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Interview
Felix Stephan – Die frühen Jahre

Porträtfoto Felix Stephan
Porträtfoto Felix Stephan | Foto: Vincent Muller

Die Anfangsszene aus dem Debutroman Die frühen Jahre des deutschen Autors Felix Stephan ist sehr suggestiv. Der Roman erschien 2023 im Berliner Aufbau Verlag. Darin verbrennt ein Großvater und Familienpatriarch, Oberhaupt einer ostdeutschen Familie und bereits ehemaliges Mitglied der ostdeutschen Stasi, Anfang der 1990er Jahre Akten aus dem Archiv der Geheimpolizei, die seine Familie unter dem neuen Regime in Verruf bringen könnten. Es gelang ihm, sie vorsorglich aus dem Archiv zu entfernen.

Die Hauptfigur – zugleich der Erzähler des Romans – ist ein namenloser Junge, den wir vom sechsten bis zum sechzehnten Lebensjahr begleiten. Er wächst in einer Familie auf, deren Mitglieder nicht nur regimetreu waren, sondern sogar zur Nomenklatura der kommunistischen Diktatur gehörten. Die Leserinnen und Leser verfolgen, wie dieser Erzähler als Kind und Jugendlicher sozusagen in den Zerfall seiner Familie hineinwächst.

Felix Stephan wurde 1983 in Ostberlin geboren, er studierte Journalismus und Literaturwissenschaft und arbeitete als Redakteur bei renommierten Medien (Zeit Online, Die Welt, Monopol u. a.). Zur Zeit ist er Feuilletonredakteur bei der Süddeutschen Zeitung und befasst sich mit kulturellen und gesellschaftlichen Themen.

Lukáš Motyčka:
Zu Beginn des Gesprächs, das ich mit Felix Stephan für das Goethe-Institut Prag im Rahmen des Literaturreihe „Terra Litera“ zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geführt habe, stellte ich dem Autor die Frage: Stehen hinter diesem „späten Debut“ besondere Beweggründe?

Felix Stephan: 
Einerseits gab es einen banalen Grund – dieses Genre, also der Roman, gilt in der Literatur als die sogenannte Königsdisziplin, und als Kulturjournalist bin ich selbst begeisterter Romanleser … Der österreichische Autor Clemens Setz hat einmal gesagt, wenn ein Mensch liest, ohne selbst zu schreiben, ist es, als würde er geküsst werden, ohne selbst zu küssen … Vereinfacht gesagt, war das etwas, was ich ausprobieren wollte … Soviel zu den allgemeinen Beweggründen für einen Roman, für diesen konkreten Text war es so: als Journalist verfolge ich aufmerksam, welche Romane in Deutschland herauskommen, und mir ist aufgefallen, dass man zwar nicht von einem Mangel an Literatur über die ehemalige DDR und die Jahre danach sprechen kann, aber es ist eine Tatsache, dass diese Romane überwiegend von denen handeln, die in dieser Zeit in der Opposition waren – ich denke da zum Beispiel die Romane von Lutz Seiler, Helga Schubert usw. Dieses Bild entspricht erstens natürlich nicht der historischen Realität, denn 85 Prozent der Bevölkerung waren mehr oder weniger konform, viele haben die Diktatur aktiv unterstützt und waren deren Repräsentanten, und zweitens entspricht es auch nicht dem, was ich selbst erlebt habe.

In den Rezensionen wird oft betont, dass es sich um einen autobiographischen Roman handelt. Stimmt das?
 
