Zum zehnten Todestag
Christa Wolf und ihr hochaktuelles Werk

Anita Raja, Übersetzerin von Christa Wolf, beim Treffen über die Schriftstellerin.
Anita Raja, Übersetzerin von Christa Wolf, beim Treffen über die Schriftstellerin. | © E/O

Anlässlich des zehnten Todestags der Schriftstellerin Christa Wolf blickt deren italienische Übersetzerin Anita Raja im Publikumsgespräch zurück auf das Werk der Autorin. Organisator der Veranstaltung war der Verlag E/O, der Wolfs Bücher in Italien publiziert.

Von Giovanni Giusti

Die 1929 auf dem Gebiet des späteren Ostdeutschlands geborene und später in der DDR lebende Christa Wolf feierte in Italien ab 1984 große Erfolge als Autorin. Zu verdanken ist dies ihrem Roman Kassandra, in dem Wolf die homerische Überlieferung im Geiste der Befreiung der Frau neu interpretiert. Und genau an diesem Punkt, mit der Geschichte der Rezeption dieses und anderer Bücher von Christa Wolf in Italien, beginnt auch Anita Raja ihren Rückblick.

„Dieser Publikumserfolg lässt sich nicht allein mit dem hohen literarischen Niveau der Werke erklären“, so Raja. „Sicherlich hat er auch mit der weiblichen Nachfrage zu tun, die sich in Italien ab Ende der 70er Jahre zu entwickeln begann. Zu Beginn der 80er Jahre hatte das weibliche Publikum bereits hohe Ansprüche und klare Vorstellungen. In immer mehr italienischen Städten gab es entsprechende Buchhandlungen und die ersten Lesezirkel wurden gegründet.“

EIN NEUES, ÜBERWIEGEND WEIBLICHES PUBLIKUM

Trotz so manchem „renommierten Verriss“, wie Anita Raja es nennt, vor allem jenem des Schriftstellers und Kritikers Oreste Del Buono, findet Kassandra in Italien dank eines überwiegend weiblichen Lesepublikums überraschend schnell Verbreitung. „Es handelt sich um ein neues Publikum“, betont Raja, „mit spezifischen Merkmalen, die bisher kaum untersucht wurden. Das ist kein Publikum, das von Frauenzeitschriften beeinflusst wird, sondern eines von relativ gebildeten Frauen auf der Suche nach Büchern, die ihnen helfen, ihre Identität neu zu definieren. Für dieses Publikum sind die kanonischen Rezensionen und die klassischen Werbemechanismen der Buchbranche kaum von Bedeutung. Was zählt, sind stattdessen die Kanäle, Frauenbuchhandlungen und kleine Fachläden, Kollektive, Zeitschriften sowie Dokumentations- und Diskussionszentren, die zu Beginn der 80er Jahre zahlreich aus dem Boden schießen.“

LERNEN, NEIN ZU SAGEN

Vor diesem Hintergrund ändert sich auch der Zugang zu dieser Art von Texten. Das Buch ist nun nicht mehr ein Objekt des individuellen Konsums, das gelesen und beiseitegelegt wird. Stattdessen wird es zum zentralen Gegenstand von Überlegungen und Diskussionen – auch in der Öffentlichkeit und in mehr oder minder großen Gruppen, die dessen Verbreitung zusätzlich fördern. „Dabei handelte es sich nicht um ‚akademische‘ Zusammenschlüsse, sondern um durchaus unterschiedliche Formen kultureller Bildung“, betont Raja. „Ziel war die Neuentdeckung des Texts als Konzentrat von Lebenserfahrung und intellektueller Erfahrung, die helfen können, sich zu erklären, sich selbst zu hinterfragen, sich und die Welt zu verstehen. In den Büchern von Christa Wolf fand das Publikum einen neuen Weg, von weiblicher Erfahrung zu erzählen, fand Wörter, Modelle, Beispiele, eine ‚Symbolik‘, auf die es sich stützen konnte, starke Bilder von weiblicher Freiheit sowie eine Reihe an Figuren und Protagonistinnen, die ein Erkenntnisprozess eint, den ich als ‚Schule des Nein-Sagens‘ bezeichne. Das Neue an Kassandra, die Sprengkraft und Wirkung des Werks auf das weibliche Publikum beruhen auch auf dem Wunsch, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, und der darauffolgenden Entdeckung, dass ein anderes ‚Wir‘ möglich ist, eine andere Art zu leben, die in Kassandra von der Gemeinschaft am Skamander und damit einer radikal anderen Sicht auf die Welt repräsentiert wird.

DER „DRITTE WEG“ VON CHRISTA WOLF

Obwohl sich der historische und soziale Kontext in Deutschland und Italien in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat, bleibt das Werk von Christa Wolf höchst aktuell. „Das Ergebnis ist ein überaus modernes Werk, das vor allem hinsichtlich des Stils einem kulturellen Modell Gestalt verleiht, das im Individuum ebenso wie in einer möglichen Gemeinschaft das Unterschiedliche, das Andere, berücksichtigt“, schließt Raja. „Es ist ein Modell, das nicht ausgrenzt, das nicht auf einem Entweder-oder basiert und angesichts der Wahl zwischen Töten oder Sterben stets einen dritten Weg vorzieht.“

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