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Väterliteratur
Zwischen Abrechnung und Annäherung

Buchcover: Öziri: Vatermal / Utlu: Vaters Meer
© Claasen, Suhrkamp / Canva

In Necati Öziris und Deniz Utlus Romanen steht die Auseinandersetzung mit abwesenden Vätern im Zentrum. Sie mündet einmal in Wut und einmal in Melancholie.

Von Holger Moos

Autofiktion, das literarische Schreiben über das eigene Leben, ist schwer in Mode, und das schon seit Langem. Es geht um die Auseinandersetzung mit den Prägungen durch Herkunft und Familie. Die Grenzen zwischen Erlebtem und Erfundenem sind dabei fließend. In diesem Jahr sind einige Romane erschienen, die das Verhältnis zu den Eltern erkunden. Oft ist es der Tod, der Autor*innen dazu bringt, sich mit ihren Vorfahren auseinanderzusetzen.

So schrieben Maxim Biller mit Mama Odessa und Wolf Haas mit Eigentum so spöttische wie zärtliche Erinnerungsbücher, nachdem ihre Mütter wenige Jahre zuvor gestorben waren. Auch Michel Bergmann setzt sich in seinen Roman Mameleben oder das gestohlene Glück mit dem Schicksal seiner 2021 verstorbenen Mutter, einer KZ-Überlebenden, auseinander. Katharina Mevissen hat ihren Roman Mutters Stimmbruch dagegen nicht an die Realität angelehnt, sondern schafft in ihrer Rückschau starke, bisweilen bizarr-surrealistische Bilder.

Die Väterliteratur steht in Deutschland in der Tradition der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, in manchen dieser Werke, wie etwa in Bernward Vespers Romanessay Die Reise (1977), wird mit dem Vater öffentlich „abgerechnet“. Im Gegensatz dazu sind die heutigen Bücher über Väter meistens keine Abrechnungen, sondern Annäherungen, wie Ralph Gerstenberg 2021 in einem Deutschlandfunk-Beitrag feststellt.

Väterbücher mit einer besonderen Perspektive legten in diesem Jahr Necati Öziri mit seinem Debütroman Vatermal und Deniz Utlu mit Vaters Meer vor. Beide Autoren schreiben über ihre aus der Türkei stammenden Väter und damit auch über das, was Migrationserfahrungen für die Familien bedeuten.

Buch an den Vater

Öziri: Vatermal © Claasen So wie Kafka seinen ausladenden Brief an den Vater nie abgeschickt hat, ist Öziris Vatermal ein Buch an den Vater, das von diesem wohl ebenfalls nie gelesen wird. Schreiben ist in diesen Fällen eine Verarbeitung von Vater-Sohn-Konflikten, ein Versuch, sich Antworten auf Fragen aus der Vergangenheit zu nähern, die niemals abschließend zu beantworten sein werden.

Bei Kafka schreibt der Sohn: „Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.“ Auch bei Öziri klagt der im Krankenhaus und womöglich im Sterben liegende Sohn Arda seinen Vater an. Doch Ardas Vater ist ein Phantom, er hat ihn nie kennengelernt. Ardas Vater hat die Familie verlassen und in der Türkei eine neue Familie gegründet. Vater und Sohn haben eine optische Ähnlichkeit, beide haben ein Muttermal im Gesicht. Das Muttermal als Vatermal, eine ironische Brechung der im Leben nicht vorhandenen Verbundenheit.

Von seinem Vater macht Arda sich ganz unterschiedliche Vorstellungen. In seiner Wut stellt er sich einen „Arschloch-Vater“ vor. Dann wieder glaubt er nicht, dass er ein schlechter Vater gewesen sei. Immer wieder wendet sich der Ich-Erzähler in direkter Ansprache an seinen Vater, den er nicht Papa, sondern Metin nennt: „Wahrscheinlich bist du nach dem Gefängnis der sanfteste, liebevollste Vater geworden.“.Aber leider eben erst in seiner zweiten Familie.

Leerstellen

Utlu: Vaters Meer © Suhrkamp In Utlus Vaters Meer ist der Ich-Erzähler Yunus dreizehn Jahre alt, als sein Vater Zeki zwei Schlaganfälle erleidet. Danach lebt er noch zehn Jahre lang mit dem Locked-in-Syndrom und kann nur über Augenbewegungen kommunizieren. Yunus’ Mutter pflegt ihn bis zu seinem Tod. Im Roman ruft sich Yunus Erlebnisse und Bilder aus seiner Kindheit in Erinnerung – und das Leben seines Vaters, mit vielen Leerstellen, die Lücken muss Yunus erzählerisch mittels seiner Vorstellungskraft füllen. Auch Yunus‘ Vater ist ein Phantom, das ledigleich physisch anwesend war: „Vater war eine Erzählung geworden, er war keine Person mehr.“

Die Heimatstadt der Familie ist das uralte Mardin, an der türkisch-syrischen Grenze, im historischen Mesopotamien gelegen. Mit seinem Völker- und Religionsgemisch gilt die Stadt als Symbol für Weltoffenheit. Sowohl für Yunus als auch schon für seinen Vater ist Mardin ein Ort, der vielfältige Erinnerungen auslöst. An einer Stelle heißt es, der Besuch Mardins sei „eine unverhoffte Reise in die Vergangenheit, jene Zeit, in der sie an dem Ausgangspunkt der Unendlichkeit lebten“.

Wut und Melancholie

Die beiden Vaterbücher von Öziri und Utlu sind in sehr verschiedenen Tonlagen verfasst. Während bei Öziri der Zwiespalt zwischen jugendlicher Wut und dem gleichwohl vorhandenen Wunsch nach Versöhnung mit dem verschwundenen Vater im Mittelpunkt steht, ist Utlus Vaters Meer ein poetisches und melancholisches Erinnerungsbuch, das zwischen der Liebe zu einer starken Vaterfigur und dem schmerzhaften Verlust derselben zu Lebzeiten oszilliert.

Beide Bücher wurden vollkommen zurecht aus der Masse an Neuerscheinungen herausgehoben. Öziris Vatermal erhielt in diesem Jahr eine Nominierung für den aspekte-Literaturpreis des ZDF und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Für die Jury fängt der Roman „den Sound der Straße ein: wütend, schlagfertig, witzig und zart. Seine jugendlichen Helden suchen Orientierung in einer Gesellschaft, in der sie nie wirklich ankommen. Öziri öffnet uns für diese deutsche Realität die Augen.“

Utlu wurde mit dem diesjährigen Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet, Jurymitglied Marie Schoeß, Autorin und Moderatorin beim Bayerischen Rundfunk, schreibt zu Vaters Meer, dass Utlu „vor allem eines entdeckt: die Kraft des Erzählens. Einmal erkannt, dass Erinnerungen formbar sind, macht sich dieser Sohn ans Werk und schreibt seine persönliche Version der Familiengeschichte. Im Gepäck: ein großes Gespür für Mehrsprachigkeit, die Lust aufs Spiel mit verschiedenen Erzähltraditionen und offene Augen für die Wärme des eigenen Zuhauses.“

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