Ja, Sie haben recht, das wird oft geschrieben … Aber ich würde diese Behauptung ablehnen, obwohl der Erzähler meines Romans und ich viel gemeinsam haben, etwa waren wir im Jahr 1990, als die Handlung einsetzt, gleich alt, und wie auch ich wächst er in Ostberlin auf, in einer Welt, die ich gut kenne. Allerdings existiert keine der Romanfiguren wirklich. Das Thema autobiographisches Schreiben ist selbstverständlich etwas, worüber Dissertationen geschrieben werden … In diesem Zusammenhang kann ich ein Paradoxon erwähnen, auf das ich bei der Arbeit an einem Roman gestoßen bin: Mir scheint, je näher man einer Romanfigur kommt, je mehr man sich mit dem identifiziert, was sie erlebt, je konkreter man zum Beispiel das Innenleben einer Figur beschreibt, desto allgemeiner wird alles. Das ist, so scheint es, das große Mysterium der Literatur, auch der autobiographischen; es ist ein Effekt, bei dem es dazu kommt, dass alles viel allgemeiner und abstrakter wird, je konkreter man ist. – Aber Sie haben recht, autobiografisches Schreiben ist für Autorinnen und Autoren oft sehr attraktiv, weil sie über etwas schreiben, worin sie sich sozusagen auskennen, und eine solche Geschichte ist immer einzigartig, der Autor ist im Grunde der Einzige, der die Geschichte erzählen kann ... in Anlehnung an die Aussage der amerikanischen Schriftstellerin Tony Morrison: „Weil es den Roman, den ich gerne lesen würde, nicht gab, musste ich ihn selbst schreiben ...“
 
Ich habe Felix Stephan, der auch als Redakteur und Kulturjournalist tätig ist, gefragt, in welchem Ausmaß es seiner Meinung nach einen Unterschied zwischen journalistischem Schreiben und dem literarischem Schreiben gibt und ob seine journalistische Erfahrung bei der Arbeit an seinem Roman eher ein Vorteil oder ein Hindernis war.

Ich denke, dass das journalistische und das literarische Schreiben nicht viele Ähnlichkeiten haben, ich würde sogar sagen, dass es sich um etwas ganz Gegensätzliches handelt. Man könnte denken, dass es sich um ähnliche Tätigkeiten handelt, denn das Ergebnis ist jeweils ein Text … Beim journalistischen Schreiben hat man klare Vorschriften, Normen, etwa wie lang ein Text sein soll, welches Thema er hat, ob es eine Rezension, ein Kommentar, ein Bericht usw. ist, und davon darf man nicht abweichen. Diese Dinge sind eindeutig ausschlaggebend für den daraus resultierenden Text. Als ich meinen Roman geschrieben habe, war das Nicht-Existieren von Grenzen, das Fehlen jeglicher Regeln, das wichtigste Prinzip … Man kann tun und lassen, was man will, zum Beispiel zehn Seiten auslassen, auf einmal Französisch schreiben, alles ist möglich und erlaubt, der Autor muss sich seinen Weg durch diese grenzenlose Freiheit suchen, er ist gezwungen, selbst zu entscheiden, er fragt sich ständig: Warum mache ich das so und nicht anders? Etwa die Frage,  wann ein Kapitel fertig ist, oder wann eine Szene gut ist, fertig … dafür gibt es keine objektiven Regeln, das ergibt sich erst aus dem Text selbst … Das ist eine ganz andere Art von Arbeit, deshalb glaube ich, dass mir die Erfahrungen als Journalist überhaupt nicht geholfen haben. – Beim literarischen Schreiben geht es um eine gewisse Art von Freiheit, die aber nicht immer angenehm ist, man hat nämlich keine Rahmenbedingungen und hinter jeder Entscheidung steht man ganz allein ...
 
Ihren Roman könnte man einerseits zur Tradition des deutschen „Bildungsromans“ zählen, also zu Texten, die sich mit der Entwicklung eines Individuums befassen, aber es handelt sich andererseits auch um einen politischen Roman. Glauben Sie, dass es allgemein von Bedeutung ist, sich mit der DDR-Zeit und der Zeit der Wende literarisch zu befassen?
 
