Talmatschi
„Die bulgarischen Leser können mit ihren Übersetzern zufrieden sein“

Unsere neue Rubrik Talmatschi möchte sich vertieft und aus erster Hand mit der Übersetzungsarbeit auseinandersetzen, indem wir mit Übersetzer*innen aus dem Deutschen und dem Bulgarischen in verschiedenen Interviews über Literatur, über die Besonderheiten der Übersetzung literarischer Texte sowie über ihren Beruf als Übersetzer*innen sprechen. Hier werden wir euch Übersetzer*innen aus Bulgarien und den deutschsprachigen Ländern vorstellen und den Versuch wagen, den Vorhang zu lüften und einen Blick hinter die Fassade der Übersetzungsarbeit zu werfen.
 
In unserem ersten Interview sprechen wir mit Maya Razboinikova-Frateva, Germanistin und Professorin für deutschsprachige Literatur an der Sofioter Universität „Hl. Kliment Ohridski“, Trägerin des nationalen Hristo-G.-Danov-Preises (2017) und Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Studien, Presseartikeln, Rezensionen und Vorworten.

Von Georgi Dermendzhiev

Maja Razboinikova-Frateva
Foto: © privat
Frau Frateva, welche sind die aufgehenden Sterne und die interessanten Namen der aktuellen deutschsprachigen Literaturszene? Wer von den jungen Talenten gehört zu Ihren Favoriten und warum?
 
Man kann sich schwer in der Vielfalt neuer Namen und Titel orientieren. Die Statistik enthält beeindruckende Zahlen, z.B. im Jahr 2018 wurden in Deutschland 12 634 Titel Belletristik herausgegeben. Ich verfolge die Entwicklung der mich am meisten interessierenden etablierten Autor*innen, und was die neuen und unbekannten Namen betrifft, orientiere ich mich anhand vorhandener Instrumente: Kritik in literarischen Rubriken renommierter Zeitungen oder Internetplattformen, mancher Fernsehsendungen, und natürlich auch der Nominierungen für Literaturpreise, die im deutschsprachigen Raum nicht wenige sind.

Im Zusammenhang mit meiner konkreten Arbeit interessieren mich Autor*innen wie Benjamin Stein (1970), Michael Kleeberg (1959), Anna Mitgutsch (1948), Eugen Ruge (1954), Jenny Erpenbeck (1967), Uwe Timm (1940), Christoph Hein (1944), Daniel Kehlmann (1975), Ingo Schulze (1962), Ilija Trojanow (1965), Saša Stanišić (1978), Norbert Gstrein (1961), Marlene Streeruwitz (1950). Lange stand ich dem Roman „Flammenwand“ von Marlene Streeruwitz distanziert gegenüber, da er mir stilistisch und thematisch zu leicht voraussehbar schien. Der Roman ließ mich jedoch diesen „Mangel“ neu einschätzen, ihn als wirkungsvolle Kombination aus Kontinuität und Variabilität sehen, die Fähigkeit der Autorin zum Entwurf von Charakteren mit drastischer Glaubwürdigkeit bewundern, die auf der spiegelbildlichen Gegenüberstellung von deren Vergangenheit und Gegenwart beruht.

Zu den besonders interessanten neuen Autor*innen gehören für mich Judith Hermann (1979), Anette Pehnt (1967), Jonas Lüscher (1976), Katja Petrowskaja (1970), Thomas von Steinaecker (1977). Sie sind zwar noch nicht Träger*innen großer Literaturpreise, haben aber ihre treuen Leser*innen. Sehr gern lese ich Judith Hermann und Anette Pehnt wegen ihrer Vorliebe für Details und ihrer Fähigkeit, die zerstörende Kraft des Unbedeutenden darzustellen, wofür sich die Geschichte nicht interessiert und was menschliche Leben zugrunde richten oder erheben kann.

