.
 
Ich versuche es mit einem Mittelweg: Ich lache sie aus. Das hilft mir zwar, mein Gewissen zu beruhigen, ist aber für die ungarische Demokratie genauso wirkungslos, wie Protest und Apathie.
 
Ich fürchte, sobald Orbán wieder die Arbeit aufnimmt, kommen Gesetzesvorhaben und Reformen, die diese Fragen überflüssig machen.

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