Ja, das ist sehr wichtig. Wir können da schon länger etwas beobachten, das in diesem Jahr seinen Höhenpunkt erreicht: die neue Generation der Ostdeutschen publiziert Bücher, die sich mit Fragen an die Generation ihrer Eltern richten. Die Generation derer, die den 80er und 90er Jahren geboren wurden (ähnlich wie ich), die die DDR selbst nicht bewusst oder aktiv erlebt haben (oder überhaupt nicht erlebt haben), blicken nun zurück auf diese Zeit. Dieses Phänomen wird oft mit der 68er-Generation in Westdeutschland verglichen. In Westdeutschland hatten wir es in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg vor allem mit der Verdrängung der Vergangenheit und dem Opfermythos zu tun, und dann kam eine Generation junger Menschen, die plötzlich sagten, das reicht uns nicht, und die begannen, ihren Eltern Fragen zu stellen ... Natürlich werden viele Leute denken, dass man diese beiden Diktaturen nicht vergleichen kann, und ja, was das Ausmaß der Gräueltaten, der Perfidie und der Durchdachtheit angeht, kann man das wahrscheinlich nicht, aber andererseits kann man diese und andere Diktaturen sehr wohl vergleichen, weil sie ähnliche oder die gleichen Muster aufweisen ... Viele Leute wollen davon nichts hören, bisher haben sich vor allem diejenigen geäußert, die in der Opposition waren, die Andersdenken, aber was ist mit den 200.000 bezahlten Angestellten der Staatssicherheit und ihren Familien? In Summe geht es um Millionen von Menschen in diesem Staatsapparat ... Ich denke, diese Diskussion fängt auch in Ostdeutschland gerade erst an, und das ist gut so, weil sie produktiv ist.
 
Ja, aber eine ähnliche Diskussion gibt es doch schon im gesamtdeutschen Kontext, oder nicht? Warum ist sie im Osten verspätet?
 
Die Situation in Ostdeutschland nach dem Jahr 1990 ist eine andere als die Situation in Westdeutschland im Jahr 1968. Man könnte sagen, wir in Ostdeutschland hatten nicht so viele Möglichkeiten, uns wirklich und tiefgreifend mit diesem Thema auseinanderzusetzen, weil uns hier im Osten immer sozusagen von jemandem aus dem Westen reingeredet wurde, wir waren gemeinsam in einem Diskursfeld, und es gab keinen öffentlichen Raum, in dem sich Ostdeutsche unter sich mit diesem Thema auseinandersetzen konnten, die großen Zeitungen, das Fernsehen usw., das ist alles weg, oder es gehört den Westdeutschen. In Wirklichkeit gibt es keine Plattform, auf der die Ostdeutschen untereinander wären, immer ist da auch jemand aus dem Westen, der glaubt, er müsse sich auch äußern und seine Meinung hinzufügen, es ginge schließlich auch um ihn … Auch jetzt können wir sehen, dass Bücher zu diesem Thema fast ausschließlich in westdeutschen Verlagen erscheinen.
 
Im Falle des Protagonisten Ihres Romans ist sein Ton, oder seine Perspektive, aus der er die Welt um sich herum beobachtet und kommentiert,  sehr interessant. Vor allem im ersten Teil des Romans ist die Stimme des Erzählers sehr ironisch, sarkastisch; kritisch entlarvt er seinen Eltern als Spießer, Opportunisten und Konjunkturisten, seine Mutter wird als eine Frau dargestellt, die ihre ganze Energie, die sie zuerst für den Aufbau des internationalen Sozialismus aufbrachte, jetzt in die Renovierung ihrer Wohnung investiert, und den Vater stellt der Erzähler gnadenlos als unfähigen Mann dar, einen buckligen, gedemütigten Deutschen aus dem Osten, dessen Wehrlosigkeit und Mitleidlosigkeit mich unbewusst erschreckte. Auf Zeit-Online spricht der Rezensent Adam Soboczynski über den Roman als „verständnisvolle Abrechnung mit der eigenen Familie“. Ich hatte aber den Eindruck, dass sich dieser beißend-kritische Ton in der zweiten Hälfte des Romans verliert und dass der Erzähler sanfter und versöhnlicher wird. Ist das so, und warum?
 