Beim Schweizer Jonas Lüscher schätze ich die Sorge um die Zukunft, die Empathie gegenüber Menschen des Übergangs von einer Welt des Analogen zu der digitalen Ära sowie den kühnen Versuch im Roman „Kraft“, das Geschehen vom philosophischen Standpunkt zu betrachten. Die surreal-düstere Prosa von Clemens J. Setz (1982) und ihre kafkaesken Situationen sprechen mich auch sehr an. Unbedingt erwähnen möchte ich auch die filigrane Prosa von Marion Poschmann (1969), die Phantasie und den dezenten Humor von Emma Braslavsky (1971), das soziale Engagement und den direkten Duktus der Österreicherin Kathrin Röggla (1971). Für mich gehören sie ebenfalls zu den neuen beachtenswerten Namen in der deutschsprachigen Literatur.

Die Geburtsjahre der Autor*innen habe ich in Klammern angeführt, da die Frage nach den „jungen Talenten“ nicht leicht zu beantworten war. Diese Frage sollte vielleicht an die Verleger*innen gestellt werden, die Manuskripte lesen, oder an die Organisatoren von Schreibwerkstätten und Literaturwettbewerben. Eigentlich zeigt die gestellte Frage, dass das Adjektiv „jung“ in Bezug auf das schriftstellerische Talent andere Dimensionen hat. Nicht jeder Autor bzw. jede Autorin veröffentlicht schon als junger Mensch, man findet auch nicht gleich mit den ersten Publikationen seine Leser*innen, man wird nicht immer gleich von der Kritik wahrgenommen. Manchmal vergeht einige Zeit, bis man als Autor*in auf der Literaturszene sichtbar wird.

Als Beispiel für diese Nichtübereinstimmung von biologischer und schöpferischer Jugend lässt sich Esther Kinsky (1956) anführen, die als Autorin im letzten Jahrzehnt aufgetreten ist, Anerkennung erlangte sie jedoch in den letzten fünf oder sechs Jahren, ihr schriftstellerisches Talent ist dem Publikum völlig neu. Bevor sie zu schreiben begann, war sie lange Zeit etablierte Übersetzerin aus dem Englischen, Polnischen und Russischen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass ich sehr gern auch Volker Weidermann (1969) lese mit seiner straffen, unaufdringlichen aber gut durchdachten Dokumentarprosa.

Aufregend ist seine Dokumentarerzählung „Das Duell“ aus dem Jahr 2019, in der die Geschichten zweier der wichtigsten Protagonisten auf der deutschen Literaturszene in der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts – des Schriftstellers Günther Grass und des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki – dargestellt werden. Und was meine Favoriten betrifft, mit der ganzen Bedingtheit solcher Begriffe, möchte ich Clemens J. Setz nennen, auch Judith Hermann, begründet habe ich dies schon vorher.
 
Welche sind die guten Übersetzungen aus dem Deutschen ins Bulgarische in den letzten Jahren, über die man wenig weiß? 

Die meisten Übersetzungen aus dem Deutschen ins Bulgarische sind sehr gut. Ich glaube, dass die Skizze von Volker Weidermann „Ostende. 1936, der Sommer einer Freundschaft“ (Panorama-Verlag) in der Übersetzung von Darja Haralanova nicht ausreichend beachtet wurde, was für mich überraschend ist, denn sowohl Stefan Zweig als auch Joseph Roth, um deren Freundschaft es in der Skizze geht, sind dem bulgarischen Leserpublikum sehr gut bekannt. Ich hatte erwartet, dass sich gerade die Leser*innen von Zweig und Roth für das Buch interessieren würden, doch eine studentische Untersuchung im Rahmen eines Seminars vor einigen Monaten konnte keine Reaktionen und kein besonderes Interesse diesbezüglich feststellen.

