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Pavel Novotný über Avantgarde
Avantgarde – Neoavantgarde – Postavantgarde

Avantgarde – Neoavantgarde – Postavantgarde
Goethe-Institut

ENTWICKLUNGSLINIEN DER AVANTGARDE

Wollte man die Grundcharakteristika von „Avantgarde“ definieren, so wären dies sicherlich die Zerstörung traditioneller ästhetischer Vorstellungen und das Reagieren auf das Tempo der modernen Zivilisation.
Der Begriff Avantgarde als solcher ist vor allem mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden, mit dem technischen Zeitalter, der Großstadt und deren musikalischem und mechanischem Rhythmus. Das avantgardistische Werk gestaltet die Welt als offenes Mosaik, es appelliert an die Sinnlichkeit. In der Verwendung neuer Medien, wie etwa des Films, der Photographie und später auch des Tons, stellt es eine grundlegend Umwälzung dar, intermediale Verfahren – zum Beispiel die optophonetischen Texte der Futuristen oder die unterschiedlichen typographischen Spiele der Poetisten und der Dadaisten – treten auf. Aus heutiger Sicht sind die avantgardistischen Verfahren nur noch bedingt schockierend, sie sind vielmehr Bestandteil der breiten Traditionslinie moderner Strömungen: Paradoxer Weise handelt es sich um eine Tradition, die in ihren Prinzipien sehr weit in die Geschichte zurückreicht und in verschiedenen Wandlungsformen bis heute weitergeht.

Fragen wir zeitgenössische tschechische und deutsche Autoren nach ihrem Verhältnis zur Avantgarde, so müssen wir (neben den natürlichen internationalen Verbindungslinien) die Tatsache in Kauf nehmen, dass die schöpferische Arbeit tschechischer und deutscher Autoren in unterschiedlichen Grundlagen wurzelt, da die avantgardistischen bzw. (allgemeiner) modernistischen Tendenzen in den jeweiligen Sprachbereichen nicht übereinstimmen. Jedes Volk nimmt in seine progressiven künstlerischen Strömungen spezifische Einflüsse auf.

Die deutschsprachige Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht deutlich mit einem programmatischen Unglauben dem Gehalt des Wortes gegenüber (Sprachzweifel) einher, der bereits von Nietzsche oder Hugo von Hoffmannsthal formuliert worden war und der schon in der Frühromantik anklingt. Diese Sprachskepsis ist zweifellos auch einer der Gründe, warum in Deutschland zwischen den Weltkriegen so gut wie gar kein Surrealismus auftritt, der ja gerade auf die (Un)Tiefen der Sprache aufbaut; sichtbare Wirkung entfalteten hier dagegen der Dadaismus und alle Tendenzen, die mit der Materialität von Wort und Laut arbeiten. In der tschechischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit fehlt eine solche eindeutige Skepsis. Sie inspiriert sich einerseits an der Verspieltheit des Dadaismus, bringt aber im Poetismus auch Elemente innerlicher, phantastischer und multisensorisch basierter Lyrik hervor, arbeitet mit Humor (vgl. vor allem Voskovec und Werich oder E. F. Burian) und schafft eine deutlich sichtbare Brücke zum französischen Surrealismus.
Auch nach dem Krieg decken sich die Entwicklungstendenzen nicht. In Deutschland und Österreich war die Neoavantgarde der Nachkriegszeit erneut stark von einer sprachkritischen Sicht der Literatur geprägt, von der radikalen Bemühung um die Reinigung der kontaminierten Sprachmaterie. Misstrauen gegenüber der Metapher oder dem schwungvoll-poetischen Ausdruck war, ebenso wie eine Ablehnung der Klassik, die logische Reaktion auf die Verwüstungen, die die Nazi-Propaganda hinterlassen hatte.

Die Sprache, die gesamte Literaturtradition, der Mythos des Wortes und vieles mehr wurden während der Nazizeit beraubt und geplündert, weshalb nach dem Krieg die Anknüpfung an experimentelle Verfahren bzw. ihre Vertiefung als gesündester und sauberster Weg zu einer neuen Literatur, ja zu einer neuen Kunst an sich erschien. Dies ist einer der Hauptgründe für den Höhenflug der s. g. „konkreten Poesie“ in ihren diversen medialen Ausprägungen in Deutschland.

