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Literatur
200 Jahre deutscher Phantastik und Horror

200 Jahre deutscher Phantastik und Horror
200 Jahre deutscher Phantastik und Horror | Foto (Ausschnitt): © Unsplash

Die märchenhaft phantastische Erzählung Nussknacker und Mäusekönig, der wildromantische Roman Elixiere des Teufels, die grauenvolle Erzählung Der Sandmann, die auf wundersame Weise wiederbelebte Puppe Olimpia bzw. Coppélia (wie sie in der bekannten Ballettverarbeitung heißt), Jacques Offenbachs berühmte Oper Hoffmanns Erzählungen und andere weltbekannte Geschichten aus der Schatzkammer der deutschen Literatur stehen im Mittelpunkt der vom Goethe-Institut veranstalteten Ausstellung, die sich der mehr als 200-jährigen lebendigen Tradition des deutschen Horrors und der europäischen Phantastik widmet.
 

Von Martin Jiroušek

Obwohl der Horror und die deutsche Phantastik heute zu den eher unterschätzten Bereichen der Weltliteratur gehören, gab es schon in den Anfängen beider Genres herausragende Autoren, deren Werke immer noch aktuell sind. Diese Autoren gingen über einen eng begrenzten nationalen Charakter hinaus und stachen sogar im Vergleich zur vielfältigen internationalen Szene hervor. Und zwar so stark, dass sie als Inspiration für diese Szene dienten und sie auf Dauer prägten. Eine dieser zeitlosen Gestalten war zweifellos Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776–1822), das Wunderkind der deutschen Spätromantik, ein Mann mit vielen Gesichtern, ein Mensch, der die Gattungsbeschränkungen überwand und dessen Name zu einem festen Bestandteil des Weltkulturerbes wurde. Der unglaubliche und doch so charmante Hoffmann. Nachtsüber ein ungezügelter Erzähler fesselnder Geschichten. Das Alter Ego all derer, die Gefallen am Ungewöhnlichen finden, ein Genie mit überbordender Phantasie, das tagsüber fest auf dem Boden stand und als Kammergerichtsrat tätig war. Vom Wesen her war er jedoch Karikaturist, Satiriker, Maler und Musiker. Ein Mann mit vielen Talenten und Erzfeind der Konformität.

2022 jährt sich der Todestag von E. T. A. Hoffmann zum 200. Mal. Sein Werk wird jedoch nicht alt, sondern bietet immer wieder neue, nicht nur literarische, Anregungen, es greift in andere Bereiche über und weist eine fast multimediale Dimension auf. Mit seiner Zügellosigkeit und seinen wilden Geschichten, die an Wahnsinn grenzen und gleichzeitig von gefühlvoller Freundlichkeit strotzen, war und ist Hoffmann bis heute Inspiration für moderne Autoren. Mit seinem Vermächtnis beeinflusst er immer noch zahlreiche Film-, Musik- oder Theateraufführungen und -adaptionen. Dank E. T. A. Hoffmann und seinem reichen und vielfältig kreativen Vermächtnis hat die deutsche Kultur zweifellos einen festen Platz im Bereich der literarischen Poetik des Grauens und der Sehnsucht nach Selbstüberwindung. Es war Hoffmann, der mit seinem Werk in vielerlei Hinsicht bewies, wie notwendig es für jeden von uns ist, sich von der bedrückenden Wirklichkeit lösen zu können; er zeigte, wie weit die Möglichkeiten unserer Vorstellungskraft reichen. Und es war Hoffmann, der selbst vor den dunkelsten Windungen des grauenvollen Labyrinths unserer Phantasie nicht zurückschrak.

Die in den Räumlichkeiten des Prager Goethe-Instituts veranstaltete Ausstellung basiert auf einem klassischen Medium, dem gedruckten Buch. Sie präsentiert Dutzende von selten gezeigten Exponaten, die einen klaren Überblick über den Einfluss und die Popularität des Autors geben. Mit Hilfe einer umfangreichen Präsentation tschechischer Ausgaben von Hoffmanns Werken werden die Besucher in das Erbe des Klassikers eingeführt. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur die Werke an sich, sondern auch deren Vielfalt und künstlerische Überschneidungen. Hoffmann selbst erschien zu seinen Lebzeiten als ungezügeltes Genie, das die Grenzen der Alltagswirklichkeit überschritt und in die wildesten Träume flüchtete.