Zu erwähnen ist auch die bulgarische Ausgabe von Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“ (Collibri-Verlag) in der Übersetzung von Zhanina Dragostinova, die in außergewöhnlich kurzer Frist nach dem deutschen Original herausgegeben wurde. Neulich ist ein Sammelband an Reportagen von Joseph Roth („Reisen in die Ukraine und nach Russland“, Aquarius-Verlag) in der Übersetzung von Ana Dimova erschienen, und ich hoffe sehr, dass dieser Sammelband nicht unbemerkt bleibt, denn die Beobachtungen des zwar positiv eingestellten, doch objektiv urteilenden Reisenden sind besonders aufschlussreich und könnten uns helfen, die Ereignisse der Gegenwart neu zu bewerten.
 
Welche Stellung nimmt die deutschsprachige Gegenwartsliteratur im bulgarischen Kulturkontext ein? Kann man von einem intensiveren Kulturtransfer zwischen Bulgarien und Deutschland in letzter Zeit sprechen? 
 
Die deutschsprachige Literatur behauptet ihren festen Platz im bulgarischen Kulturkontext dank mehrerer engagierter Verlage, die diese Literatur ins Zentrum ihrer Tätigkeit gestellt haben, aber auch dank denjenigen Verleger*innen, die kulturelle und thematische Vielfältigkeit ihrer Verlagsprogramme anstreben, die neuen Tendenzen in der deutschsprachigen Literatur berücksichtigen und auch Neuerscheinungen etablierter und bekannter Autor*innen anbieten.

Die aus dem Deutschen übersetzte Gegenwartsliteratur verschafft den bulgarischen Leser*innen eine sehr gute Vorstellung von den Themen, Experimenten und Fragestellungen der deutschsprachigen Schriftsteller*innen. Sie zeigt eindeutig, dass wir alle, bei aller Nationalspezifik und jeglicher Differenzen, in der gleichen Welt leben und gleiche Hoffnungen, Bestrebungen und Sorgen haben, sie ermöglicht den äußeren Blick auf dramatische innere Zusammenhänge und macht sie sichtbarer, sei es als Analogie oder als Gegenüberstellung. Diese Betrachtungen haben sich für mich 2018 während des Internationalen Literaturfestivals in Sofia bestätigt, bei dem als Schwerpunkt die deutschsprachige Literatur gewählt worden war. Es ist sicher kein Zufall, dass Bulgarien am Ende desselben Jahres dem Literaturnetz „Traduki“ beigetreten ist.

Was den ganzheitlichen Kulturtransfer zwischen Bulgarien und Deutschland betrifft, so glaube ich, dass er sehr intensiv ist und verschiedene Künste einbezieht, wie z.B. Malerei, Photographie, Film, Architektur, Musik, Theater in Form von gemeinsamen Projekten, Werkstätten, Lehrgängen, Theatervorstellungen, Online-Konzerten, Gespräche mit Schriftsteller*innen live und online, Ausstellungen usw. Alle diese Formen von Kulturaustausch sind einem breiten Publikum zugänglich. Immer häufiger arbeitet man in gemischten Teams, man strebt nach Reversibilität im Kulturtransfer, nach Dialog. Das Goethe-Institut spielt eine unschätzbare Rolle in diesem Intensivierungsprozess. Neue Ideen und Präsentationsweisen der deutschsprachigen Literatur und Kultur prägen die letzten Jahre, und ich hoffe sehr, dass diese Tendenz erhalten bleibt.
 
Was ist Ihre Meinung zu Neuübersetzungen schon übersetzter Texte? Ist die erste Übersetzung immer unvollkommen? 

Neuübersetzungen schon übersetzter Texte können aus objektiven Gründen gemacht werden, können aber auch dem subjektiven Bedürfnis des Übersetzers nach Vollkommenheit entspringen oder seiner persönlichen Vorliebe zu bestimmten Autor*innen oder Werken. Sie können ebenfalls Ausdruck eines schöpferischen Wettstreits zwischen Übersetzer*innen verschiedener Generationen sein.

