Chamisso-Preis 2016
Flusslandschaft und Gap Garden

Die Chamisso-Preisträgerinnen 2016 Uljana Wolf (links) und Esther Kinsky (rechts) | Montage
Die Chamisso-Preisträgerinnen 2016 Uljana Wolf (links) und Esther Kinsky (rechts) | Montage | Foto Uljana Wolf (Ausschnitt): Kai Nedden, Foto Esther Kinsky (Ausschnitt): Yves Noir

Der Chamisso-Hauptpreis wird 2016 doppelt vergeben: an die Lyrikerin Uljana Wolf und die Prosaautorin Esther Kinsky.

Früher wurden sie gerade einmal im Kleingedruckten erwähnt, heute rücken sie mehr und mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit: die Übersetzerinnen und Übersetzer, die uns den Zugang zu fremdsprachlicher Literatur oft erst ermöglichen. Wenn sie darüber hinaus auch als Autoren hervortreten, können Texte von hoher Qualität entstehen. Sind doch Übersetzer immer schon mit Gestaltungsprozessen von Sprache als Material befasst. Die Prosaautorin Esther Kinsky übersetzt aus dem Polnischen, Englischen und Russischen, die Lyrikerin Uljana Wolf aus dem Englischen. Für ihre letzten Werke Am Fluß (Matthes & Seitz, Kinsky) und Meine schönste Lengevitch (kookbooks, Wolf) erhalten sie zu gleichen Teilen den Chamisso-Preis 2016. Der von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierte Preis wird am 3. März 2016 in München verliehen. Er wird für Autoren ausgelobt, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. 

Sprache als Material

Wolf lebt in den USA und unterrichtet Deutsch als Fremdsprache in New York, Kinsky lebte lange in England und in Ungarn. Neben ihren Romanen und Gedichtbänden hat sich Esther Kinsky auch theoretisch zu ihrer Arbeit geäußert. In ihrem Buch Fremdsprechen – Gedanken zum Übersetzen (2013, Matthes & Seitz, Berlin) hält sie unmissverständlich fest: „Übersetzung ist die Kunst, die (...) Erfahrung von Fremde auf der Ebene von Sprache zu gestalten.” Und sie fährt fort: „Der Autor kleidet eine Idee, eine Handlung, ein Bild in Sprache (...), der Übersetzer hingegen ist nur – im Sinne von ausschließlich – mit der Sprache als Material befasst (...) Diese beiden Seiten ؎ die dienende Stimme und die eigene Kunst – passen nicht zusammen, und ihre gleichzeitige Nennung illustriert nur die Unsicherheit bei der Definition des Status des Übersetzers. Könner oder Künstler? Diener oder Meister?“

Nachdenkliche Prosaminiaturen

Eingedenk der Tatsache, dass viele große Autoren immer wieder auch als Übersetzer tätig sind, sollte die Gleichrangigkeit von Schreiben und Übersetzen eigentlich evident sein. So hat es jedenfalls die mutige Jury gesehen. Nach den Romanen Sommerfrische und Banatsko löst auch Am Fluß diesen Anspruch ein. Kinsky erzählt in immer wieder ansetzenden Wendungen von Flusslandschaften: Themse, Rhein, Oder, Theiss, Neretva, Hooghly River und Sankt-Lawrence-Strom. In nachdenklichen, biografisch gefärbten Prosaminiaturen führt Kinsky den Leser vom Kindheitsfluss Rhein in die unterschiedlichsten Flusslandschaften, um immer wieder zum River Lea zurückzukehren, einem kleinen Zufluss der Themse im Osten ihres Wohnorts London, den sie quasi literarisch kartografiert. 

Frei von mystischer Schwere

Für Uljana Wolf sind Sprachexperiment und Sprachskepsis zentrale Begriffe: Gibt es überhaupt eine angemessene Sprache für die Dinge? Ihre hochkondensierten Gedichte legen jedes Wort auf die Goldwaage und empfinden vieles als zu leicht. Das geschieht völlig frei von mystischer Schwere, im Gegenteil, Wolf entwickelt einen von Assoziationen getriebenen Humor, der sich am Wortsinn selbst entzündet: „Dem Wildwechsel oder Lautwechsel liegen Gründe zugrunde.“ Das reicht von dadaistisch-onomatopoetischen Einsprengseln: „kalt ist small, alt ist all“, bis hin zu linguistischen Anspielungen: „Lautkette, schwappt über Sinnkette“. In insgesamt sechs Zyklen, frei-konkreten wie strophisch gebundenen Gedichten, springt die Autorin von Wortinsel zu Wortinsel. Traditionelle Formen werden zitiert und verworfen, Anleihen beim Märchen gemacht, Alltagssplitter aufgerufen. Uljana Wolf beruft sich auf den deutsch-amerikanischen Dichter Kurt M. Stein, der 1925 schrieb: „In fact, wir sein ready, was das anconzernt“. Aus Die schönste Lengevitch, so der Titel des Buchs, wird das „gap gardening“, die Lückenpflege, einer lustvoll in die Sprache vernarrten Autorin.
 
Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instiuts, ist Mitglied  der Jury des Adelbert-von-Chamisso-Preises.