50 Jahre 1968
Nicht eingelöste Forderungen – Interview mit Dacia Maraini

Dacia Maraini
Dacia Maraini | © Giuseppe Nicoloro

Die Schriftstellerin Dacia Maraini, Protagonistin der Kämpfe für Frauenrechte in Italien, spricht über die Errungenschaften seit ’68 und über Frauenkämpfe, die – etwa im Iran – noch zu gewinnen sind. Am 17.05.2018 diskutiert sie auf dem Grünen Sofa des Goethe-Instituts Rom mit der deutschen Autorin und Journalistin Alice Schwarzer.

Was ist Ihre schönste Erinnerung an 1968? Ist diese an ein spezifisches Ereignis oder an eine bestimmte Person gebunden?
 
Ich habe nicht eine, sondern zahlreiche Erinnerungen an jene Zeit. Zu den schönsten zählt sicherlich das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen uns Frauen, wenn wir uns trafen, um gemeinsam Kundgebungen, Begegnungen zum Literatur- und Gedankenaustausch, Abendessen und Reisepläne vorzubereiten.
 
Die Protagonistinnen Ihres jüngsten Romans „Tre Donne“ – Drei Frauen – gehören drei verschiedenen Generationen an: Großmutter, Mutter und Tochter. Was verdanken alle drei der 68er-Bewegung?
 
Der Roman Tre Donne spielt in der heutigen Zeit, und nur die älteste der Frauen, Gesuina, hat die 68er-Bewegung miterlebt, allerdings war sie damals noch ein Kind. Keine von ihnen hat also einen direkten Bezug zu jenen Jahren.
 
Trotz ihres Kampfes für die Gleichberechtigung werden in Europa weiterhin Frauen von besitzergreifenden und eifersüchtigen Ehemännern und Lebensgefährten getötet. In einigen Schulen werden neuerdings Kurse in „Gefühlserziehung“ angeboten. Welche Ratschläge würden Sie den Müttern für die Erziehung ihrer Söhne geben?
 
Ich bin ebenfalls überzeugt, dass eine gründliche und flächendeckende Gefühlserziehung der erste Schritt in die richtige Richtung ist: Unsere Söhne müssen lernen, ihre Mitmenschen zu achten, Liebe von Besitzanspruch zu unterscheiden und den Anderen zuzuhören. Sie müssen begreifen, dass eine Liebe ohne Respekt gleichbedeutend ist mit dem Beuteverhalten der Raubtiere. Selbstverständlich müssten diese Werte auch den Frauen nähergebracht werden, die als Mütter oft unkritisch die kulturellen Klischees der eigenen Väter übernehmen.
 
Hätten Sie erwartet, dass 50 Jahre nach 1968, ausgerechnet in den Vereinigten Staaten und in Hollywood, die Frauen noch sexuellen Nötigungen und Missbräuchen ausgesetzt sind?
 
Sexuelle Nötigungen und Missbräuche gab es schon immer. Tragischerweise sind sie heute jedoch die schmerzliche Folge der Emanzipation der Frauen selbst: Mit ihren Forderungen nach Rede- und Gedankenfreiheit und nach mehr eigenen Freiräumen bringen sie das Selbstwertgefühl vieler Männer ins Wanken, und vor allem die schwächsten und unsichersten unter ihnen verwandeln sich so häufig zu Folterknechten.
 
Das letzte Cover der von Alice Schwarzer herausgegebenen Zeitschrift „Emma” ist den iranischen Frauen und ihrem Kampf gegen das Kopftuch gewidmet. Die Kampagne „My stealthy freedeom“ fand weltweit großen Anklang, und zahlreiche Frauen haben Selbstporträts ohne Hidschāb in den Social Media gepostet. Haben heute virtuelle Kundgebungen die realen Demonstrationen der 68er Jahre ersetzt? Und haben sie dieselbe Wirkung?
 
Diese Entwicklung ist zum Einen auf die Verbreitung der neuen Technologien zurückzuführen und zum Anderen – insbesonders in totalitären Regimen – auf die Tatsache, dass öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen schlichtweg verboten sind. Die Frauen dort müssen sehr viel Mut besitzen, um ein derartiges Risiko einzugehen. Zum Glück können sie heute auf die versteckten Handys zurückgreifen, um ihre Bilder weltweit zu verbreiten. Trotzdem sind, wie wir wissen, viele von ihnen im Gefängnis gelandet. Deshalb: Alle Achtung vor den iranischen Frauen und ihrem Widerstand gegen den Kopftuchzwang!