Auf jeden Fall, wenn sie wirklich den Ansprüchen ihrer Verfasser*innen entsprechen, sind Neuübersetzungen sinnvoll, da sie die neugierigen Leser*innen zur Wahl zwingen und zur Einschätzung der Übersetzung, sie machen also die Arbeit der Übersetzer*innen sichtbarer. Jede Übersetzung ist in gewissem Sinne unvollkommen, es lässt sich nicht mit Sicherheit und ohne eingehende Analysen sagen, ob das spätere Entstehungsdatum einer Übersetzung eine bessere Qualität sicherstellt.

Ich betrachte die Neuübersetzungen als einen wertvollen Beitrag zur Kunst des Übersetzens und glaube, dass solche Übersetzungen eines Tages zu einem geeigneten Forschungskorpus werden können, nicht nur für die Übersetzungswissenschaft, sondern auch für die Analyse von Entwicklungstendenzen in der Sprache. Wenn zwischen den einzelnen Übersetzungen größere Zeitabstände liegen, wird jede von ihnen eine bestimmte Phase der Sprachentwicklung widerspiegeln, aber auch bestimmte gesellschaftlichen Einstellungen und Interessen. Mit den gesellschaftlichen und sprachlichen Veränderungen gehen auch Veränderungen der Instrumente und der Übersetzungsverfahren einher. Mit einem Wort, die Neuübersetzungen schon übersetzter Texte stellen eine Goldgrube für Untersuchungen jeglicher Art dar.
 
Sie beschäftigen sich auch mit Übersetzungskritik, die in Bulgarien irgendwie im Hintergrund zu liegen scheint. Übersetzer*innen treten selten in die Rolle von Kritiker*innen. Welche Qualitäten soll Ihrer Meinung nach eine gute Übersetzung aufweisen? 

Übersetzungskritik ist eine sehr komplizierte und aufwendige Beschäftigung. Sie erfordert Geduld, Konzentration und Kenntnisse in verschiedenen Bereichen. Wohl deshalb wird sie selten und sporadisch praktiziert. Die Fachleute, die diese Arbeit systematisch und professionell zu leisten vermögen, sind nicht sehr zahlreich und haben grundsätzlich andere Beschäftigungen.

Als Kritiker*in soll man über Kriterien verfügen, auf deren Grundlage man seine Meinung äußert, sein Behagen oder Unbehagen beim Lesen der Übersetzung, zuweilen auch beides, zum Ausdruck bringt. Man kann die geäußerte kritische Meinung akzeptieren oder ablehnen, dies soll aber aufgrund wesentlicher Argumente passieren. Der Dialog zwischen Kritiker*in, Übersetzer*in, Leser*in, Verleger*in, ob stillschweigend oder öffentlich, ist sehr wichtig, denn Kritik hat einen Sinn, wenn sie jemanden zum Nachdenken oder zur Neubewertung von etwas bewegt. Sie stellt eine Möglichkeit dar, den Leser*innen einen verantwortungs- und qualitätsvollen Prozess des Übersetzens und Verlegens zu garantieren.

Sie könnte ebenfalls einen guten Beitrag leisten zur Ausbildung einer kritischen Betrachtungsweise unter den Leser*innen. Übersetzungskritik ist eben eine Betätigung im Namen der Literatur. Wie jede andere Kritik setzt sie auch Unabhängigkeit und Selbstständigkeit voraus. Die Vernetzung als Grundcharakteristik der heutigen Welt, insbesondere die Vernetzung von nicht besonders großen Sozialgruppen und –strukturen (von Übersetzern, Verlegern, Schriftstellern) ist wohl eines der Hindernisse für sinnvolle und brauchbare Kritik.

Ich selbst beschäftige mich selten mit Übersetzungskritik, für gewöhnlich in extremen Situationen – bei Begeisterung oder Unbehagen. Wenn ich mich auf dieses Territorium begebe, wie schon gesagt, unter der Einwirkung einer Emotion, verfahre ich als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin, bei sprachlichen Problemen lasse ich mich von kompetenten Kolleg*innen beraten. Ich habe meine eigenen Kriterien entwickelt und mit ihnen hängt die Beantwortung der zweiten Frage zusammen. Ich möchte mich auf zwei Voraussetzungen und eine Forderung beschränken: Respekt vor dem zu übersetzenden Text und Verantwortung für die Leser*innen der Übersetzung, die all das bekommen sollten, was auch die Leser*innen des Originals bekommen.
 
