Podiumsdiskussion Your Life is Waiting*

Di, 05.06.2018

18:00 Uhr

Goethe-Institut

Institut für Angst: Über den psychiatrischen Ethos

Über das Wesen des Wahnsinns wird schon seit der Antike diskutiert. Dabei ist die Geisteskrankheit eine Erfindung der modernen Zeit verbunden mit der Institutionalisierung der Psychiatrie. Michael Foucault zufolge war es ein Bedürfnis der Bourgeoisie, ungehorsame Einzelpersonen aus der Öffentlichkeit zu entfernen, das zur Errichtung besonderer Institutionen für geistig kranke geführt hat. Im Rahmen dieser „Zellen für Unerwünschte“ entwickelte sich die Psychatrie zu einer wissenschaftlichen Disziplin.
Heute ist der Bereich der Psychiatrie reicher als je zuvor, denn die Menge der Probleme, die bereits als Krankheit eingestuft werden, steigt rapide. Der weltweit anerkannte Diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen (DSM), herausgegeben von der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (APA), ist von seinen ursprünglichen 134 Seiten (1968) mittlerweile auf 947 Seiten (2013) angewachsen. Dank des Klassifikationssystems, mit dessen Hilfe Symptome als Anzeichen für psychische Störungen gelten, wurde eine ganze Reihe von Verhaltensarten pathologisiert.
Die westliche Gesellschaft wird angeblich geistig immer kränker, geplagt durch Störungen wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), einem Syndrom, das als Epidemie unseres Jahrhunderts betitelt  wurde. Es ist aber hinlänglich bekannt, dass psychiatrische Diagnosen nur ein Abbild und eine Verstärkung der vorherrschenden Ideologie sind. Beispielsweise wurde erst 1975 Homosexualität aus dem DSM entfernt, wodurch sich der Status geändert hat und Homosexualität nicht mehr als psychische Störung galt. Durch die Individualisierung sozialer Probleme kam es zu einer verstärkten Anwendung von Medikamenten und damit zur Stärkung der pharmazeutischen Herangehensweise, dessen Ziel es viel mehr war, den Einzelnen „in Ordnung zu bringen“, als sich mit den problematischen, gesamtgesellschaftlichen Strukturen zu befassen. In der Diskussion werden wir soziopolitische Faktoren betrachten, die im und außerhalb des tschechischen Kontextes den psychiatrischen Ethos mitgestalten. Wie werden psychische Störungen als wissenschaftliche Fakten konstruiert? Welche Rolle spielen bei diesem Prozess staatliche Institutionen? Wie beeinflusst der psychiatrische Ethos gesellschaftliche Strukturen und das Narrativ des Egoismus, der in ihnen produziert wird? Ist die Psychiatrie ein Symptom des Kapitalismus und des Patriarchats? Was für Alternativen gibt es? Und ist Wahnsinn - in Form von Rebellierenden und des Unbekannten – eine Stimme, die wir tatsächlich eliminieren wollen?
 
Christopher Lane (Ph.D., University of London) unterrichtet Literatur und Geistesgeschichte an der Northwestern University bei Chicago und befasst sich ebenfalls mit Psychologie und Psychiatrie im 19. Und 20. Jahrhundert. Er war Mitglied der Guggenheim Stiftung und erhielt den Preis der Zeitschrift Prescrire (Frankreich). Es sind bereits sechs Bücher unter seinen Namen veröffentlicht worden, darunter: Shyness: How Normal Behavior Became a Sickness/ Schüchternheit: wie aus normalem Verhalten eine Krankheit wurde (Yale, 2007). Er schreibt einen Blog für die Psychology Today mit dem titel: Side Effects/Nebenwirkungen.

Lisa Forestell hört Stimmen, sie ist Aktivistin im Bereich der geistigen Gesundheit und zertifizierte Peerspezialistin in Massachusetts. Sie ist Koordinatorin der gesamtstaatlichen Entwicklung des WMass Recovery Learning Community (RLC) und außerdem lehrt sie im Hearing Voices Network (HVN) Stimmen zu hören. Sie sich Mitglied im Verwaltungsrat eines der HVN Institute in den USA und bei Intervoice. Lisa propagiert im Rahmen ihrer internationalen Tätigkeit einen menschlicheren Umgang und Zugang zum Leiden durch die Anwendung der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit.
Jakub Černý ist Psychologe, Sozialarbeiter und Therapeut. Er hat durch seine Arbeit bereits in den Bereichen der Drogen, Abhängigkeiten und geistigen Gesundheit Einblick erhalten.  Als Supervisor, Lektor, aber auch als Aktivist unterstützt er Projekte die mit sozialen Veränderungen und der Emanzipation der eigenen Erfahrungen von Menschen verknüpft sind, zum Beispiel im Projekt Street Support. Jakub ist einer der Gründer des Narrativ-Vereins, mit dem er sich gemeinsam der kollaborativen Entwicklung, der diagnostischen Praxis in der Tschechischen Republik, strukturellen und politischen Aspekten der geistigen Gesundheit und dem System der Unterstützung widmet.
 
* „Ihr Leben wartet“ ist der Werbeslogan für Paxil/Seroxat, eine psychiatrische Droge gegen Angstzustände und Beklemmung. Die Podiumsdiskussion organisiert das Institut für Angst in Zusammenarbeit mit Alma Lily Rayner.
 
----
Das Institut für Angst stellt einen Raum zur Erforschung von Angst dar, die sich durch unsere Gesellschaft zieht und sich durch Schlaflosigkeit, Stress, Entfremdung, Empathieverlust und Unausgeglichenheit und Gewalt bemerkbar macht. Sie wird erfolglos durch Produkte der Pharmaindustrie bekämpft und wird durch die steigende soziale und ökonomische Unsicherheit noch bestärkt. Das Institut möchte eine Plattform bilden, wo über Angst offen gesprochen werden kann und die Raum für mögliche Lösungen bietet und sich in eine Stärke wandelt, die die Fähigkeit haben kann, sich zu radikalisieren und um strukturelle Änderungen in der bestehenden Ordnung zu erzwingen.
 
Das Institut für Angst wurde von Zuzana Blochová, Edith Jeřábková, Barbora Kleinhamplová und Eva Koťátková gegründet. Für das Jahr 2018 wird ihm vom Goethe-Institut Prag eine institutionelle Grundlage zur Verfügung gestellt.
 

Zurück