Sie haben recht, aber das war ursprünglich nicht meine Absicht, dazu kam es spontan. Einerseits hat das damit zu tun, dass der Erzähler älter wird: anfangs ist er sechs und gegen Ende des Buches sechzehn, er kommt also in ein Alter, in dem man aktiv wird, in dem man die Dinge endlich beeinflussen kann und selbst entscheidet. Als Kind ist er nicht Herr der Sache, er ist ein passives Objekt des Geschehens, er beobachtet nur, und auch seine eigenen Gefühle und Impulse versteht er in diesem Alter noch nicht. Ein weiterer Grund, warum sich die Einstellung des Erzählers zu seiner Umgebung und der Welt ändert, ist vielleicht, dass er zu begreifen beginnt, dass die Menschen aus seiner Familie sterblich sind, das Bewusstsein des Todes ist etwas, das in der kindlichen oder jugendlichen Härte und Schüchternheit abstumpft. Erst durch die Krankheit des Großvaters und die Tatsache, dass er stirbt, verändern das: in dem Moment begreift der jugendliche Protagonist, dass die ganze Welt, die er zwar abgrundtief hasst, die ihn aber gleichzeitig prägt und aus der er hervorgeht, langsam verschwindet ... Das ist etwas Grundlegendes, so erkläre ich mir die von Ihnen erwähnte Verschiebung der Perspektive.

Etwas zugespitzt formuliert, könnte man sagen, dass es um die Aufzeichnung der Entwicklung eines jungen Menschen geht, und zwar von einem Rebellen (wie es die meisten Menschen in der späten Kindheit und Jugend sind) zu jemandem, der sich angepasst hat.
 
Ja, es freut mich, dass Sie das sagen. Bei den Reaktionen auf meinen Roman war ich verwundert, dass die westdeutschen Journalisten, die mit mir über das Buch sprachen, es als eine positive „Normalisierungsgeschichte“ interpretierten, ein Teenager, der in einem ungesunden Umfeld aufwächst und zu einem „normalen“ Teenager wird, während die ostdeutschen Journalisten, ähnlich wie auch Sie, sofort bemerkten, dass es eine Geschichte über Anpassung war. Und ehrlich gesagt habe ich es auch so gemeint. Das ist keine Geschichte eines Jungen aus einer strengen ostdeutschen Familie, der plötzlich im Westen zur Schule gehen kann und glücklich und dankbar ist, frei zu sein und alle Möglichkeiten genießt; im Gegenteil, dieser junge Mann verspürt einen enormen Druck von seiner Umgebung und die Notwendigkeit, sich anzupassen zu müssen, um sich durchsetzen zu können. Er analysiert die fremde Welt, der er plötzlich begegnet (eigentlich eine Geschichte über Selbstdisziplin und Arbeit an sich selbst), um sich dann in der oberen, erfolgreichen Schicht der Gesellschaft wiederzufinden. Wenn man sich an die Momente erinnert, in denen der Protagonist lernt, mit seinen eigenen Aggressionen umzugehen, an seine Unfähigkeit, sich in seine Umgebung einzufühlen, an seine sexuelle Verwirrung und weitere Momente, könnten wir ihn vielleicht auch als einen sehr gut angepassten, funktionierenden Soziopathen beschreiben, der fähig ist, hart an sich zu arbeiten, und der bereit ist, Freundschaften für seine Karriere zu opfern, usw., usw. ... Darin liegt natürlich etwas Grausames ...
 
Die Institution Schule spielt in Ihrem Roman logischerweise eine wichtige Rolle. Ist das nur eine natürliche Folge der Tatsache, dass wir den Protagonisten im Schulalter begleiten, oder haben Sie mit der Tatsache, dass ein großer Teil der Handlung in Schulen stattfindet, etwas anderes verfolgt?
 
