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Arian Leka
Paranoia

Von Arian Leka


Welches ist das richtige Wort? Schlecht? Der Tag fängt schlecht an. Zuerst meine Frau, die einerseits das stille Lächeln von Romy Schneider in Das alte Gewehr imitiert und andererseits ständig redet. Wenn sie nicht die richtige Erklärung findet, greift sie zu Tränen.

„Ich war nie frei. Weder in der Diktatur noch jetzt“, sagt meine Frau. Sie geht aus dem Zimmer und schließt sich im Bad ein. „Als ich klein war, hat mich mein Vater überwacht. Als ich in die Pubertät kam, wurde ich von meinem Bruder belauscht. Dann kamst du. Du gabst mir scheinbar die Freiheit, hast mich aber aus der Entfernung kontrolliert. Heute überwacht mich weder mein Vater noch mein Bruder noch du. Heute klebt unsere Tochter an mir. Meine Tochter“, sagt sie und kommt wieder raus.

Der Autor Arian Leka © Roland Tasho Jetzt bin ich dran. Vor einiger Zeit bereicherte meine Frau das Bad um einen neuen Gegenstand.

„Das ist kein Spielzeug“, sagte sie, nahm ihn aus der Verpackung und fügte hinzu, als sie ihn vorsichtig auf die alten Fliesen gestellt hatte: „Das ist eine Richard Salter.“

Es war eine Waage. Links zeigt sie die Zahl 120. Rechts 10. In der Mitte 0. Ich hätte mir statt der Waage ein Barometer gewünscht, aber meine Frau sagte:

„Um die Hauptrolle zu bekommen, muss ich sieben Kilo abnehmen. Verstanden?“

Ich steige auf die Waage. Der Pfeil pendelt sich zwischen 70 und 90 ein. Habe ich abgenommen? Kein bisschen. Ich habe 300 Gramm zugenommen. Meine Frau macht das wahnsinnig. Wie kann ich 300 Gramm zunehmen, wenn ich keinen Alkohol mehr trinke und keine schweren Speisen esse?

Ich steige herunter. Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl habe, dass ich nicht lange leben werde. Wie sterben Menschen wie ich? Still?

„Komm raus! Deine Tochter kommt zu spät zur Schule.“

Wenn ich einen Augenblick hasse, dann diesen.

„Du bist nicht mehr wie früher“, sagt meine Frau, sobald ich aus dem Bad ins Zimmer trete. „Du bist eine Werkstatt, die nichts als schlechte Laune produziert! Was ist aus deinen Versprechungen geworden, dass du und ich eines Tages … Dass ich und du… Wo sind die Zeiten geblieben, als du himmelhoch geflogen bist? Aha! Du bist einfach nicht mehr der von damals!“

Nicht nur meine Frau, auch ich fühle mich nicht mehr frei. Ich lege mich auf den Rand des Bettes. Ich betrachte meinen Körper. An der Stelle, wo mir Flügel hätten wachsen sollen, wie ich es meiner Frau versprach, sind schwarze Körperhaare gewachsen wie ein Fell. Ich kann nicht fliegen. Ich bin ein Mensch, der Brot nach Hause bringt, aber keine Freude.

Das alles hätte schon gereicht, um diesen Tag nachhaltig zu vergiften. Aber das war es noch nicht. Das Böse darf sich allmächtig fühlen, nachdem ich einen Blick auf den Computer geworfen habe. Auf dem Bildschirm wird eine neue Mail im Posteingang angezeigt. Ich stehe auf. Ich warte, bis die neue Mail runtergeladen ist, die sich zwischen die Preisnachlässe, günstigen Kredite und die „10 Schritte zum Abnehmen ohne Diätberater“ verirrt hat. Ich lese nur die Betreffzeile. Lange ist keine Einladung mehr gekommen.

„Alle haben dich vergessen. Nicht nur, dass du keine Einladungen mehr bekommst. Selbst auf der Wasser- und der Stromrechnung steht dein Name nicht“, hat meine Mutter mal gesagt.

Während ich warte, dass der Text auf dem Bildschirm erscheint und ich das einzige ersehnte Wort VERLEGER lese, höre ich die Worte meines Vaters, die mir in den Ohren nachhallen, als er den Flur runtergeht:

Be genius or …

Den Rest kenne ich.

