Seat #12 in der Bibliothek

Seat #12 von Jenny Brockmann in der Bibliothek des Goethe-Instituts London
Seat #12 von Jenny Brockmann in der Bibliothek des Goethe-Instituts London | © Goethe-Institut, Foto Ros Pau

Dieses Essay behandelt den Erwerb von Jenny Brockmanns Kunstwerk Seat #12 durch das Goethe-Institut London. Hierbei handelt es sich um mehr als nur ein skulpturales Objekt. Die Absicht besteht darin, einen Raum für den Austausch von Forschungen durch diskursive, multidisziplinäre Events zu schaffen. Seat #12 ist ein Vorschlag für partizipatives Lernen. Insofern stellt sich die Frage, was ein solcher Erwerb für die Bibliothek des Goethe-Instituts bedeuten könnte, wo das Objekt untergebracht wird. Welche Umstände machen einen solchen Erwerb möglich? Wie kann ein solches Kunstwerk Veränderungen repräsentieren sowie diese aus sich selbst heraus hervorbringen?

Von Rose Lejeune

Seat #12 besteht aus Aluminium, Holz, Stahl und Kunstleder. Einfach gesagt handelt es sich um ein Kunstwerk, das Sitzmöglichkeiten für zwölf Menschen in einer Runde bietet. Um diese Sitzgelegenheiten zu schaffen, erstrecken sich zwölf Arme von einer zentralen Nabe aus und jeweils mit einem Sitz am Ende. Damit suggeriert das Werk in gewisser Weise gleichzeitig die Science-Fiction-Sitze in einem Raumschiff, eine Kinderzeichnung einer Blume und die Struktur eines runden Konferenztisches.
 
Seat #12 lädt zwölf Mitwirkende dazu ein, sich einander gegenüberzusitzen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht einfach nur um ein Designstück. Vielmehr beginnen wir genau beim Sitzen auf dem Seat #12 unsere Reise in den konzeptuellen Raum der Künstlerin und in das Potenzial des Werkes beginnen. Die Struktur berührt den Boden nur an einer zentralen Stelle. Infolgedessen entsteht durch die Arme eine Art von Wippe. Jede Person, die sich setzt, benötigt ein Gegenüber, um ihr Gewicht auszugleichen. Für die Gruppe insgesamt bedeutet dies, dass, je mehr Personen sich zu setzen wünschen, umso klarer müssen die Absprachen sein, wann und wie jede Person sich setzt. Das Gewicht muss so gleichmäßig wie möglich verteilt werden. Eventuell müssen Personen einen neuen Sitz wählen, damit andere Personen Platz finden, oder es müssen Plätze leer bleiben, damit ein Gleichgewicht gewahrt wird. Sobald alle Personen Platz genommen haben, wirkt sich auch nur die geringste Bewegung einer der sitzenden Personen direkt auf die Sitzposition aller anderen Personen aus. Somit erfordert das Hinsetzen ebenso wie das Aufstehen eine Verhandlung und die Anerkennung dessen, wie die eigenen Bewegungen alle anwesenden Personen beeinflussen.

DISKURSIVE PERFORMANZEN, oder: Wie setzen wir uns anderen gegenüber?

Im Herzen von Seat #12 steht nicht nur, wie sich die Personen hinsetzen, sondern auch, was geschieht, wenn sie es tun. Wie andere von Brockmann geschaffene Projekte ist Seat #12 eine physische Struktur, welche die Künstlerin als eine Möglichkeit für Begegnungen zwischen Expert*innen verschiedener Disziplinen konzipiert – ihre sogenannten diskursiven Performanzen. Der Fokus dieser diskursiven Performanzen ist der Dialog zwischen Wissenschaftlern, Künstlern und Aktivisten sowie die Schnittstelle dieser Gespräche mit einem breiteren Publikum. Auf diese Weise sollen Bewusstsein geschaffen und neue Arten des Denkens erschlossen werden. Die eigentliche Idee des Experiments selbst soll Teil des Kunstwerks werden. Es gibt keine Formel für die Teilnehmer*innen an einer diskursiven Performanz. Die Redner*innen sollten jedoch Hintergründe verschiedener Disziplinen besitzen und, idealerweise, transkulturell sein. Dies bedeutet, dass die Künstlerin durch inszenierte Events den Rahmen bietet, innerhalb dessen eingeladene Gäste aus verschiedenen Berufsfeldern und mit unterschiedlichen persönlichen Hintergründen das Fachwissen anderer Personen erwägen und ihr eigenes anbieten können – alles im Rahmen der buchstäblich destabilisierten Struktur. Per Definition handelt es sich hier also um ein Experiment – einen Produktionsprozess mit ungewissem oder offenem Resultat. Die runde Sitzstruktur spielt offensichtlich auf die Desintegration der Hierarchie zwischen den Teilnehmer*innen an; und sie schafft den Rahmen für diese Störungen durch den Balanceakt, den die Sitzenden buchstäblich zwischen sich entwickeln müssen. Den Verlauf des Ereignisses lässt sie jedoch absolut offen.
 
