11. April 2018
„Deutsch-Israelische Literaturtage”

Begrüßung durch den Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann

Anrede

Ich freue mich, mit Ihnen gemeinsam die deutsch-israelischen Literaturtage eröffnen zu können. Seit 2005 laden die Heinrich-Böll-Stiftung und das Goethe-Institut israelische und deutsche Autorinnen und Autoren abwechselnd nach Berlin und Tel Aviv ein. Obwohl die Reihe inzwischen einen so langen zeitlichen Verlauf nachweisen kann, ist sie alles andere als eine behäbige Traditionsveranstaltung. Im Gegenteil, sie ist am Puls der Zeit, sie ist offensiv, engagiert und mutig. Für diese Lebendigkeit und Unabhängigkeit sorgen das gegenseitige Interesse, die herausragende Qualität der Literaten und die jeweiligen Themen. Dieses Mal: Fair enough? Was ist gerecht?

Soziale Gerechtigkeit ist das große Thema in den Gesellschaften. Arm und Reich klaffen immer weiter auseinander, Wirtschaftsflüchtlinge bestimmen neben den Kriegsflüchtlingen die großen Wanderbewegungen, Korruption und Krisen untergraben die Strukturen, Gleichberechtigung der Geschlechter ist in den wenigsten Gesellschaften realisiert, der Zugang zur Bildung ist noch immer erschwert, besonders für Frauen, usw. Wenn man die verschiedenen Aspekte so miteinander verbindet entsteht ein Horrorgemälde des Zustands der Welt. Hinzu kommen die Folgen der Globalisierung und der digitalen Welt, die zu einer Beschleunigung und zu einer tief greifenden Veränderung der Lebens- und Arbeitswelt führen.

Was hindert uns daran, uns gerechter zu organisieren, Solidarität zu üben, füreinander einzustehen?

Der Frage „Was ist gerecht“ widmen sich die deutsch-israelischen Literaturtage in Lesungen, Diskussionen und Filmen. Dass die Literatur sich dazu äußert ist nur richtig, denn Literatur verhandelt die Themen der Gesellschaft, reflektiert den Zustand, sorgt für Initiativen im Meinungsaustausch. Schließlich ist unser menschliches Zusammenleben eine kulturelle Leistung. Und mit Deutschland und Israel haben wir das Glück zwei Gesellschaften zu haben, die sich weitgehend politischer Unabhängigkeit erfreuen. Das bedeutet: es können Räume für kritisches Denken geöffnet werden.

Dieses kritische Denken ist mehr denn je gefordert. Beide Gesellschaften müssen sich aktuell mit Prozessen der Identitätenbildung befassen. Wie gehen Mehrheitsgesellschaften mit Minderheitsgesellschaften um, wie macht man das Eigene und das Andere unmittelbar erfahrbar und wie vermeidet man, dass die Gesellschaft in ihre Bestandteile zerfällt sondern erreicht, dass sie dialogfähig bleibt. Deutschland hat durch die erhebliche Zuwanderung Probleme mit einer allgemein akzeptierten Integrationspolitik. Rechtsextreme Entwicklungen erstarken, Abgrenzung, wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind die Folgen. Israel feiert wiederum in diesen Tagen sein 70-jähriges Bestehen. Palästinenser demonstrieren entlang des Grenzzauns. Es gibt Tote und Verletzte. Und Israel hat auch ein Flüchtlingsproblem mit afrikanischen Flüchtlingen auf seinem Staatsgebiet. 38 000 Flüchtlinge, zumeist aus Eritrea, sollen im April abgeschoben werden. Sie sollen nicht in ihre Heimatländer zurück, sondern in afrikanische Staaten, die dafür Geld bekommen. Während israelische Politiker von „Eindringlingen“ sprechen verurteilen immer mehr Israelis diese Politik und erinnern an die Geschichte ihres eigenen Volkes.

Intervention kann die Lösung nicht sein. Die Übernahme von Verantwortung im Dialog ist letztlich die einzige Chance. Sie bedarf aber einer entsprechenden Vorbereitung. Man muss mehr voneinander wissen, man muss sich um Lösungen bemühen und man muss sich mitteilen können.

Der Dialog mit den jeweils anderen Gesellschaften innerhalb des Staates trägt aber nicht nur erheblich zu der jeweiligen Selbstverständigung bei, er ist sogar die Voraussetzung dafür. Wie antworten Andere auf die gleichen Grundfragen des Lebens? Wie bewerten sie unsere Antworten? Welche Fragen versäumen wir, welche die Anderen? Welche kommen überhaupt nicht vor, weder bei uns noch bei den Anderen?