Die tschechische experimentelle Tradition der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht teilweise in einer Verbindungslinie mit den westlichen neoavantgardistischen Traditionen, entwickelte sich aber in erheblichem Maße autonom weiter. Wieder skizziere ich nur grob: Während einerseits die surrealistische Richtung (Effenberger, Nápravník, Linhartová u. a.) wieder auflebte, entwickelte sich andererseits die Experimentalpoesie, wie sie u. a. von Jiří Kolář, Emil Juliš oder dem Duo Hiršal/Grögerová vertreten wurde. Diese sprachreflexive Poesie war zwar zum Teil gewissermaßen ein Import „aus dem Westen“ (vor allem aus Frankreich und Deutschland), sie birgt aber gleichzeitig auch eine spezifische inländische Reaktion auf hergebrachte und verhältnismäßig abgenutzte schöpferische Verfahren in sich, die zudem noch durch die ideologische Gehirnwäsche seitens des kommunistischen Regimes ermächtigt wurden. Hier bot das Sprachexperiment ein völlig freies Feld, führte es doch jede Ideologie, jede sprachliche Manipulation nackt vor und machte sie zum Teil auch lächerlich. Anders als bei den westlichen Nachbarn, die zumeist auf rein ästhetischer Ebene operierten, weist die tschechische Experimentalpoesie gerade diesen herausstechenden satirischen und ethischen Charakter auf, der in diesem Sinne auch gesellschaftliche Engagiertheit beinhaltet – besonders deutlich sichtbar ist er in Václav Havels „Antikódy“ (Andicodes), oder an Hiršal und Grögerovás „Job-Boj“ (Job – Kampf).

Während die oben erwähnte radikale Position der Neoavantgarde bei uns Ende der Sechziger Jahre von der Normalisierung erstickt wurde, entwickelten sich im Westen alle möglichen progressiven Verfahren völlig ungestört weiter. Das Sprachexperiment drang ins Hörspiel vor, mit multimedialen Techniken und Bühnenaktionen und dem Musiktheater wurde und blieb es zugleich auch eine der aktuellen und dauerhaften Entwicklungslinien geschriebener und akustischer Dichtungsformen. Die tschechische Lyrik bewegte sich ab Anfang der Siebziger Jahre in eine andere Richtung: Während der Siebziger- und Achtzigerjahre verschwanden die radikalen Verfahren der Kunstpoesie fast vollständig: Eine starke Basis behielt Lyrik, die auf einem durch und durch traditionellen Verständnis vom Wort als Vermittler von Bild und Vorstellung beruhte, die Traditionen des Nonsens und des Surrealismus überlebten ebenfalls, und auch der literarische Underground leistete einen wichtigen Beitrag. Summa summarum: Die tschechische und die deutschsprachige Entwicklung überschneiden sich nur teilweise und laufen logisch auf die Ausbildung unterschiedlicher Erscheinungsformen in der gegenwärtigen Literaturszene hinaus.

MÖGLICHE PARALLELEN IN DER GEGENWARTSLITERATUR

Es ist die Frage, ob wir heutzutage, wo wir den ganzen Weg von der (Vor)Moderne über die Nonsensdichtung, den Expressionismus, den Dadaismus, den Surrealismus, die neoavantgardistischen Strömungen seit den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis zur Postmoderne hinter uns haben, wo wir von einem unglaublichen Dickicht inter- und multimedialer Kunst umgeben sind, wo praktisch nichts mehr schockieren kann, - ob wir also heute überhaupt noch künstlerische Gebilde als „avantgardistisch“ bezeichnen können. Es ließe sich wohl eher sagen, dass sich die Autoren auf ihre ganz eigene Weise reflexiv des reichen Registers bisheriger Entwicklungslinien bedienen (selbstverständlich nur, wenn wir diejenigen außen vor lassen, die einfach nur hundertmal Wiedergekäutes reproduktiv wiederkäuen). Die heutige Lyrik baut auf eine bunte Skala von Verfahren und Einflüssen auf; schon Ende der Sechziger Jahre schrieb Helmuth Heißenbüttel: „Alles ist möglich, alles ist erlaubt“.