… find a job …

Wie würde das klingen, wenn mein Vater das auf Albanisch sagen würde? „Such dir Arbeit, oder…?“

Fuck! Mein Vater spricht nie unflätig. Ich wundere mich, wie er das aushält, ohne zu fluchen, zu schimpfen, zu brüllen?! Für meinen Vater ist die Geschichte abgeschlossen. Es gibt keinen Platz mehr für Genies und noch weniger für Menschen wie mich, die ihren Lebensunterhalt mit Übersetzen bestreiten. Wie? Lustlos. Genau wie er.

Mein Vater hat im Verlag 8. November gearbeitet. Er war Schlussredakteur. Das dritte Auge. Das bedeutete, wenn ein Werk aus dem Deutschen übersetzt wurde, stellte es das zweite Auge dem Französischen gegenüber und mein Vater sah die Versionen anhand einer Fassung in einer dritten Sprache durch. Er kontrollierte die Übersetzungen von politischen Häftlingen, die für die Volksmacht übersetzten, aber daran wollte er nicht erinnert werden. Ihr Name erschien nie in den Büchern, ebenso wenig wie der Name meines Vaters. Die Häftlinge sahen ihre Kinder jahrelang nicht, aber auch ich sah meinen Vater selten. Er ging, wenn ich noch schlief, er kam, wenn ich schon schlief. Auf der nationalen Berufsliste war sein Handwerk unter der Nummer 2634/010-07 verzeichnet. Wenn er wenigstens mal eine Medaille oder eine Ehrung bekommen hätte! Spät erst, nachdem er ein Zeitungsinterview gegeben hatte, erfuhr die Menschheit, dass mein Vater es gewesen war, der den Satz aus Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in dem es um Personen geht, die sich in der Geschichte zweimal ereignen – einmal als Tragödie und einmal als Farce – in lupenreines Albanisch übertragen hatte. Hat er also die Ideale von Liberté - Egalité - Fraternité umgesetzt? Zum Teil. Mein Vater bezieht die gleiche Monatsrente wie seine Freunde: 120 US-Dollar; meine Mutter und er sind im Bett zu Geschwistern geworden; er ist frei zu plaudern und sich auszusuchen, wo er nachmittags seinen Kaffee trinken möchte, in der Bar Bruxelles oder im Café London. Für ihn ist die Geschichte abgeschlossen. Vom Dorn einen Dorn. Von der Rose eine Rose. Die Fortsetzung kann ich mir wohl denken: „Vom Übersetzer eine Übersetzung.“

Niemand in meiner Familie weiß, dass das, was ich machen möchte, nichts mit Übersetzen zu tun hat. Niemand weiß, dass das, was ich möchte, nicht ist, andere zu übersetzen, sondern ein eigenes Buch zu schreiben. Wie aber? Wie soll das gehen, wenn ich nicht einmal zwanzig Minuten Ruhe für mich selbst finde? Meine Frau weiß nicht, dass ich den Verlegern jeden Monat ein Exposé schicke. Deswegen spitzt sie die Ohren und lauscht auf jede neue E-Mail in der Inbox. Sie will es wissen. Ob das nicht eine Übersetzerin mit kleinem Hintern aus der Redaktion ist, die so geil lächelt wie Penelope Cruz oder sich räkelt wie Scarlett Johansson. Nichts passiert. Die Inbox wartet auf den Verleger. Genauer gesagt auf seine Antwort.

Während das Internet lädt, lege ich mich wieder hin. Meine Frau kommt. Sie legt sich neben mich. Als ob es nicht schon gereicht hätte – Du bist fett geworden! Du bist eine Werkstatt, die nichts als schlechte Laune produziert! –, sagt sie jetzt zu mir: „Wieso versuchst du nicht …!“
Illustration Arian Leka
Ich weiß. Ich versuche nicht, etwas zu ändern. Ich stehe vom Bett auf und setze mir die Kopfhörer auf. Ich muss das Tagessoll an übersetzten Filmdialogen erfüllen. Play. Das Erste, was ich höre, ist das, was der junge Bolschewik zu Doktor Schiwago sagt: „That´s right! Juri! Adapt yourself!“

„Hör mit den Filmen auf!“ sagt mein Vater scharf und geht ins Bad. Es gibt keine Wahl. Es gibt keine Freiheit. In dieser Welt gibt es nur Platz für die Gewöhnlichen. Die Verdrossenen. Für dich und mich.