Ein Buch ist nicht das Werk eines einzigen Autors, sondern erfordert die Zusammenarbeit mit anderen Personen, mit Künstler*innen, Maler*innen, Grafiker*innen, Typograph*innen, Drucker*innen, Redakteur*innen, Verleger*innen und Übersetzer*innen Auch diese Aspekte werden berücksichtigt, vor allem im Zusammenhang mit Hoffmanns Publikationen und ihren bedeutendsten Vertretern. Eine große Inspiration für diese Ausstellung war die künstlerische Qualität der tschechischen Bücher und der allgemeinen Buchkultur der Vorkriegszeit; diese Qualität fand großen Widerhall, der sogar durch den stählernen Vorhang der Nachkriegszeit drang. Die Ausstellung zeigt zum Beispiel avantgardistisch gestaltete Buchumschläge, die Typografie des berühmten Malers František Muzika, Bucheinbände mit Jugendstilprägung und seltene bibliophile Ausgaben. Darüber hinaus sind hier einige Filmplakate zu den interessantesten Adaptionen von Hoffmanns Werken ausgestellt.

Wie andere Persönlichkeiten seiner Art, zum Beispiel der weltberühmte Autor von Klassikern der Horrorliteratur, des Kriminalromans und der Groteske, der Philosoph und Theoretiker Edgar Allan Poe, der ukrainische Satiriker, Dramatiker und Folklorist Nikolai Wassiljewitsch Gogol oder der französische Dichter und Kritiker Charles Baudelaire, arbeitet Hoffmann in seinem Werk mit Bezügen zu starken visuellen Reizen. Von grenzenloser Inspiration ausgehend, bekam er seine Impulse zu einigen Werken, vor allem zu seinen Kurzgeschichten, sogar aus bestimmten Bildern. Er wies damit auf die Möglichkeit der Symbiose verschiedener künstlerischer Formen hin, die sich gegenseitig bereichern können.
Hoffmanns Einfluss findet sich in Werken vieler Persönlichkeiten der tschechischen Kultur, zum Beispiel in den Werken von Karel Čapek oder Antonín Dvořák: Sei es das Vorbild für Rusalka in Hoffmanns Undine oder die Erfindung des wundersamen Automaten in Hoffmanns Schauergeschichten. Mechanik, Automaten, Roboter und andere Motive machen Hoffmann zu einem wichtigen Inspirator der Phantastik in der Weltliteratur; dazu kann man jedoch auch Detektiv- und Krimimotive hinzufügen, die Hoffmann zum Beispiel eine Generation vor Poe verarbeitete.

Das Wundersame und das Erschreckende in einer Einheit bilden eine für Hoffmanns Werk typische Ebene. Sie kann auch als Beispiel der Fähigkeit dienen, die Grenzen von Nationen und Territorien, aber auch die der menschlichen Natur zu überwinden. Das bewies Hoffmann auch mit seinem Leben: Er wurde am 24. Januar 1776 in Königsberg (heute auf Russisch Kaliningrad, auf Tschechisch Královec) geboren, einer multinationalen Stadt nahe der polnischen Grenze; in Polen verbrachte er einen Teil seines Lebens und fand dort auch seine Frau. Hoffmanns Talent bereicherte nicht nur die traditionelle Literaturszene. Er war nicht „nur“ ein Schriftsteller oder ein „geborener“ Belletrist, sondern er barg in sich ein ungeahntes Potenzial, ähnlich wie ein Maler mit dem Pinsel oder ein Musiker mit Tönen die faszinierendste Szenerie eines bestimmten Augenblicks und einer bestimmten Stimmung mit Worten zu erschaffen. Sein Werk beeinflusste sogar die moderne musikalische Terminologie und die psychiatrische Analyse. Er selbst wuchs schließlich dermaßen über sich selbst hinaus, dass er in vielen Werken seiner Nachfolger auftauchte. Am bekanntesten ist hierbei die berühmte Oper Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach, interessant sind aber auch die Phantasiewerke des tschechischen Jugendstilautors Karel Švanda aus Semčice, oder des zu seiner Zeit berühmten romantischen Heißsporns und Theaterschauspielers Josef Jiří Kolár.

Hoffmann ist ein ikonischer Name. Obwohl er ein Mensch aus Fleisch und Blut war, wurde er selbst zu einer phantastischen Figur. Schon zu seinen Lebzeiten galt er als Prototyp der reiselustigen Enthusiasten, von denen er so gerne sprach. Denn wer sonst hätte der verrückte Kapellmeister Kreisler (der Held von Hoffmanns Kurzgeschichtensammlung Kreisleriana) sein können als Hoffmann selbst, mit seinem besonderen Schicksal. Tagsüber ein angesehener Kammergerichtsrat, nachtsüber ein mitreißender Erzähler von unwahrscheinlichen und doch so spannenden Abenteuergeschichten. Der Autor berühmter Märchen mit einem satirischen Unterton gegenüber der beschränkten kleinbürgerlichen Welt.

Über all das, was düster, beängstigend oder wundersam ist, triumphiert am Ende die Liebe. Eine schöpferische Liebe, die alle Leiden des irdischen Lebens überwindet. Eine Kunst, die die Menschen von ihren Qualen erlösen kann.

Unsere Ausstellung kann als Tor zur mehr als 200 Jahre andauernden Faszination für Hoffmanns künstlerische Freiheit und Inspiration verstanden werden.

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