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Literarische Residenz in Broumov
Feder, Schneckenhaus und Scherbe: vom Sammeln und Erinnern

Reinhard Stöckel: Feder, Schneckenhaus und Scherbe
Reinhard Stöckel: Feder, Schneckenhaus und Scherbe | © Reinhard Stöckel

Die rotbraune Landschaft rund um Broumov ist ein stiller Zeuge einer bewegten geologischen Vergangenheit und zahlreicher dramatischer Menschenschicksale. Einige davon hat der Schriftsteller Reinhard Stöckel während seines Aufenthalts entdeckt und gesammelt.

Von Reinhard Stöckel

Vorm Fenster steht eine Hainbuche, hinter ihr die Klostermauern. Das helle Grün der jungen Blätter kontrastiert mit dem dunklen Rot der barocken Wand.

Was für ein schöner Platz zum Arbeiten, denke ich bei meiner Ankunft im „Haus des Kochs“.

Am nächsten Vormittag lasse ich mit Bedauern das Rollo herab, doch das Licht blendet zu sehr, sitze ich am Rechner, um zu arbeiten.

Hier auf dem Gelände des Klosters in diesem einzelnstehenden Gebäude, heißt es, habe früher der Koch des Klosters gelebt. Nun darf ich hier die nächsten Wochen verbringen, auch, um Zutaten zu sammeln für ein neues literarisches Gericht.

Ich gehe umher und sammle. In meiner Jackentasche und später auf dem Fensterbrett landen ein kleiner rostroter Stein, ein Schneckenhaus, eine Keramikscherbe und eine Vogelfeder.

Ich steige die Treppen vom Kloster hinab, neben mir rotbraun geschichtete Felsen. Rotliegendes nennen Geologen dieses Gestein. Für die Bergleute, dort wo ich aufwuchs, war es taubes, d.h. nicht verwertbares Gestein, das unter dem Kupferschiefer lag. Hier in Broumov trägt es den mächtigen Bau des Klosters. Von gleichem dunklem Rotton sind die Äcker, an denen vorbei mich meine Wanderung führt. Und ebenso gefärbt der steinig erdige Rand neben dem Asphalt der Straße und die Pfützen auf den Feldwegen nach einem Regen.

Ich gehe den Weg nach Rožmitál, vorbei an den herb riechenden Blüten der Weißdornsträucher. Auch Kastanien, Flieder, Äpfel – alles scheint hier gleichzeitig zu blühen.

Ich sehe Schwalben über einer Wiese jagen, die Figuren Heiliger am Wegrand, darunter eine Maria mit zerbröseltem Gesicht, manche Inschriften kaum noch lesbar, die älteren in deutscher Sprache.

Im Dorf gehe ich vorüber an neuen Einfamilienhäusern, an saniertem alten Bauernbarock und auch an einem zerfallenden Gehöft. Wie bei uns, denke ich und frage mich im nächsten Moment: Wann mag dieser Hof verlassen worden sein: 1938, 1945, 1968, 1990 …

Die Geschichte, die dieses Land prägte, ist einer der Gründe, die mein Interesse an einem Aufenthalt hier weckten. Doch erst einmal genieße ich den weiten Blick über die von Löwenzahn und Margeriten übersäten Wiesen, über die roterdigen Felder bis hin zu den Höhenzügen des Heidelgebirges im Osten oder, wenn ich mich umwende, die des Falkengebirges. Dazwischen eingebettet, das was früher auch das Braunauer Ländchen genannt wurde. Mittendrin Broumov (Braunau), unübersehbar thront das Kloster wie eine Festung hoch über der Stadt.

Das Benediktinerkloster ist heute nicht mehr von Mönchen bevölkert, sondern von Konzert- und Museumsbesuchern, von Menschen, die in seinen Räumen Kurse besuchen und von Touristen, die sich bei einer Führung eine Kopie des Turiner Grabtuches und vieles mehr zeigen lassen. Auch ich erlebe, wie Kryštof vom Broumover Kulturzentrum kenntnisreich und zu meinem Glück auf Deutsch von der Vergangenheit des Klosters erzählt.