Im Flur erscheint meine Tochter. Sie gibt mir ein Zeichen. Dann fragt sie mich, wie der Dollarkurs steht, wie viel 8 x 7 ist und ob sie am Abend die Serie Sex and the City gucken darf. Auch sie ist verdrossen. Wie wir. Sie hat die Augen auf ihrem Handy. Auf den Ohren immer Kopfhörer. Ich wundere mich. Zu meiner Zeit waren die Verdrossenen anders. Das Einzige, was unsere Tochter von uns will, ist Strom und 24 Stunden WLAN.

Mein Vater macht die Badezimmertür zu. Die Fernbedienung hat er mitgenommen. Vielleicht hat er keine Macht mehr, um die Welt zu ändern, aber die Macht, vom Klo aus den Fernsehsender zu wechseln, die hat er schon. Presseschau im Fernsehen.

„Beginnen wir mit den Schlagzeilen auf den Titelseiten. Zunächst zur Politik. Und dann.“

„Papaaa! Leiser!“

Mein Vater macht den Fernseher vom Klo aus leiser. Ich will schimpfen, brüllen und ihm die Pest an den Hals wünschen, aber ich kann nicht. Die Rechte und Freiheiten der Kinder. Vor meiner Tochter werde ich nicht laut. Aber nach so vielen Jahren habe ich etwas gelernt, sage ich mir. Unabhängig davon, wo wir sitzen – ob am Computer, auf dem Bettrand, auf dem Hocker oder auf der Klobrille: Wir finden uns alle vor dem Fernseher zusammen, um dasselbe zu hören: Wir vergiften uns an den Nachrichten und sterben, wie in einem Raum voller Gift.

Mein Vater kommt aus dem Bad und sagt zu mir:

„Du bist kein Genie? Dann such dir eine Arbeit, damit du es wirst, wir werden sonst alle wahnsinnig!“

Ich gehe zurück an den Computer. Die E-Mail ist offen. Es ist kein Verleger. Der Absender ist ein Angestellter einer der Botschaften in Tirana.

Ich bin noch schwerer geworden. Wenn ich mich jetzt wiegen würde, wäre mein Gewicht sicher 500 Gramm mehr. Meine Frau müsste endlich begreifen, was es mit diesen Gramm auf sich hat, die ich zunehme, auch wenn ich nichts esse. Ich bin eine Werkstatt, die nur eine Ware produziert. Schlechte Laune. 300 Gramm netto am Tag.

Ich lese die E-Mail. Fuck! Der Absender bestellt bei mir etwas, was er noch nie von mir gewollt hat. Dienstleistungen hat er auch früher schon in Auftrag gegeben bei mir, aber noch keinen Mord. Und das per E-Mail? Hält er mich für einen Auftragskiller? Bin ich etwa ein Krimineller, der sich versteckt hinter den schönen Worten, die er übersetzt?

Je öfter ich die Mail lese, desto stärker wächst in mir die Fremdenfeindlichkeit. Ich versuche, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Mail und meiner Fremdenfeindlichkeit. Haha. Meine Fremdenfeindlichkeit ist nicht Angst, sondern Misstrauen. Ich hasse nicht. Der Hass, ebenso wie die Liebe, ist heilig, ich kann ihn nicht für jedermann verschwenden. Aber tagtäglich wird meine Überzeugung größer, an Händen und Füßen gefesselt zu sein und nicht mehr in meinem Land zu leben. Und jetzt kommt dieser Ausländer daher und bestellt bei mir einen Mord?! So leichtsinnig solltest du nicht sein, sage ich zu ihm, rede aber nur mit mir selbst. Weißt du denn nicht, dass wir belauscht werden? Da sehe ich sie schon, die Gauner, die die Passwörter knacken, um uns zu erpressen und Geld von uns zu verlangen. Ja, die ehemaligen Sigurimi-Leute, die heute als Experten bei den großen Bankern und Geschäftsleuten untergekommen sind, kapierst du das denn nicht? Die reiben sich jetzt zufrieden die Hände, dass sie uns in die Falle gelockt haben. Jawohl! Ich sehe sie vor mir. Sie sitzen vor unserer geöffneten Mail. Mit einem bösartigen Lächeln auf den Lippen. Haha. Sie haben bestimmt etwas Verdächtiges gewittert. Sind die so naiv, fragen sie sich, oder stellen sie uns eine Falle? Haha! Ob es sich um einen codierten Geheimbericht handelt, den die Botschaften als einfache Nachricht versenden? Irgendein TOP SECRET, von dem nur die Führungsebene von NATO und Interpol Kenntnis hat? Aber so blöd sind die ja auch wieder nicht, um es schon heute zu melden. Haha!