Ich selbst habe kein Universalrezept, was die Spuren der Avantgarde in der zeitgenössischen Lyrik betrifft, und bin mir nicht einmal sicher, ob ein solches Rezept überhaupt existieren kann. Vielleicht kann man feststellen, in welchem Maße sich die jeweiligen Autoren vom Sprachinhalt ab- und dem Material selbst zuwenden. Im tschechischen Sprachraum ließen sich ganz sicher Dichter finden, die man als experimentell und in ihrer Arbeit mit dem Wort radikal bezeichnen könnte, da sie die Betonung auf das Wort oder den Laut als Objekt legen. Zu nennen wären in dieser Hinsicht einige recht unterschiedliche Beispiele: Jaromír Typlt, der ursprünglich vom Surrealismus kommt, verbindet äußerst sinnreich Klang, Schrift und Bild, balanciert zwischen dem Klang des Wortes an sich und dem Sinn des Textes; Wörter werden bei ihm zu echten Gegenständen, die sich reiben, platzen oder auch aalglatt angekrochen kommen. Ein bemerkenswerter Sprachexperimentator ist auch Robert Janda, ein Autor, der den Wortsinn durch ein quasi alchemistisches bzw. magisches Spiel mit den sprachlichen Ingredienzien spontan aufsteigen lässt. Ein verhältnismäßig wenig beachteter, jedoch grundlegend wichtiger Autor so genannter „physischer Poesie“ ist Petr Váša, der Lyrik als oral-biologische und performative Angelegenheit begreift, welche die Traditionslinie des Dadaismus und der späteren auditiven Poesie klar erkennen lässt. Auf dem Feld der Nonsensdichtung, der Blödelei im positiven Sinne und häufig auch der konkreten Poesie arbeitet der Autor Michal Šanda. Im Rahmen experimenteller Verfahren wäre auch jene „trockene“ konzeptionelle Linie zu nennen, die hierzulande vor allem von Ondřej Buddeus und bei unseren slowakischen Nachbarn etwa von Michal Rehúš vertreten wird. Ein solch reflexives Verhältnis zur Sprache ist jedoch nur ein Ausschnitt dessen, was das Vermächtnis der Avantgarde insgesamt zu bieten hat – die Liste der Autoren, die auf die Errungenschaften althergebrachter  progressiver Verfahren zurückgreifen, ließe sich noch lang und differenziert fortsetzen, um ehrlich zu sein: Man müsste wahrscheinlich jeden qualitativ hochwertigen Lyriker der Gegenwart darauf setzen.

Wenn ich beurteilen müsste, wer heutzutage in der Lyrik sozusagen die Nase vorn hat, würde ich wohl danach gehen, wie der jeweilige Autor mit der Sprache arbeitet. Wenn ich nachfragen sollte, was gegenwärtige Dichter an der Tradition der Avantgarde anspricht, so wäre wohl ihre Beziehung zum Fragment und zur literarischen Montage und Collage von Interesse, zum Wort, zur Silbe oder zum Laut als dem Gegenstand des Schaffens, manchmal auch zum streng logisch-künstlichen Textaufbau. Und umgekehrt: Ich würde wissen wollen, welche Rolle Metaphern, rhetorische Figuren, Phantasie und Vorstellungskraft spielen können. Interessieren würde mich außerdem die problematische Frage, ob der jeweilige Autor von seiner spezifischen nationalen oder sprachlichen Tradition inspiriert ist, ob er seine Anregung vielleicht  aus dem Ausland bezieht oder ob er überhaupt in der Lage und willens ist, seine Arbeit unter dem Aspekt der Einflussforschung zu betrachten.

