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Roman
Muss diese Kreuzigung denn wirklich sein?

Die Flucht nach Ägypten
© Goethe-Institut/Thienemann

Am Dreikönigstag beginnt die Flucht nach Ägypten: In Otfried Preußlers Roman reist die Heilige Familie durch Böhmen und wäre sehr gern dort geblieben.

Von Wolfgang Fuhrmann

Wer mit den Alten Meistern der europäischen Kunst­geschichte vertraut ist, der weiß, wie unbekümmert sie biblische Szenen oder Heiligenlegenden in ihre eigene Lebenswirklichkeit versetzen. Dass die Heiligen wie die Sünder nach der neuesten Mode gekleidet sind, ist noch das wenigste. Die Künstler missachten sogar kühn die interne Chronologie der Heilsgeschichte: Da hängt in Lorenzo Lottos Geburt Christi von 1523 an der Wand des Stalls mit dem neugeborenen Jesuskind schon ein Kruzifix, und bei Hieronymus Bosch findet sich im Hintergrund der Kreuzigung Christi eine spätmittelalter­liche niederländische Stadt, komplett mit Kirchen und Kreuzen. Die Anachronismen führen es uns vor Augen, was im ­Kirchenjahr zelebriert wird: Die Heils­geschichte findet immer und überall statt.

1978 veröffentlichte der als Kinderbuchautor längst weltberühmte Otfried Preußler, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr am 20. Oktober zum hundertsten Mal jähren wird, sein erstes Buch für Erwachsene. Es trägt den Titel Die Flucht nach Ägypten – Königlich böhmischer Teil, und schon daran wird deutlich, dass der Autor die Gesetze der Geographie ebenso entschlossen zu ignorieren gewillt war wie die der Chronologie.

Die Ausgangslage ist aus dem Mat­thäusevangelium bekannt. Damit der göttliche Säugling nicht den Mordschergen des Herodes zum Opfer fällt, muss die Heilige Familie unmittelbar nach dem Besuch der Heiligen Drei Könige von Bethlehem nach Ägypten fliehen. Doch der kürzeste Fluchtweg führt in diesem Buch geradewegs durch Nordböhmen, und zwar das königliche Nordböhmen des späten neunzehnten Jahrhunderts. Für die Autorität dieser unerwarteten Streckenführung beruft sich der Autor auf seine beiden Großmütter, die ihm davon noch berichtet hatten; insbesondere die Großmutter Dora hat ja in ihrer unerschöpflichen Fabulierlust ihrem Enkel die Neigung zum Geschichtenerzähler eingepflanzt.

Leicht wird es den Emigranten nicht gemacht. Denn als Herodes erfährt, dass der bethlehemitische Kindermord sein Ziel verfehlt hat und die Flüchtigen sich bereits außerhalb seiner Jurisdiktion befinden, da schickt er (nicht ohne Einfluss Luzifers) dem Kaiser Franz Joseph in Wien ein Telegramm mit der Bitte, ihm „im Wege der gegenseitigen Amtshilfe“ die Familie des Zimmermanns Joseph aus Nazareth in Böhmen aufgreifen, festsetzen und ins jüdische Land zurückschicken zu lassen. In bester Absicht wird dieses Ansuchen an die kaiserlich-königliche Statt­halterei in Prag und von dort in bürokratischen Windungen bis hinunter zum k. k. Gendarmeriepostenkommandanten Leopold Hawlitschek in der Gemeinde Hühnerwasser weitergeleitet. Diesem stellt die Hölle, die verständlicherweise ein eigenes Interesse daran hat, den göttlichen Heilsplan zu durchkreuzen, ein aufstrebendes Jungtalent zur Seite, nämlich den Mittleren Oberteufel auf Probe Pekloslav Pospišil, Abteilung für Höllische Angelegenheiten des Königreichs Böhmen. Dieser fährt in den Fleischer- und Selcherhund Tyras ein, der dem Hawlitschek zur Spurensuche zur Seite gestellt wird, und zwar tut er dies, wie der Autor anmerkt, „von rückwärts“. Doch auch die Heilige Familie ist nicht ohne überirdischen Beistand, denn in den Esel, mit dem man die Flucht antritt, ist der Erzengel Gabriel eingegangen – auf etwas vornehmere Weise vermutlich als der Teufel. Damit ist die Ausgangslage für dieses Road Movie in Buch- und Legendenform geschaffen.

Schweinebraten mit Knödeln

Auf dem Spiel steht also nichts Geringeres als das Heil der Welt, doch da wir wissen, wie die Sache ausgegangen ist, können Erzähler wie Leser – schon angesichts der Rückschläge, die sich der übereifrige Teufel Pospišil einen nach dem anderen selber einbrockt – über lange Zeit tiefenentspannt bleiben. Zumal im Königreich Böhmen auch Flucht und Verfolgung keineswegs zur Vernachlässigung des leiblichen Wohls verleiten und der Ermittler Hawlitschek seinen Auftrag immer wieder gern für „Schweinebraten mit böhmischen Knödeln und fein gedünstetem Weißkraut“ und andere Schmankerln vorläufig hintanstellt, zumal ihm diese von der noch durchaus jungen und reschen Witwe Machatschka geradezu aufgenötigt werden.