Auf welchem Niveau liegt die Übersetzungspraxis in Bulgarien? Sind die Übersetzungen von Belletristik, die die bulgarischen Leser*innen in die Hand bekommen, von guter Qualität? 

Wenn ich mir Übersetzungen von Belletristik kaufe, orientiere ich mich nach Verlag und Übersetzer*in. Die guten Übersetzer*innen aus verschiedenen Sprachen sind wohl bekannt. Wenn mir ein Übersetzername nicht bekannt ist, warte ich ab, um Meinungen zu hören oder Kritik zu lesen. Ich hüte mich vor ungeschickten und respektlosen Übersetzungen, sie können das Lesevergnügen beeinträchtigen und ein Werk zugrunde richten, obwohl ein erfahrener Leser bzw. eine erfahrene Leserin unterscheiden kann, worauf die missglückten Stellen in einem Text zurückzuführen sind.

Die meisten Verleger*innen sind verantwortungsbewusste Menschen, meine bescheidenen Erfahrungen diesbezüglich zeigen, dass sie fach- und sachkundig verfahren und sehr viel Engagement und Zuneigung zu ihrer Arbeit an den Tag legen. Sie beschäftigen sich gründlich mit den vorgelegten Übersetzungen, indem sie sie zum Lektorieren und Korrekturlesen im Auftrag geben. An einigen Verlagen wird die Prüfung der Texte durch Korrektoren ausgespart, doch diese negative Praxis scheint in letzter Zeit überwunden zu sein, auch bei Sach- und Fachbüchern. Grundsätzlich können die bulgarischen Leser*innen mit ihren Übersetzer*innen zufrieden sein.
 
2017 haben Sie den Hristo-G.-Danov-Preis für Belletristikübersetzung für Ihre Übersetzung des Sammelbandes „Briefe an einen Dichter. Briefe an eine junge Frau“ bekommen, in dem drei kurze Korrespondenzen des österreichischen Dichters Rainer Maria Rilke enthalten sind. Wodurch unterscheidet sich die Übersetzung eines Privatbriefwechsels von anderen Arten der literarischen Übersetzung? 

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Übersetzungsstrategie und Gattungszugehörigkeit des zu übersetzenden Werkes ist sehr wichtig. Ein Übersetzer soll die Genrebesonderheiten nicht nur sehr gut kennen, sondern sie auch beim Übersetzen unbedingt berücksichtigen. Ihre Frage ist auf die Übersetzung von Privatkorrespondenz bezogen, und bei dieser Art von Texten rücken reale Persönlichkeiten und Charaktere in den Vordergrund.

Meine Erfahrung mit den Briefen von Rilke zeigt, dass man sich als Übersetzer von seinen Vorstellungen über den Verfasser der betreffenden Briefe zu distanzieren hat, den man aus anderen Quellen kennt, im konkreten Fall aus seinem literarischen Werk, aus kritischen Schriften, biographischen Texten usw. Man soll vorbereitet sein, im Briefwechsel andere, menschliche Seiten der am Briefwechsel Beteiligten wahrzunehmen, auf einen anderen Stil zu stoßen, auf widersprüchliche Thesen u.a.m., deshalb ist es empfehlenswert zu vermeiden, dass die eigenen Vorstellungen den vorliegenden Text beeinträchtigen.

Die Übersetzung von Briefen erfordert Respekt zum Text als Text, aber auch zu den Briefverfasser*innen und zu ihrem Recht, anders zu sein, schwankend, inkonsequent, strittig. Es mag sonderbar anmuten, dass ich diese Schlussfolgerungen gerade bei einem Autor wie Rilke gemacht habe, dessen umfangreicher Briefwechsel mit Freunden, Förderern und Verehrern ein wichtiger Teil der Arbeit an einem angestrebten öffentlichen Bild des Dichters darstellt. In diesem Sammelband sind aber drei spezifische Korrespondenzen nebeneinander gestellt, in denen Rilke mit konkreten Erwartungen und Forderungen konfrontiert wurde und eine erstaunliche Bereitschaft an den Tag legte, ihnen entgegenzukommen.
 