Diese Geschichte war, wie die der ganzen Region wechselvoll und lässt sich nachlesen. Im Internet, inzwischen auch von KI eingesammelt und zusammengefasst, erfährt man alles über Brände und Kriege, über Mönche und Hussiten, über Deutsche und Tschechen, über die NS-Zeit und die des Kommunismus. Man erfährt, wer wann Sieger war und wer wessen Opfer.

Die toten Körper und verletzen Seelen, die Zeiten waren und sind voll davon, wer kann ihnen gerecht werden? Kann ich als Autor, wenn ich mir so eine Geschichte zum Thema mache, mehr tun, als den Blick auf den konkreten Menschen richten, als von ihm und von ihr zu erzählen?

Von Kryštof, einem offenen und warmherzigen Menschen, erfahre ich in einem unserer Gespräche auch etwas über die Geschichte seiner Familie, die eine von Flucht und Vertreibung ist. Und ich begreife einmal mehr, die Geschichte setzt sich fort in den Kindern und Enkeln derer, die sie erlebten. Immer wieder Geschichte. Man entkommt ihr nicht. Erinnern kann schmerzen, doch es ist das, was in jedem Leben bleibt.

In der Stadtbibliothek finde ich Bücher, die nicht nur pauschal die Geschichte des habsburgischen Böhmens oder des ehemaligen Sudetenlandes beschreiben. Es sind aus örtlichen Chroniken und Berichten von Zeitzeugen eingesammelte

Erinnerungen. Sie erzählen von Menschen, von denen, die in Weckelsdorf, in Rosental oder anderen Dörfern lebten. So viel Stoff, manchmal zu viel, zu viel Grauen, zu viel Verbrechen, zu viel zerstörtes Leben.

Unwillkürlich wende ich mich ab von den Büchern und den Online-Dokumenten. Das Fenster zur Linken meines Arbeitstisches zieht meinen Blick in die Ferne, dorthin, wo die Wolken über das Heidelgebirge ziehen. Zeit, wandern zu gehen, um meine Gedanken zu sammeln.

Mit dem Zug bin ich nach rund 40 Minuten in Adršpach und von dort geht’s in die gleichnamige Felsenstadt, um den riesigen Bürgermeister und seine Frau und andere von der Natur geschaffene Sandsteinplastiken zu bestaunen. Leider bin ich nicht der einzige, an diesem Ort wimmelt es von Touristen.

Und immer ist da einer oder eine oder sind es ganze Gruppen, die den Weg oder die Aussicht versperren, weil gerade fotografiert werden muss. So wie ich es auch tue, denn, das muss ich mir eingestehen, ich selbst bin einer von diesen Touris, die knipsend im Weg rumstehen.

Was wird eine Bilderflut, wie die heutige, später über unsere Zeit erzählen? Mehr als Menschen, Chronisten und Zeitzeugen es vermögen? Lassen sich Erinnerungen durch Bilder ersetzen?

Broumov wirkt gegen die Felsenstadt regelrecht menschenleer, vor allem am Vormittag. Auf dem Marktplatz leuchten die vergoldeten Kronen und Zepter der Heiligen. Daneben plätschert im Brunnen das Wasser. In der Tür der Pizzeria warten zwei junge Frauen mit Kinderwagen auf ihre Bestellung. Hin und wieder rollt ein Auto geräuschvoll übers Kopfsteinpflaster.

Am frühen Nachmittag belebt sich die Stadt, belebt sich vor allem durch zahlreiche Kinder, die in Grüppchen oder allein nach Hause streben. Im Alejka-Park in einer Allee unter jungen blühenden Kastanien sitzt am Wegrand eine Gruppe Gymnasiasten auf dem Boden. Offenbar bei einer Probe, denn plötzlich erklingt ein Sprechchor, manchmal von einem jugendlichen Lachen durchbrochen.