Nicht nur solche stets appetitanregenden Exkurse sorgen für das Lokalkolorit, auch nicht nur das im scheinbar Vorindustriellen verharrende und so dem biblischen nicht völlig unähnliche bäuerliche und kleinbürgerliche Milieu. Auch die durchweg böhmischdeutsch eingefärbte Sprache entwickelt eine zugleich bodenständige und epische Ge­lassenheit, die sich nur im Zitat vermitteln lässt: „No schön, der Herr Bělohlavek – was möchte er haben tun sollen, wenn nicht das, was vermutlich auch wir täten, wenn ein Engel (und sei es ein noch so kleiner) uns vor der Haustür erscheinen möchte mit einer solchen Botschaft?“

Deutsche und Tschechen: Gemeinsam in Böhmen?

Besagte Botschaft des kleinen Engels lautet, dass Herr Sigisbert Bělohlavek das Jesulein im „Häusla vom Elsner-Schuster“ in Waltersdorf aufsuchen und anbeten soll – wobei er dies gemeinsam mit Herrn Jaroslav Vojtěch Weishaupt, seinem Intimfeind, tun muss (entgegen ihrer übrigens gleichbedeutenden Familiennamen ist nämlich der erste ein deutscher, der zweite ein tschechischer Nationalist). Dieser vom Heiligen Wenzeslaus, dem Patron Böhmens, eingefädelte Plan zur Versöhnung aber geht nicht auf, am nächsten Morgen sind sich die beiden wieder spinnefeind: „nicht einmal Gottes Wunder, wie der Versuch gezeigt hat, kann sie zur Einsicht bringen.“ Preußler, dessen Angehörige durch die Beneš-Dekrete aus seiner böhmischen Heimat vertrieben wurden, wäre aber nicht Preußler, wenn er dieser Resignation das letzte Wort ließe. Ähnlich, wie er in einer anderen Szene nicht nur eine Reihe böhmischer Heiliger auftreten lässt, um Jesus und Maria zu huldigen, sondern auch Jan Hus, „auf dem Haupt die papierene Ketzermütze, mit der sie ihn damals in Konstanz hinausgeführt haben“, Lutheraner, einen Böhmischen Bruder und schließlich sogar den Rabbi Loew, den Schöpfer des Golem, der sich vor dem Kind verneigt aus Ehrerbietung für das Haus Davids.

Solche kleinen und großen Wunder, wie sie naturgemäß den Weg der Heiligen Familie zieren, sind alle von solcher Natur, dass sie dem religiösen Kitsch haarscharf ausweichen: Keine Krankheit, keine ungewollte Schwangerschaft, nicht einmal menschliche Niedertracht können Maria und ihr göttlicher Sohn ungeschehen machen, sie können nur für den Augenblick Leid lindern und Auswege anbieten. Die Reihe von mildtätigen und harschen, zufriedenen und verzweifelten Menschen, denen sie auf dieser Reise begegnen, macht aus Nordböhmen ein wahrhaftes Welttheater – wie es die große bewegliche Weihnachtskrippe ist, die der Möldner Anton alljährlich zu Weihnachten in seiner Stube aufbaut, und die mit dem sinnreichen Mechanismus, der Vagabund und Gendarm, Scherenschleifer und Lumpensammler, Schmuggler und Engel in Bewegung setzt, Josef nicht nur fachmännisch interessiert, sondern auch erfreut, weil er sich da selbst mit seiner Familie im Stall noch einmal entdeckt, gleichsam hineingesetzt in diese Landschaft der späten Habsburgermonarchie wie in das Bild eines Alten Meisters.

Dieses Spiel mit dem Anachronismus, das bis dahin nur als ein schnurriger Kunstgriff erscheinen könnte, wird in den letzten Kapiteln des Buchs zu wahrhaftigstem Ernst. Denn wenn die ganze Ge­schichte eigentlich schon längst bekannt ist, dann kann sich der Hawlitschek auch plötzlich erinnern, dass jener Herodes, auf dessen Wunsch hin er ja in Bewegung gesetzt wurde, identisch ist mit dem kindermordenden Wüterich aus dem Drei­königsspiel, das er am Abend zuvor ge­sehen hat. Und dann erfährt auch Maria, als sie die Sonntagsmesse in der Stadt­kirche von Hohenelbe besucht, aus der Predigt, welches Schicksal ihr Sohn er­leiden wird. „Da trifft es die Muttergottes mit sieben Schwertern, so dass sie im Schmerz erstarrt“ – und sogar in die Versuchung gerät, statt nach Ägypten zu fliehen das Jesuskind im böhmischen Dörfchen Glasersdorf abgeschieden von der bösen Welt aufzuziehen. Hier wird aus einem böh­mischen Schelmenstück plötzlich tiefster Ernst, gegen den die Festsetzung der Familie kurz vor der schlesischen Grenze zuletzt nur noch als retardierendes Moment erscheint.

Die Flucht nach Ägypten ist vergriffen und nur als Hörbuch erhältlich. Ein guter Geist hat uns eine antiquarische Ausgabe in die Hände gegeben. Es ist eines jener nicht allzu häufigen Bücher, bei dem man sich schon während des Lesens auf die abermalige Weihnachts-Lektüre freut.

FAZ, 06.01.2023
 

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