Der Wunsch nach Gleichgewicht ist somit nicht rein physisch, sondern soll vielmehr eine emotionale, intellektuelle und kommunale Verbindung schaffen, solange die Gruppe sitzt. Für Brockmann ist es durch die Verlagerung von physischem Raum, durch die Instabilität, dass eine bestimmte Art von Gespräch initiiert werden kann.
 
Forschung gilt in der Welt der Kunst als ein gefährlich komplexer Begriff, der häufig missachtet oder missverstanden wird. Er kann als Kontrast zu den rationellen und methodisch strukturierten Prozessen der Wissenschaften gesehen werden. Während wissenschaftliche Forschungen unter vorab definierten, streng kontrollierten Umständen stattfinden, können Forschungen in der Kunst sich aus den formlosen erzählerischen Befähigungen des Künstlers entwickeln. Für die Komposition ihrer Forschungen platziert Brockmann Einfühlsamkeit und menschliche Verbundenheit in den Raum des Zusammentreffens als eine Methode zum Testen der bestehenden Annahmen und Vorurteile in ihren eigenen Werken ebenso wie in den Disziplinen anderer.
 
Im Rahmen diskursiver Performanzen erlebt das Publikum die Forschungen in Echtzeit mit und interagiert mit diesen. Damit nimmt es ebenso an deren Entwicklung und Resultaten teil, wie die Fachleute. Brockmann drängt den Forschungsbegriff aus den antiseptischen Grenzen des Labors hinaus in den Tumult des täglichen Lebens. Ihr Werk fordert uns auf, Lernen als einen sozialpolitischen Prozess zu verstehen. Man kann das Konzept von Wissenschaft oder den Künsten nicht vollständig begreifen, ohne diese Dinge im Fluss zu erleben.

Ein Platz in der Bibliothek

Vielmehr wurde das Werk vom Goethe-Institut London erworben, um in dessen Bibliothek zu stehen. Die Bibliothek wurde Ende der 1950er als ein Leseraum gegründet und beherbergte zu ihren besten Zeiten etwa 25.000 Bücher, 5.000 Nachschlagewerke und über 100 Zeitschriftenabonnements. Diese bildeten die Grundlage für die Nutzung des Raums durch deutschsprachige Leser*innen und Forscher*innen jeder Art. Ebenso wie fast alle Bibliotheken hat jedoch auch diese in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen, Kürzungen und Zweckänderungen durchmachen müssen.
 
Bibliotheken waren früher stille Orte des individuellen Lernens. Sie waren der Ursprungsort von Informationen, jener Ort, an dem Bücher mit dem darin enthaltenen Wissen verwahrt wurden; jener Ort, an dem Aufsätze verfasst und Bücher und Zeitschriften gelesen wurden, wo man hinging, um zu lesen und zu schreiben, zu studieren, Dinge nachzuschlagen – um sich der Freude der Entdeckung, der Geschichte des Wissens und der beneidenswerten Frustration des Dewey-Dezimalsystems hinzugeben. Heute sind Bibliotheken zu mehr sozialen und eventuell auch unklaren Räumen geworden. Sie beherbergen noch immer Bücher, neben neuen Multi-Media-Ressourcen und Computerterminals. Sie sind jedoch nicht mehr die Hauptquelle für viele Menschen, die nach Informationen suchen. Am offensichtlichsten ist dies natürlich auf das Internet zurückzuführen, welches die Art und Weise, wie Wissen verbreitet und aufgerufen wird, vollständig verändert hat. Zwar treten die Beschränkungen dieses riesigen neuen Netzwerks – Informationsüberflutung sowie Polarisierung und Verflachung von Informationen – zunehmend klarer hervor, es wird jedoch dennoch begriffen, dass das physische Repositorium einer Bibliothek nicht mehr aus denselben Gründen erforderlich ist, wie es selbst vor zwanzig Jahren noch der Fall war. Stattdessen haben diese Räume zunehmend soziale Nutzungszwecke – Treffen, Gespräche und Veranstaltungen. Die Stille des individuellen Lernens wird durch neue Modi des Austausches und der Umsetzung ersetzt, die subtilere Verschiebungen dessen erfordern, wie Wissen und Körper betreut und gepflegt werden, und wie wir den Raum umgestalten und ausfüllen, um sichere Umgebungen zu schaffen, in denen alle Menschen forschen und lernen können.
 