Auffällig in Broumov ist, viele Ladengeschäfte stehen leer. Auch das hiesige Antiquariat, erfahre ich, befindet sich im Ausverkauf. Der kleine Laden quillt über von Büchern. Als ich mich suchend umblicke, taucht hinter einem der Bücherberge ein älterer Mann auf. Ich frage nach deutschsprachigen Büchern, er hebt beinahe hilflos die Schultern, so als antworte er: Bitte, wenn Sie hier was finden…

Also auch hier, denke ich, wie bei uns in der Niederlausitz. Doch eins erscheint mir in Broumov anders, hier wird versucht Leere durch Lehre auszugleichen. Ein offensichtlich reger Kulturverein hat viele der frei gewordenen Schaufenster mit Schaubildern zur Geschichte Broumovs bestückt. So finde ich z.B. die alten Trachten der Region dargestellt und erklärt. Auch erfahre ich etwas über das Leben eines Emerich Rath (1883-1962). Rath war ein leidenschaftlicher Sportler und später Inhaber eines Sportartikelgeschäfts.  Während der deutschen Besatzung hatte er einen aus Prag geflohenen Juden versteckt. Und später nach der Machtübernahme durch die Kommunisten landete er im Gefängnis, weil er, um es satirisch zuzuspitzen, die Natur liebte. Als ein Tramp, als Wanderer, pflegte er ein freies naturverbundenes Leben und propagierte damit angeblich einen westlichen Lebensstil. Zum Glück hatte 1973 in Osteuropa eine gewisse Liberalisierung eingesetzt, sonst wäre ich auf meiner ersten Tramptour nach Prag möglicherweise im Gefängnis gelandet.

Auf dem Heimweg ins Kloster, z.B. vom Einkaufen kommend, gehe ich gern durch den Schroll-Park, benannt nach einer Dynastie hiesiger Textilfabrikanten. Prächtige alte Bäume beschatten die Wege. Eichen, Tannen, Kiefern, Linden alle leuchten in einem anderen Grünton, dazwischen hier und da das dunkle Rot einer Blutbuche. Ein kleiner Junge schickt aus seiner Hand mit Schwung ein Flugzeug in die Luft. Auf einer Bank daneben sitzt eine telefonierende Frau. Weiter oben unter den Mauern des Klostergeländes haben es sich junge Männer, Bierbüchsen in der Hand, gemütlich gemacht.

Wenn sich abends die Tore des Klosters schließen, dann habe ich den Klostergarten fast für mich allein. Mein WG- Genosse Pavel sitzt in unserem Domizil am Schreibtisch, die Stare spazieren pickend über die Rasenflächen und in den Bäumen über mir singen die Amseln.

Der Tag meiner Abreise ist gekommen. Ich öffne das Rollo vor meinem Arbeitstisch, das Licht fällt auf das Fensterbrett und mein Blick auf meine kleine Sammlung. Mitnehmen oder wegwerfen?

Ich betrachte die Keramikscherbe, die blau auf weiß eine Zwiebel zeigt, und ich erinnere mich an das zerfallende Gehöft in Rožmitál. Vieleicht stammt die Scherbe aus der Küche dieses Hauses?

Ich drehe die Vogelfeder zwischen den Fingern und sehe vor mir die eifrig pickenden Stare im Klostergarten. 

Ich berühre das Schneckenhaus und denke, das Kloster war auch ein Rückzugsort, an dem ich mich sammeln konnte.

Ich greife nach dem kleinen rotbraunen Stein. Sein Farbton hat mich hier an meine Herkunft erinnert. Und zu Hause wird er mich ab und zu an Broumov erinnern, so wie Feder, Schneckenhaus und Scherbe.

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