Neben Übersetzerin und Kritikerin sind Sie auch Literaturwissenschaftlerin und Professorin an der Sofioter Universität. Ein Teil Ihrer Publikationen behandelt Probleme der Interkulturalität. Welche Rolle spielt die Globalisierung und die Annährung der Kulturen im Kontext der Übersetzung? 

Gewiss stellt die Übersetzung ein sehr wichtiges Instrument, und zwar ein unentbehrliches Instrument im Kulturaustausch dar. Die Vielsperachigkeit der Welt wird die Übersetzung am Leben erhalten. Ob die Grobalieserung zu einer einsprachigen Welt führen wird, ist noch nicht vorauszusagen. Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt sich für Erich Auerbach die Entstehung einer einsprachigen Welt abzuzeichnen. Vorläufig können wir aber noch nicht ohne Übersetzung auskommen. Wie die Situation vom Standpunkt der hegemonialen Sprachen aussieht, ist eine andere Sache. Die Selbstgenügsamkeit solcher Sprachen kann nur zu geistiger Verarmung und Einengung der Horizonte führen. In der Welt, in der ich lebe, ist die Übersetzung von Texten aus einer Sprache in eine andere eine Notwendigkeit und eine Einleitung in die Kunst, den anderen und die anderen zu verstehen und zu schätzen.
 
Und eine letzte Frage: warum würden Sie Ihre Student*innen ermutigen, sich mit Übersetzung zu beschäftigen? 

Weil man, indem man übersetzt, fortfährt zu lernen, weil man dadurch in das Innere der Sprache eindringt, sowohl der Ausgangssprache, als auch der Zielsprache, man erkennt ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen. Man lernt, die Nuancen zu entdecken, die Wörter zu respektieren und sie zu bewundern. Man erwirbt die Fähigkeit zu lesen, zu hören, zu verstehen und überträgt diese Fähigkeit ins Leben außerhalb der Übersetzung und der Bücher.

Die Arbeit des Übersetzers bzw. der Übersetzerin lässt sich nicht entfremden – man ist als Übersetzer*in mit seinem Text allein, man ist selbst für das Ergebnis seiner Arbeit verantwortlich, man hat allein mit der Freude und mit den Zweifeln fertigzuwerden. Die Übersetzung literarischer Text lehrt Demut, doch damit könnte ich wohl kaum bei jungen Menschen für den Übersetzerberuf werben, dazu muss man sich selbst durchringen.

Das Wichtigste ist, dass die Übersetzung die Möglichkeit zu fortwährender Bereicherung gibt, Übersetzer*innen sind in dieser Hinsicht unwahrscheinlich privilegiert. Doch dieses Privileg hat auch seine Kehrseite, seine dunkle Seite, Übersetzer*innen werden zuweilen mit Situationen konfrontiert, in denen sie bedroht sind, ihren Glauben an die Sprache als Kommunikationsmittel zu verlieren, die naive Überzeugung, dass der Sinn der Wörter nicht einmal in der Alltagkommunikation ohne weiteres übertragbar sei. Übersetzer*innen sind vom Lord-Chandos-Syndrom besonders stark betroffen.
 
Maya Razboynikova-Frateva ist Professorin für deutschsprachige Literatur am Lehrstuhl für Germanistik und Skandinavistik der St.Kliment-Ochridski-Universität Sofia. Sie promovierte an der Universität Leipzig, in Lehre und Forschung beschäftigt sie sich mit der deutschsprachigen Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Sie ist Autorin von zahlreichen Artikeln und Studien und von Monographien über fiktionale Frauenbiographien, sowie über das Werk von Theodor Fontane.

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