Der Geschmack in meinem Mund ist ungefähr so, wie ein rostiger Haken im Maul eines Fisches schmecken muss. Ich wurde geangelt, aber ich muss all meinen Mut zusammennehmen. Werde ich abgehört? Ich? Aber ich bin doch ein ganz normaler Mensch, der, um zu überleben, alles übersetzt, was ihm in die Hände fällt – alte Filme, Kinderbibeln, Packungsbeilagen von Medikamenten und Gebrauchsanweisungen für elektrische Haushaltsgeräte.

Obwohl seit dem Eingang der E-Mail erst einige Minuten vergangen sind, habe ich mir schon zurechtgelegt, was ich antworten werde, wenn der Staatsanwalt mich anklagt. Die Bekanntschaft mit dem ausländischen Diplomaten leugne ich nicht, aber ich erkläre mich für unschuldig, indem ich aussage, dass sich der Diplomat eben für die albanische Tradition der Blutrache interessiert hätte. Es habe sich um Mord im metaphorischen Sinne gehandelt, verstehen Sie, Herr Untersuchungsrichter…?

Der ausländische Diplomat muss verwirrt gewesen sein. Von allen ihm zur Verfügung stehenden Wörtern hat er sich für das falscheste entschieden. Er hat das Wesen der Bestellung gemeint. Das, was er von mir wollte, war weder murder noch assasination noch sleep noch dispatch. Er wollte einfach nur die execution meines Auftrags. Hätte ich nur auf meinen Vater gehört! Der käme mich nicht mal im Gefängnis besuchen. Und selbst wenn, würde er nur sagen:

„Ich habe dir immer gesagt: Find a job!“

Ich trete auf den Balkon. Von dort sehe ich das Café Zürich, wo sich Fremde und Bewohner der Siedlung treffen, um zu wetten, einheimischen Kognak und einheimisches Bier zu trinken. Ich gehe die Treppe runter. Ich murmele, weil alle flüstern. Die Paranoia nimmt zu. Alle glauben, abgehört zu werden. Die Menschen sprechen nicht mehr laut. Sie murmeln. Ein leises Knacken im Telefonhörer reicht, und jeder sieht sich in den Schlingen eines konspirativen Netzes.

Nachrichtendienste? Botschaften? Geheimagenturen? Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock treffe ich meinen Nachbarn. Obwohl wir gleich auf dem Platz vor dem Haus sein werden, verliert er keine Zeit und raunt mir zu, ich solle mich in Acht nehmen.

„Nimm dich vor allen in Acht, aber besonders vor den fliegenden Händlern. Auch wenn sie aussehen wie Sozialfälle, spionieren sie uns am meisten aus. Sie scannen, was wir in den Beutel stecken. Was meinst du, wozu Plastiktüten erfunden wurden“, monologisiert er. „Weil sie billiger sind?! Nein! Plastiktüten wurden erfunden, um uns zu kontrollieren: Die CIA investierte bei den Industriellen. Jetzt wissen sie, wer wir sind. Und zwar anhand unserer Einkäufe. Nicht wahr, Professor?!“

Ich komme am Café Zürich an. Ich trete ein, und noch bevor ich mich hinsetze, höre ich schon, was gesprochen wird …

„Früher hat uns nur die Sigurimi abgehört. Jetzt hören uns alle ab.“

Mir fällt meine Frau ein, die sich darüber beklagt hat, nie frei gewesen zu sein.

„Schau dir doch nur mal den an“, sagt jemand und guckt zum Kellner. „Glaubst du etwa, den kann man bestechen? Egal, was du ihm gibst, es wird nicht reichen. Der Kellner klatscht, verleumdet dich, hetzt gegen dich. Nimm dich in Acht! Vor allem vor den Alten.“

„Die Bettler sind die Schlimmsten. Sie arbeiten in drei Schichten. Die Bettler sind Spione nonstop.“

„Was glaubst du, worüber die Bettler reden, wenn sie sich abends im Nachbarschaftshaus treffen? Der hat! Der hat nicht! Der gibt! Der gibt nicht!“

Ich weiß nicht, warum es mir so vorkommt, als ob alle mit mir reden. Was soll ich machen? Ihnen sagen, dass ich unter Verdacht stehe? Dass man mich am Haken hat? Dass ich verhaftet werde?