Bei aller Skepsis, die häufig den Anhängern von Dialog und Diskurs entgegengebracht wird – leerer Pathos, politische Instrumentalisierung – ich bin von der Notwendigkeit überzeugt. Wie sonst will man Zugänge schaffen, wie sonst will man Missverständnisse ausräumen. Er ermöglicht zumindest die Entwicklung von Alternativen statt der Fixierung von Konflikten, er ermöglicht Prozesse statt Stillstand, er macht ausreichend selbstkritisch durch die Kenntnis des Anderen.

Das werden in den nächsten Tagen neun israelische und deutsche Autorinnen und Autoren tun. Sie würden es nicht tun, wenn sie an die Chance eines Dialogs nicht glauben würden. Sie nehmen diesen Verantwortungsbereich durch ihre schriftstellerische Arbeit wahr. Sie widmen sich in ihren Texten und Diskussionen den Fragen der Sozialpolitik, der Gentrifizierung, der Randfiguren der Gesellschaft, der Geschlechter- und Generationengerechtigkeit, der Minderheitengesellschaften – aber auch dem Entwurf gesellschaftlicher Utopien.

Gerade in einer Zeit, in der immer mehr Lebensbereiche marktwirtschaftlichen Prinzipien untergeordnet werden, in der nur das Nützliche und das Gewinnbringende zählen, ist es wichtig die entscheidenden Fragen zu stellen und damit auch vorherrschende Ansichten in Frage zu stellen.

Zum einen den technokratischen Ansatz derer, die keine Alternative zum neoliberalen Projekt sehen wollen, zum anderen die radikalen populistischen Reaktionen darauf, den Hass auf Minderheiten, die Verrohung der öffentlichen Rede, den ausgeprägten Chauvinismus.

Der Philosoph Didier Eribon hat in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ überzeugend klar dargelegt, warum sich so viele Menschen durch rechtsradikale Parolen angesprochen, ja vertreten fühlen. In der Zeitschrift „Die Zeit" sagte er kürzlich: „Das Problem ist, dass Europa von einer Klasse regiert wird, die der britische Autor Tariq Ali einmal die „extreme Mitte“ genannt hat. Diese Leute glauben, dass das, was den gutausgebildeten Menschen in den großen Städten nützt, automatisch gut für alle ist. Das ist offensichtlich falsch! Es gibt (in Europa) viele Menschen, die marginalisiert sind, die verzweifelt sind, die über das, was in ihrem Leben vor sich geht, wütend sind. Die nicht nur keine Arbeit haben, sondern die sich auch nicht mehr vorstellen können, dass sie jemals wieder einen Job bekommen werden oder dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird.“

Die deutsch-israelischen Literaturtage stellen sich der Herausforderung, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und eine Selbstbefragung zu ermöglichen. Es geht um die politische Kraft der Kultur. Kultur ist nicht der private Spielplatz von Künstlern, Autoren und Intellektuellen, sie ist auch nicht der Grundstoff der Kommerzialisierung, sie ist die Grundlage unserer Gesellschaft, um offen zu sein und Neues zu denken.

Mit ihrem viel beachteten Roman „Zu blauen Augen“ eröffnet heute Abend Mira Magén das literarische Programm. Es geht um gerechtes Wohnen in Israel. Aber das gilt nicht nur für Tel Aviv und Jerusalem, es gilt genauso für München oder Frankfurt. Bauen und Wohnen sind eben nicht nur ein Thema für Investoren, es besteht mehr denn je eine soziale Verantwortung und Stadtplanung ist für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft entscheidend. Es folgt dann Clemens Meyer mit seinem Erzählband „Die stillen Trabanten“, der einen melancholisch-präzisen Blick auf die Randfiguren ostdeutscher Lebenswirklichkeit wirft. Clemens Meyer wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Bremer Literaturpreis.

Ich bedanke mich abschließend im Namen des Goethe-Instituts bei der Heinrich Böll-Stiftung für die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Mein Dank gilt den Teams für Planung und Realisierung dieser spannenden Literaturtage, vor allem danke ich den großartigen Autorinnen und Autoren aus beiden Ländern und ihren kenntnisreichen Übersetzerinnen und Übersetzern.

Einen anregenden Abend.

Es gilt das gesprochene Wort!