Davon, was der derzeitige poetische Mummenschanz alles mit der alten (Neo)Avantgarde gemein hat, wird in der Diskussion mit vier bedeutenden zeitgenössischen tschechischen und deutschen Dichtern die Rede sein: mit Steffen Popp (D), Adam Borzič (CZ), Ann Cotten (D) und Jakub Řehák (CZ). Alle vier Autoren zeichnen die sie umgebende Welt in mancher Hinsicht ähnlich: als eigenwilligen Tanz von Fragmenten, als Kaleidoskop. Steffen Popp erschafft äußerst verwickelte Irrgärten sprachlich autonomer Bilder, ein splittriges bis abstraktes, teilweise auch ausgelassenes Wortgewirr, das durch Wort- und Lautassoziationen, manchmal auch durch Rhythmen zusammengehalten wird: So setzt sich über das freie Experimentieren mit dem  Sprachmaterial ein Bild der Welt zusammen. Bei Ann Cotton (die übrigens unlängst mit dem Hugo-Ball-Preis ausgezeichnet wurde) ist die Tendenz zur sprachlichen Abstraktion, zu ausgeprägter Fragmentarizität und Assoziativität ebenso stark; ihre Gedichte sind ein offenes Wort-Labor, in dem sich die verschiedensten Einflüsse und Ingredienzien vermischen – von gesprochener Sprache über klassische Literatur und assoziative Reihungen bis hin zur konkreten Poesie.

Jakub Řehák wurde einmal äußerst treffend als Dichter bezeichnet, der gern „in den Armen der Avantgarden weilt” (Michal Jareš in seiner Rezension zu Past na Brigitu (Falle für Brigita). In seinen Gedichten mischen sich die Einflüsse von Poetismus und Surrealismus, die Faszination für die Stadt (typisch für den Zivilismus sowie die Skupina 42), aber zweifellos auch die Tradition der Romantik auf neue Art; typisch für Řeháks Lyrik ist das Filmische, die Abfolge montierter Bilder. In der Weise, wie Řehák sie verwendet, bergen die Wörter eine außerordentliche, ans Haptische grenzende Sinnlichkeit der gestalteten Eindrücke, durch Betonung oder auch einen Zoom aufs Detail: abgebröckelte und rissige Wände, die Rippen der Zentralheizung, ein feuchtkalter Morgen, der Matsch der Baustellen, Liebe und Erotik, verstrickt ins Labyrinth der Stadt. Mir selbst kommt aus seiner Lyrik auch etwas von dem Gespenstischen der Prager Romantik Paul Leppins entgegen, in dessen Werk das Geheimnis der nächtlichen Stadt von Erotik durchdrungen ist.

Adam Borzič wird als Dichter eines neuen Modernismus begriffen, für den das Überprüfen klassischer oder explizit antiker Traditionen typisch ist. Borzič legt viel Wert auf phantastische Bilder und Metaphern – dabei werden jedoch nicht uralte Museumsstücke abgestaubt, sondern es entfaltet sich ein elementares, reflexives Spiel mit dem sprachlichen Material, in direkter Bindung an die wahrgenommene Realität. Das Werk dieses Autors ist stark den Akt des Vortrags gekoppelt: So schüttet er seine Leser oder Hörer wortwörtlich mit poetischen Bildern zu, bemüht sich mit programmatischer Engagiertheit um die Mobilisierung der menschlichen Vorstellungskraft. Die heutige Informationsgesellschaft versäumt es immer wieder, unter die Oberfläche der Dinge zu schauen und die Phantasie einzuschalten. Borzičs künstlerisches Verfahren hat also – so traditionell es auch erscheinen mag – in vieler Hinsicht provozierenden Charakter.

Die beiden tschechischen Autoren lassen sich in sichtbarem Kontrast zu ihren deutschen KollegInnen sehen, so dass die Unterschiedlichkeit der prägenden Einflüsse deutlich demonstriert werden kann. Vereinfacht gesagt, verhalten sich der deutsche Autor und die deutsche Autorin zu dem tschechischen Duo in etwa so wie der Dadaismus zum Poetismus. Während bei Popp und Cotten die Nahtstellen deutlich hervortreten, das Wort als reines Objekt, die gesamte fast trocken konzipierte “Gemachtheit” des Textes und das Zerschlagen der Metapher im Sprachspiel sichtbar wird, so sind Řehák ebenso wie Borzič Künstler, die weder das innere Reich des Wortes noch seine Metaphorizität verlassen, die den Mythos der Poesie bewahren und selbst Pathos produktiv zum Einsatz bringen. „Bože, dej křídla básníkům“ („Herr, gibt den Dichtern Flügel”) schrieb einst [der Poetist, A.d.Ü.] Konstantin Biebl im „Nový Ikaros“ (Der neue Ikaros) – ich habe das Gefühl, dass dieser Vers durchaus in Jakubs und Adams Sinne sein könnte.

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