Ich stehe auf und mache mich auf den Weg in die Redaktion. Während wir warten, dass die letzte Seite der Zeitung fertig wird, erzähle ich den Kollegen wie nebenbei von der Paranoia, die uns alle befallen hat.

„In jedem Händler und in jedem Bettler wittert man einen Spion“, sage ich ihnen.

Statt sich zu wundern, starren sie mich an.

„Weißt du wirklich nicht Bescheid, oder stellst du dich dumm?“

„Wir wissen, was los ist. Oder willst du jetzt mit erhobenem Zeigefinger von den Rechten reden? Von rassistischen Schmähungen und Homophobie? Du kennst doch die kleinen Roma und die Ägypter. Eben die, die uns aus dem Schlaf reißen und um Altmetall und Altpapier bitten? Glaubst du wirklich, denen geht es dreckig? Die Roma und Ägypter sind gar keine Ägypter und Roma. Das sind Geheimagenten. Hast du jetzt verstanden? Und behaupte nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, sagt der Setzer zu mir.

„Und lass dich nicht täuschen, wenn sie kopfüber in Mülltonen stecken!“, sagt die Übersetzerin, die lächelt wie Scarlett Johansson. „Sie tun dir leid, wenn du sie mit leeren Kinderwagen herumlaufen siehst?! Das ist nur Maskerade. Sie sammeln keine Flaschen und Dosen, sie sollen beobachten, was wir in den Müll werfen. Dafür werden sie bezahlt. Jawohl, singend und lachend wühlen sie in unseren Tüten, lesen die Rechnungen, Verträge, Zahlungen, sie setzen zerrissene Briefe zusammen, sammeln die Preisschilder. Kurzum, sie inventarisieren unseren Haushalt und informieren …“

„Wen? Wen informieren sie?“, frage ich ungehalten.

„Kriminelle, wen sonst? So ist das!“

„Die Kriminellen informieren dann die Strafjustiz und die Auftragskiller: Wenn sie von der Polizei gefasst werden, erzählen sie alles. Ihre Berichte bekommt der Staat, und dank der Roma und Ägypter weiß der alles über uns.“

„Aber der Staat ist doch Teil der euroatlantischen Organisationen und verfasst ganz andere Berichte.“

„CIA, NATO, UNO, OSZE, KFOR, UNHCR. Die alle. Verstehst du jetzt, wo unser Müll landet?!“

„Bei den internationalen Institutionen. Die wissen alles über uns. Auch, welche Kondome du benutzt, teure oder billige, mit Erdbeer- oder mit Rosenduft“, sagt die, die lächelt wie Penelope Cruz.

Ich bin sprachlos.

„Reiß dich zusammen“, sagt der Setzer. „Ich erzähle dir auch noch das letzte Geheimnis, damit du dich vorsehen kannst. Wenn du in Ruhe leben willst, erledige deine Einkäufe weit weg von deiner Wohnung. Da, wo dich niemand kennt. Vermische deinen Müll mit dem Müll der Nachbarn. Wirf ihn am besten da weg, wo er weder von den Ägyptern noch von den Kellnern, Bettlern, Polizisten und Internationalen gefunden wird. Und noch ein letztes Wort: Verzichte auf Plastiktüten. Kauf dir einen Stoffbeutel, damit nicht zu sehen ist, was drin ist und was du nach Hause trägst. Wir sind umzingelt, Bruder! Wir werden von allen Seiten überwacht. Aber wenn ich das den anderen sage, halten sie mich für verrückt.“

Ich muss zurück. Nach Hause. Die E-Mail, die heute früh gekommen ist, wartet auf mich. Ich will sie entfernen. Ich habe genau vier Möglichkeiten: Delete, Spam, Archive oder Trash. Doch genau in dem Augenblick, als ich glaube, mich entschieden zu haben, erschrecke ich wie nie zuvor. Was, wenn im elektronischen Papierkorb, dort, im Trash-Ordner, eine Roma- oder Ägypter-Sippe haust?

Ich komme zu Hause an. Ich betrete das Zimmer. Alle schlafen. Ich muss die Arbeit da fortsetzen, wo ich sie unterbrochen habe. Ich setze mir die Kopfhörer auf. Minute 01:30:56. Ich höre den jungen Bolschewik zu Schiwago sagen: „Juri! Adapt yourself!“ Pass dich an, Juri!

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