Um zu verstehen, worum es sich beim „Werk“ von Seat #12 handelt, müssen wir somit diese neuen Schnittstellen berücksichtigen. Das Kunstobjekt kündigt sich nicht als ein Körper aus definiertem Wissen an, sondern fragt vielmehr, wie es Teil des offenen Diskurses werden kann, der Forschungen als ein offenes Experiment ermöglicht. Wie es, als eine Erwerbung, nicht nur diese neuen, experimentellen Arten des Lernens ermöglichen kann, sondern selbst wesentlicher Bestandteil ihrer Entwicklung wird. Auf diese Weise können wir verstehen, dass der Erwerb dieses Kunstwerks nicht nur einfach der Erwerb seiner materiellen Bestandteile ist, die erhalten werden sollen. Tatsächlich ist das erworbene Werk Seat #12 sowohl ein physisches Objekt als auch eine Konzession für die Kuratoren des Goethe-Instituts, diskursive Performanzen live in Szene zu setzen und ein wachsendes Archiv dieser Performanzen zu schaffen. Dies bedeutet, dass jegliches Verständnis von Seat #12 die Aktivierung des Werks sowohl durch die diskursiven Performanzen als auch durch die mit der Zeit hervorkommenden Folgerungen solcher Events beinhalten muss. Das Werk ist ein Kunstobjekt als Skulptur, ebenso wie – und dies ist noch wichtiger – die Architektur, die die Begegnung erschafft und in Erinnerung behält.
 
Die Konfiguration eines solchen Kunstwerks als eine Erwerbung für das Goethe-Institut verlangt von uns, die Idee der Sammlung eines Kunstwerks neu zu formulieren, von der Unterbringung eines statischen Objekts zu einer dynamischen Beziehung zwischen der Absicht des Werks und dessen Kontext. Es arbeitet Begriffsfacetten von Fürsorge in neuen Weisen ein, und zwar Fürsorge für Menschen, Begegnungen, Dynamiken und Ideen.

Ein mobiles Objekt, ein kollektives Erlebnis

Dies ist weit entfernt von einem statischen Objekt – einem Gemälde oder einer Skulptur, welche aufbewahrt und als unantastbare oder geheiligte Objekte erlebt werden müssen. Es ist weit entfernt vom Besuch eines schon lange beliebten Gemäldes in einer Museumssammlung, sowohl weil das Erlebnis der Begegnung mit dem Kunstobjekt für den Zuschauer ein einsames Erlebnis ist, als auch aufgrund dessen, dass sein Wert in seiner inhärenten Bedeutung und dem fehlenden Willen liegt, sich mit der Zeit zu verändern; seinem Beharren darauf, ein dauerhaftes Objekt zu sein, das einer Einzelperson ermöglicht, immer wieder zum selben Erlebnis zurückzukehren. Seat #12 weist möglicherweise genau auf diesen Irrtum hin, ein Kunstobjekt auf diese Art wahrzunehmen, und erkennt, dass alle Werke sich mit der Zeit ändern, weil sich Materialien zersetzen, Technologien veralten und verändernde Kontexte auch ihre Bedeutungen verschieben.
 