Was mich an dieser Institution interessiert, ist, dass sie eigentlich auf kleinem Raum ein sehr gutes Bild der Gesellschaft gibt. Alles findet in einem relativ übersichtlichen Raum statt. Man trifft auf unterschiedliche Schichten gesellschaftlicher Klassen, auf den Mechanismus der Macht, usw ... Interessant ist auch das Gymnasium als Institution, die in Deutschland ebenso oft kritisiert wie verteidigt wird, also die Trennung der Kinder in jene, die später auf die Universität gehen, und diejenigen, die ein Handwerk erlernen; diese Trennung findet sehr früh statt, eigentlich schon in der vierten Klasse. Diese Art von Elitarismus erfährt auch der Protagonist des Buches, als er ironischerweise wegen Problemen mit unkontrollierbaren Aggressionen auf ein humanistisches Gymnasium im ehemaligen West-Berlin versetzt wird. In der Tat handelt es sich um ein Bildungsmodell, das dem sozialistischen völlig entgegengesetzt ist ...

Mit etwas Übertreibung könnten wir sagen, dass Männerfiguren in Ihrem Roman eine zentrale Rolle einnehmen. Die Beziehungen Sohn- Vater und Enkel-Großvater sind ganz grundlegend, und wir könnten auch behaupten, dass der Vater-Sohn-Konflikt das Thema des Romans ist. Weitere wichtige männliche Figuren sind die gleichaltrigen Jungs, die der Erzähler entweder auf jugendliche Weise verehrt, oder er versucht, sich mit ihnen zu messen oder sich abzugrenzen. Die weiblichen Figuren scheinen nicht so wichtig zu sein, oder irre ich mich?

Bestimmt ist das so. Dieser sarkastische, sogar etwas grausame Blick des Sohns auf den Vater am Anfang des Romans, darüber haben wir ja schon gesprochen, sagt nicht einmal viel über den Vater aus, sondern mehr über den Sohn und seine intuitive Angst vor Schwäche, über seine Angst vor Menschen, die verlieren, die sich verbiegen, die Pech haben … Dass es sich eigentlich um einen „Männerroman“ handelt, war Absicht, ich dachte beim Schreiben oft an das bekannte Buch Männerphantasien von Klaus Theweleit, in dem sich der Autor damit befasste, wie autoritäre politische Systeme die Beziehungen von Männern und Frauen und die Beziehungen von Männern untereinander prägen, also welche gesellschaftlichen Strukturen unter solchen Bedingungen entstehen; das wollte ich in meinem Roman darstellen …

Ein sehr interessanter Moment Ihres Buches ist die konzeptionelle Verknüpfung der Themen Arbeit und Kommunikation. In der Familie des Erzählers spielt die Arbeit eine wesentliche Rolle. Neben dem Phänomen der Arbeit im gesellschaftspolitischen Kontext, in dem die Vorstellung von Arbeit in einer sozialistischen Welt (als Freude, Spaß und Streben nach einer besseren zukünftigen Welt) und in einer kapitalistischen Welt, in der Arbeit mit Ausbeutung, Selbstdisziplin, Selbsteinschränkung und persönlichem Gewinn konnotiert ist, recht interessant diskutiert wird, begegnen wir dem Thema Arbeit auch auf einer individualpsychologischen Ebene. Der Erzähler sagt über die Mutter, dass sie ihre Ängste durch Arbeit zu bekämpfen versuchte, sie wollte ihre Dämonen durch Arbeit besiegen. Man könnte sagen, dass die Arbeit, die oft nur eine leere, bedeutungslose Tätigkeit ist – wie wir in dem Auszug gesehen haben – hier als Flucht vor der Realität fungiert und auch, was für den Roman entscheidend ist, ein Medium oder ein Ersatz für Kommunikation ist.
 
Es geht dabei ganz einfach um die Art des Schweigens, um eine Art, das gemeinsame Gespräch zu vermeiden. Kommunikation ist ein ziemlich offenes Thema. Konkret in dieser Familie sind die sprachlichen Mittel völlig verkümmert, ein Mensch schafft es nicht, den anderen zu fragen: Wie geht es dir, was fühlst du, worüber denkst du nach. Die Hauptfigur wächst in einem Sprach- und Kommunikationsvakuum auf. Dieses Nicht-Kommunizieren ist für den Erzähler als Ausgangspunkt seiner Biographie absolut konstitutiv. Er erlebt die Welt und sich selbst oft stürmisch, aber es fehlt ihm die Fähigkeit, diese Gefühle auszudrücken. Und ja, Sie haben recht, im Falle der Eltern und Großeltern funktioniert die Arbeit als Mittel der Kommunikation, schon die Szene mit dem sinnlosen Sieben von Sand zeigt, dass die Arbeit für sie eigentlich ein Ritual ist, das die Kommunikation ersetzt ...