Diskursive Performanz erfordert noch eine weitere Beziehung – eine von anhaltender Erwägung und Aktualisierung. Dies beinhaltet die kuratorische Untersuchung der Möglichkeit weitreichender, multidisziplinärer Veranstaltungen. Und die Einladungen an neue Fachleute erfordern Aufmerksamkeit. Experimente sollten Risiken gegenüber offen sein. Nichtsdestoweniger erfordert der Aufbau jedes individuellen Events einen langfristigen Denkprozess, um einen ergiebigen Dialog zu schaffen. Durch die Bildung einer Gemeinschaft und das Ermutigen von Kommunikation thematisiert das Werk spezifisch jene Tatsache, dass es nicht nur eine einzige, wirkliche Wahrheit gibt. Deshalb ist Sorgfalt geboten, um eine sichere Umgebung für Konfrontationen und Enthüllungen zu gestalten.
 
Dies ist keine geringfügige Verschiebung der Artikulierung dessen, was eine Erwerbung sein kann – was behütet werden muss und wie dessen Erwerb den Raum formen könnte, in dem es existiert, und wie das Kunstobjekt chaotisch sein könnte. Bei diesem Werk handelt es sich nicht nur einfach um ein materielles Objekt, das angemessen gepflegt, gelagert und erhalten werden muss. Stattdessen erfordert es eine laufende Aushandlung von Objekten, Ideen, Raum und Publikum, die unbeabsichtigte Folgen haben könnte.
 
Hier liegt der Wert der Anschaffung von Seat #12 nicht darin, es als ein Einzelobjekt aufzubewahren, sondern in seiner anhaltenden Beziehung zum Publikum, und darin, was es aktivieren kann – seine Erhaltung schafft Formen des kommunalen Wissens, gemeinsame Erlebnisse und Verbindungen sowie neue Wissenskonstellationen im Laufe der Zeit.
 
Anstatt einfach nur in einer physischen Architektur besteht der Kontext der Bibliothek vielmehr im „warum“ und „für wen“, im „Unbegreiflichen“, in der Tat in dem Wunsch, innerhalb des physischen Kontextes Unberechenbarkeit zu schaffen. Daraus erwächst eine neue Idee der Sammlung als jenem Ort und Ursprung von Verwicklungen, der iterativ ist; er wächst und erschafft.
 
Eine solche Komplikation des gesammelten Objekts reagiert sowohl auf die Krise der Sammlung als auch auf den Bibliotheksraum durch die Erweiterung ihres Potenzials – es entsteht ein Bruch mit der Singularität der Stimme des Akademikers, des Wissenschaftlers oder des Künstlers, und eine Bewegung hin zu Multiplizitäten und der Erfassung von Wissen und Wahrheit im Rahmen neuer Paradigmen. Ähnlich wie ein Nachschlagewerk beinhaltet das Kunstobjekt in seinen Symbolen Wissen, das vermittelt werden kann, eine Weisheit, die empfangen werden kann und im Laufe der Zeit sicherlich mit neuer Bedeutung erfüllt, aber dennoch als Kunst fixiert.
 
Hier ist es verlockend, mit einer Vorschau darauf zu schließen, wie Seat #12 die Bibliothek des Goethe-Instituts transformieren wird. Änderungen können jedoch langsam und Fortschritte ungleichmäßig und unberechenbar erscheinen. Und genau so müssen wir auch die potenziellen Auswirkungen eines chaotischen Objekts wie Seat #12 wahrnehmen. Angesichts dieser ineinander verschlungenen Stränge ist es gewiss nicht möglich oder auch nur wünschenswert, jene Arten, auf die Skulptur, Event, Forschung und Gemeinschaft aufeinanderstoßen und einander beeinflussen, miteinander zu entflechten. Vielmehr entsteht durch jedes Event, jedes Treffen und die tägliche Nutzung der Skulptur ein transformatives Potenzial, das in unserem schrittweisen Neulernen dessen liegt, wie wir Informationen empfangen, lernen und verarbeiten, wofür öffentliche Räume bestimmt sind und was ein Kunstwerk „erschafft“. Das Modell von Seat #12 liegt deshalb in diesem Potenzial, in der Freude des Nicht-Wissens. Es besteht in der Vorstellung, die Fürsorge für Menschen als Kommunikator*innen, als Schöpfer*innen, als Gestalter*innen von Wissen und als Wahrheitssuchende im Raum zu verankern.
 

Top