Das Thema Kommunikation ist auch mit dem Thema Sprache und dem Finden der eigenen Sprache verbunden. Die Hauptfigur entscheidet sich recht früh für einen Beruf, in dem Sprache ein Werkzeug ist, er will Journalist und schließlich Schriftsteller werden.
 
Anfangs hat der Erzähler das Problem, dass er von seinen eigenen Gefühlen überwältigt wird, was schließlich zu Wutausbrüchen führt. Als er dann reifer wird, kommt es zu etwas, das z. B. Freud beschrieben hat, als er über den Prozess des Kanalisierens schrieb, und der Umwandlung von Trieben in zivilisatorische Arbeit, wie etwa Kunst. Dieser heranwachsende junge Mann hat dann auf einmal festgestellt, dass es nicht mehr akzeptabel ist, anderen die Zähne auszuschlagen und sie zu beißen. Es geht um Sublimierung, das Schreiben beruhigt ihn, die Figur schreibt ein Tagebuch und organisiert so die Welt und gibt ihr eine Form …
 
Gegen Ende des Buches, als der Erzähler selbst schreibt und sogar erste positive Rückmeldungen auf seine Texte bekommt, sagt er an einer Stelle, dass es in der Literatur solche Dinge gibt, die der Mensch lernen muss, und solche, die er nicht lernen kann … Das ist eine provokative Aussage. Was möchte der Erzähler damit sagen?

 
Die Geschichte dieses Satzes ist interessant: das sind Worte, die ich selbst häufig von meinen Mentoren gehört habe. Mich hat diese Aussage zunächst total wütend gemacht, weil sie den Prozess des Schreibens mystifiziert, als Autor hätte ich aber gern alles unter Kontrolle, und wenn jemand sagt, dass es Dinge gibt, die man nicht beeinflussen kann, dann fühlt man eine gewisse Hilflosigkeit. Auf einmal ist das Schreiben, oder die Kunst überhaupt, eng verknüpft mit der Persönlichkeit, es reicht nicht, nur Talent zu haben und die Technik zu lernen, sondern man muss auch noch sozusagen charakterlich kompetent sein ... Diese Aussage hat mich immer sehr belastet … Ich habe versucht, sie zu ignorieren, als Dummheit, die zwar toll klingt, aber eigentlich nichts über die Wirklichkeit aussagt …. Aber um ehrlich zu sein: als ich zu schreiben anfing, begann ich, diese Aussage ernster zu nehmen, als ich zugeben mag ... und in Bezug auf die Szene, die sie genannt haben: Da habe ich mich gefragt, was so ein Anfänger wohl sagen könnte – er sagt das zu einem Mädchen, das er beeindrucken möchte, und er fügt außerdem hinzu, dass er froh ist, etwas sagen zu können, von dem er wirklich überzeugt ist … Lange habe ich mit diesem Satz gekämpft und ihn verleugnet, aber je älter ich werde und je mehr ich Menschen beim Schreiben beobachte, desto mehr muss ich leider meinen Lehrern zugestehen, dass es im kreativen Prozess zwar durchaus Dinge gibt, die Genauigkeit und Handwerk erfordern, um ein gutes Werk zu schaffen, aber das Fundament, der Kern, die Art von Knospe, aus der das Werk erblühen wird, ist entweder da oder nicht ... Für Literaturwissenschaftler ist das natürlich sehr unbefriedigend, es ist etwas, das nicht objektiv beschrieben werden kann, aber ich glaube, so etwas gibt es wirklich  ...

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